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Magazin Mitbestimmung

: Konflikte stärken die Partnerschaft

Ausgabe 10/2008

TARIFPOLITIK Mit dem Pforzheimer Tarifvertrag von 2004 ist die IG Metall in die Offensive gegangen, um Kontrolle über Tarifabweichungen zu bekommen und den Flächentarif zu festigen.

Von THOMAS HAIPETER, Sozialwissenschaftler am Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Uni Duisburg-Essen/Foto: picture alliance

Eine Kernbranche des "deutschen Modells" von Sozialpartnerschaft und Korporatismus war die Metallindustrie bis in die 1990er Jahre hinein. Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall und die IG Metall glichen dem Idealtypus korporatistischer Verbände: Sie mussten sich kaum um Mitgliedergewinnung sorgen und konnten kollektive Interessen relativ unabhängig formulieren und nach außen vertreten. Die Stärke des einen beruhte auf der Stärke des anderen. Deshalb strebten die Tarifparteien einen - wenn auch nicht immer konfliktfreien - Ausgleich ihrer Interessen an. Grundlage dafür war eine relativ ausgeglichene Verhandlungsmacht der Verbände. Sozialpartnerschaft und Korporatismus in der Metallindustrie funktionierten, weil die Tarifparteien wechselseitig ihre Verbandsinteressen anerkannten und diese in Verhandlungen auch respektierten.

Daraus erwuchs die besondere Leistung der Verbände, kollektive Interessen der Mitgliedsunternehmen und der Gewerkschaftsmitglieder zu einem Ausgleich zu bringen - und dabei auch gesamtgesellschaftliche Interessen mit einfließen zu lassen.Um diese Ordnungsleistung der Verbände ist es inzwischen nicht mehr gut bestellt. In den dynamisch wachsenden Dienstleistungsbranchen ist es nicht gelungen, korporatistische Verbandsstrukturen zu etablieren. Deshalb rufen die Gewerkschaften dort nach Mindestlöhnen. Aber auch in den industriellen Kernbranchen wie der Metallindustrie findet eine Auszehrung von Korporatismus und Sozialpartnerschaft statt.

Der Geltungsbereich der Flächentarifverträge und damit die Tarifbindung nehmen ab, nur noch etwas mehr als die Hälfte der Unternehmen sind in Arbeitgeberverbänden organisiert (56 Prozent im Jahr 2006). In Ostdeutschland arbeitet nicht einmal mehr jeder fünfte Beschäftigte (gut 17 Prozent) in einem dort organisierten Betrieb. Entsprechend ist in der westdeutschen Metall- und Elektroindustrie der Organisationsgrad der Arbeitgeberverbände (nach Beschäftigtenzahl) seit 1988 um mehr als ein Fünftel zurückgegangen. Der Rückgang der Tarifbindung ist die Kehrseite eines Verfalls des gewerkschaftlichen Organisationsgrades in den Betrieben. Allein in den letzten sechs Jahren nahm der Brutto-Organisationsgrad der IG Metall um mehr als zehn Prozent ab.

WACHSENDE MACHT DER UNTERNEHMEN_ Dem Korporatismus drohen die Akteure abhanden zu kommen. So könnten die Verbände bald nicht mehr stark genug sein, um ihre interessenvermittelnde Funktion aufrechtzuerhalten. Folglich richten die Arbeitgeberverbände der Metallindustrie ihr Augenmerk zunehmend auf die Mitgliedergewinnung und gründen Verbände ohne Tarifbindung (OT-Verbände). Je mehr aber eine Verbandsorganisation auf die individuellen Interessen ihrer Mitglieder eingeht, umso weniger ist sie in der Lage, unabhängige und vermittlungsfähige Interessen selber zu formulieren.

Das entscheidende Problem ist die - durch Globalisierung und Finanzmarktorientierung - wachsende Verhandlungsmacht der Unternehmen gegenüber der schwächer werdenden Gewerkschaft. Mit Verweis auf steigende Renditeerwartungen und unter Androhung von Standortverlagerungen können die Unternehmen den Arbeitnehmervertretungen immer häufiger Zugeständnisse abringen, ohne dass dabei der Arbeitgeberverband eingeschaltet werden müsste. So fällt es den Unternehmen leicht, aus dem Verband auszusteigen oder innerhalb des Verbandes eine Senkung der Arbeitsstandards gegenüber den Arbeitnehmern durchzusetzen.

Aushandlungen werden zunehmend in die Unternehmen verlagert - eine neue Tendenz, die als Wettbewerbskorporatismus oder auch Mikrokorporatismus bezeichnet wird. Dieser ist jedoch in weit geringerem Maße sozialpartnerschaftlich ausgeprägt als der alte Makrokorporatismus. Verhandlungen wahren zwar noch die sozialpartnerschaftliche Etikette, aber ihre Ergebnisse spiegeln den Verlust des Machtgleichgewichts, welches für sozialpartnerschaftliche Beziehungen grundlegend ist.

Was passiert in diesem neuen Mikrokosmos - nun dezentral in den Betrieben? Zum einen machen die Betriebsparteien im Rahmen von betrieblichen Bündnissen gegenseitige Zugeständnisse, etwa befristete Beschäftigungssicherung gegen Arbeitszeit- oder Gehaltsverzicht bzw. -flexibilisierung. Die Normen des Flächentarifvertrages bilden dabei die Untergrenze für Zugeständnisse der Arbeitnehmervertreter. Daneben gibt es aber auch Formen der wilden Dezentralisierung: Hier treffen die Betriebsparteien Vereinbarungen, welche die Tarifnormen unterlaufen. Insbesondere in Ostdeutschland ist der Tarifbruch weit verbreitet. Dritte Variante ist die Tarifabweichung: Auch hier werden die tariflichen Mindestnormen unterschritten, allerdings legitimiert durch die Tarifvertragsparteien. In diesen Fällen handeln die Tarifparteien Abweichungen selber aus oder vereinbaren flächentarifliche Normen, welche betriebliche Abweichungen erlauben.

KONTROLLE ZURÜCKGEWINNEN_ Die Auswirkungen dieser betrieblichen Verabredungen auf das Tarifsystem sind sehr unterschiedlich. Während die betrieblichen Bündnisse sich noch in den Rahmen einer betrieblichen Sozialpartnerschaft einfügen, unterhöhlt die wilde Dezentralisierung eindeutig die korporative Ordnung. Wie aber steht es mit der Tarifabweichung, der die Tarifparteien ja selber zustimmen? Ist damit eine "Büchse der Pandora" geöffnet worden, in deren Folge die Übel in die Welt entweichen wie in der antiken Sage bzw. die Tarifstandards weiter aufweichen und damit der sozialpartnerschaftliche Korporatismus weiter geschwächt wird?

Hier kommt es auf die Ausgangslage an: Die Tarifabweichung wäre eine Büchse der Pandora, wenn dadurch ein vormals stabiles korporatives System entscheidend geschwächt worden wäre. Doch in der Metallindustrie zerbröckelte das Tarifsystem schon lange vor dem 2004 vereinbarten Pforzheimer Tarifvertrag, der betriebsbezogene Unterschreitungen vom Flächentarifvertrag in Form von Ergänzungstarifverträgen erlaubt, wenn damit Beschäftigung gesichert und die Wettbewerbsfähigkeit verbessert werden. Nicht nur ging die Tarifbindung rasant zurück, auch die wilde Dezentralisierung breitete sich aus. Zudem wurden mehr und mehr Sanierungsvereinbarungen abgeschlossen - Tarifabweichungen, die zwar von der IG Metall verhandelt wurden, über die es aber in der Organisation keine offene Kommunikation gab.

Der Pforzheimer Vertrag ist deshalb nicht nur dem Druck der damaligen Bundesregierung auf "betriebliche Bündnisse" geschuldet, sondern diente aus Sicht der Gewerkschaftsspitze immer auch dem Ziel, wieder Kontrolle über Tarifunterschreitungen zu gewinnen. Standortkonflikte wie jene um die Handysparte von Siemens im Jahr 2004 zeigten zunächst, dass die Tarifregelung von Pforzheim allein noch nicht ausreichte, um Tarifabweichungen besser kontrollieren zu können. Häufig wurde die Gewerkschaft zu spät von den Betriebsparteien in betriebliche Verhandlungen eingeschaltet. Damit hatte die IG Metall weder die Kontrolle über den Ablauf noch über das Ergebnis der Tarifabweichung.

Diesem Problem versuchte die Gewerkschaft durch die Verabschiedung von Koordinationsregeln zu begegnen. Dabei hat die IG Metall eine bestimmte Verfahrensweise für Tarifabweichungen vorgegeben. So wurde festgelegt, dass Anträge auf Tarifabweichungen an die Bezirksleitungen und von diesen an den Vorstand weiterzuleiten sind. Auch dürfen die Verwaltungsstellen nur mit Einverständnis der Bezirksleitung selbstständig verhandeln. Betriebliche Tarifkommissionen, die von den Gewerkschaftsmitgliedern gebildet werden und die über die Aufnahme von Verhandlungen und das Ergebnis zu entscheiden haben, begleiten die Verhandlungen. Und schließlich müssen die Verhandlungsergebnisse vom IG Metall-Vorstand genehmigt werden.

Weitere Vorgaben betreffen die genaue wirtschaftliche Überprüfung des Einzelfalls, der damit verbundenen Auswirkungen auf die Konkurrenzsituation sowie das Verhältnis von Abweichungen und Gegenleistungen der Unternehmen.
Anders als etwa in der Chemiebranche ist die IG Metall bestrebt, dass die Vereinbarungen über befristeten Lohnverzicht von ihren Gewerkschaftsmitgliedern diskutiert und legitimiert werden müssen - in betrieblichen Tarifkommissionen. Dies soll eine aktive Beteiligung der Mitglieder an lokalen Tarifkonflikten sicherstellen und zugleich die Attraktivität und Organisationsmacht der Gewerkschaft im Betrieb steigern.

IG METALL VERTEIDIGT KORPORATISMUS_ Die Arbeitgeberverbände nehmen zwar häufig an den Verhandlungen zu Tarifabweichungen teil, doch unternehmen sie kaum Anstrengungen, die Verfahren oder sogar die Verhandlungsergebnisse zu kontrollieren. Diese Aufgabe obliegt der Gewerkschaft. Sie muss die Prozesse und Ergebnisse abweichender Vereinbarungen möglichst so steuern, dass dadurch die Bindekraft der Flächentarifvertragsnormen nicht gefährdet wird. Die IG Metall wird damit zur Verteidigerin der korporatistischen Ordnung, und sie konnte dabei deutliche Erfolge erzielen - sowohl was die Kontrolle der Verfahren als auch die materiellen Ergebnisse der Tarifabweichungen angeht: Die Koordinierungsverfahren und -regeln sind mittlerweile weit verbreitet und standardisiert, wodurch in der Gewerkschaft nun Transparenz besteht über Umfang und Verbreitung von Abweichungen.

Die wilde Dezentralisierung hat an Bedeutung verloren, weil viele Tarifunterschreitungen in "Pforzheimer" Bahnen gelenkt werden konnten. Die Zahl der Vereinbarungen ist nach einem starken Anstieg in 2005 deutlich rückläufig und sank von über 400 auf gut 270, das Niveau materieller Zugeständnisse konnte in wichtigen Fragen wie Arbeitszeit und Entgelt verringert werden, und Umfang und Qualität der Gegenleistungen wie Beschäftigungssicherung und Investitionszusagen nehmen zu (siehe Grafik).

Zwar gibt es nach wie vor auch Kontrollprobleme: etwa wenn die Arbeitgeber auf Arbeitszeitverlängerungen drängen oder wenn hier oder dort die Mitgliederbeteiligung nicht ausreichend funktioniert. Doch eine zentrale Erkenntnis aus den bisherigen Tarifabweichungen ist: Wo die Gewerkschaftsmitglieder bei den Tarifauseinandersetzungen über Abweichungen tatsächlich beteiligt wurden im Sinne einer betriebsnahen Tarifpolitik, da verzeichnet die Gewerkschaft auch eine Verbesserung ihrer betrieblichen Organisationsmacht und kann auf diese Weise die aufgebrochenen Machtungleichgewichte im Betrieb reduzieren.

Für die Sozialpartnerschaft ist dies eine wichtige Botschaft, denn ihr Erhalt hängt entscheidend ab von der Verringerung des Machtungleichgewichts zwischen den Beteiligten. Damit verbunden ist ein Formenwandel der Sozialpartnerschaft. Denn nun verändert auch die Gewerkschaft ihre Handlungslogik: Mitgliederinteressen können nicht länger nur repräsentativ festgelegt und artikuliert werden. Wie bei den Arbeitgeberverbänden so wird auch bei der Gewerkschaft die Mitgliedergewinnung zum strategischen Ziel, um die Organisationsmacht zu stärken. Die Einbindung der Mitglieder in betriebliche Tarifkonflikte - etwa um vom Arbeitgeber geforderte Arbeitszeitverlängerung - kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten.

Zur tragenden Kraft wird eine stärkere Konfliktorientierung. Wenn Unternehmen die Tarifvertragsnormen in Frage stellen und materielle Zugeständnisse von den Beschäftigten fordern, steht und fällt der Erhalt der Sozialpartnerschaft mit der betrieblichen Konfliktfähigkeit der Gewerkschaft. Denn nur auf dieser Grundlage können die Unternehmen ihre Kompromissbereitschaft wieder entdecken und dazu animiert werden, die Interessen der Arbeitnehmerseite zu berücksichtigen.


Mehr Informationen

Thomas Haipeter hat in seiner aktuellen Studie Abweichende Tarifvereinbarungen und das System der Flächentarifverträge die rund 850 abweichenden Tarifvereinbarungen untersucht, die zwischen 2004 und 2006 in der Metall- und Elektroindustrie abgeschlossen wurden, außerdem hat er Vertreter der Tarifparteien befragt. Mehr Infos beim Autor. E-Mail: thomas.haipeter@uni-due.de

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