: Harter Schlag für die Tariftreue
Von ANNETTE JENSEN, Journalistin in Berlin/Fotos: Christine HinzmannEU-RECHTSPRECHUNG Nach dem Rüffert-Urteil des EuGH wollen die Bundesländer ihre Vergaberichtlinien ändern. Damit droht ein Dumpingwettlauf bei öffentlichen Aufträgen, auch in den Nachbarstaaten der EU.
Bis zum Frühjahr waren viele arbeitnehmerorientierte Juristen noch optimistisch: Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge forderten immer mehr Bundesländer die Einhaltung von Tarifverträgen. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Sommer 2006 ausdrücklich die Zulässigkeit solcher Regeln bestätigt, und beim Prozess gegen das Land Niedersachsen vorm Europäischen Gerichtshof (EuGH) hatte der Generalanwalt Yves Bot ebenfalls in diese Richtung plädiert.
Doch dann entschied der EuGH im so genannten Rüffert-Fall, dass das Land Niedersachsen zu Unrecht seinen Bauauftrag für die JVA Rosdorf bei Göttingen entzogen habe. Das Land hatte den Vertrag gekündigt, nachdem es mitbekommen hatte, dass ein polnischer Subunternehmer seine Arbeiter untertariflich bezahlte. Dies sei ein Verstoß gegen die Entsenderichtlinie, urteilten dagegen die fünf Richter in Luxemburg, von denen drei aus Osteuropa stammen.
Die EU-Richtlinie schreibt vor, dass ausländische Firmen sich bei der Ausführung von Einzelprojekten nur an jene Vorschriften halten müssen, die für alle Bürger in dem Land gelten, wo die Arbeit stattfindet. Da aber in Niedersachsen Privatkunden auch untertariflich zahlende Betriebe beauftragen dürften, sei die Forderung der öffentlichen Hand nach einer Tarifbindung nicht akzeptabel gewesen, so die EuGH-Richter.
Auf einer von der Hans-Böckler-Stiftung und ver.di organisierten Tagung diskutierten jetzt Fachjuristen, Gewerkschafter und Wissenschaftler, ob die Tariftreue noch zu retten ist. "Die Richter haben ein zentrales Ziel der Tariftreueregelung nicht berücksichtigt", kritisierte Eva Kocher von der Akademie der Arbeit: den Schutz der Sozialsysteme und damit ein zwingendes Allgemeininteresse - was auch die Entsenderichtlinie für legitim erklärt.
Schließlich führten niedrige Löhne dazu, dass der Staat zwar beim Auftrag spart, dafür aber höhere staatliche Zuschüsse an die Sozialversicherungen fällig würden. Um grundsätzliche Abhilfe zu schaffen, fordert Kocher eine Änderung der EU-Grundverträge: Soziale und wirtschaftliche Ziele müssten endlich gleichberechtigt nebeneinander gestellt werden. Florian Rödl von der Uni Bremen hält das EuGH-Urteil sogar für "juristisch nicht vertretbar".
Ähnlich wie bei den EuGH-Entscheidungen zu Viking und Laval Ende 2007, bei denen die Richter ebenfalls die wirtschaftlichen Grundfreiheiten höher bewertet hatten als den Schutz von Arbeitnehmerrechten, sei das Rüffert-Urteil weder juristisch sauber noch in sich widerspruchsfrei begründet. Rödl rät zu einem "prinzipiengeleiteten Rechtsungehorsam". Da EuGH-Urteile nur für den Einzelfall gelten, könnten Vergabestellen mit ihrer alten Praxis fortfahren und bei Klagen darauf hoffen, dass die EuGH-Richter ihre falsche Entscheidung korrigierten.
Otto Ernst Kempen von der Akademie der Arbeit ist zwar skeptisch, was eine Selbstkorrektur des EuGH angeht. Doch die Bundesregierung unter Druck zu setzen, damit sie auf eine Änderung der EU-Richtlinien drängt, erscheint ihm keineswegs aussichtslos. Schließlich stehen die Gewerkschaften mit ihrer Forderung nach Tariftreue bei öffentlichen Aufträgen keineswegs alleine da: Bei Evaluationen der Vergaberichtlinien von NRW und Hamburg ernteten die entsprechenden Vorschriften eine über 80-prozentige Zustimmung der Arbeitgeber.
Zunächst aber werden wohl alle acht betroffenen Bundesländer ihre Vergabegesetze ändern. Die Folgen des EuGH-Urteils sind auch über die EU hinaus zu spüren: So will die Schweiz ihre Vergabepraxis bei öffentlichen Aufträgen ändern. Nachdem diese bislang an die Einhaltung von Tarifverträgen oder ortsübliche Löhne gekoppelt waren, gilt seit dem Rüffert-Urteil auch hier das Herkunftsprinzip, berichtet Doris Bianchi vom Schweizer Gewerkschaftsbund.
Weil die Lohnhöhe in den verschiedenen Regionen differiert, werde das tendenziell zu einer Entgeltabsenkung führen, prognostiziert die Gewerkschafterin. Darüber hinaus fürchtet sie, dass aufgrund des Abkommens mit der EU zur Diskriminierungsfreiheit bald auch Rumänen, Polen oder Tschechen zu den Bedingungen ihrer Heimatländer in der Schweiz arbeiten werden. Die Schweizer Gewerkschaften wollen dies mit einer Volksabstimmung verhindern.
Auch im Nicht-EU-Land Norwegen hat das EuGH-Urteil negative Auswirkungen. Obwohl es seit März eine neue Beschaffungsrichtlinie gäbe, wollten die Behörden den entsprechenden Teil der Verordnung erst einmal nicht anwenden, berichtete Dag Seierstad von der sozialistischen Linken. "Die Arbeitgeber nutzen die Situation, um das seit 1907 bestehende Tarifsystem zu demontieren."
In Deutschland sinken die Löhne bei vielen öffentlichen Aufträgen auch da, wo es bisher gar keine Konkurrenz aus dem Ausland gibt.
Beispiel Rettungsdienste: Während es bis vor kurzem vielerorts traditionelle Bindungen ans Rote Kreuz, den Arbeitersamariterbund, Johanniter oder Malteser gab, drängt die EU-Kommission nun zur öffentlichen Ausschreibung der rund 4000 Rettungswachen. Dabei hat der EuGH in diesem Fall eine Einschränkung des Wettbewerbs aufgrund der öffentlichen Verantwortung sogar ausdrücklich zugelassen. Dennoch eröffnen immer mehr Landkreise ein Bieterverfahren, in Sachsen ist es gar zwingend vorgeschrieben.
Prekäre Ausschreibungspraxis_ Das führt vor allem dort zu Preis- und Lohndumping, wo die Anforderungen nicht genau spezifiziert werden, berichtet die zuständige ver.di-Sekretärin Marion Leonhardt. Zunehmend seien Leiharbeiter im Einsatz. Auch die Nachfrage nach "Ehrenamtlichen" nehme erheblich zu - und die Krankenkassen unterstützen das mit einer "Aufwandsentschädigung" von 7,50 Euro pro Stunde. Mit ihrem Bruttoverdienst von 1600 bis 1700 Euro gelten Hauptamtliche deshalb inzwischen vielerorts als zu teuer.
Tarifflucht durch die Gründung von Subunternehmen greift um sich - wodurch sich bis zu 30 Prozent Lohnkosten einsparen lassen. Zunehmend beteiligen sich auch Unternehmen, die noch gar kein Personal haben, an Ausschreibungen. In Görlitz hat das Rote Kreuz 72 Vorratskündigungen ausgesprochen - bis klar ist, wer den Auftrag gewinnt. Ähnliche Tendenzen lassen sich bei der Weiterbildung von Arbeitslosen beobachten. Auch hier bewerben sich viele Firmen ohne Unterbau.
Haben sie dann von der Bundesagentur für Arbeit den Zuschlag bekommen, mieten sie Werkstätten und heuern Beschäftigte aus unterlegenen Betrieben an - zu niedrigeren Löhnen, versteht sich. "Europa braucht eine Neuorientierung. Es geht nicht mehr nur um Detailkorrekturen", lautet das Fazit von Frieder Otto Wolf, Politologe an der FU Berlin. Wer gegen ein rein auf den Markt hin orientiertes Europa sei, sei keineswegs gegen Europa an sich, betonte Wolf, der selbst mehrere Jahre im EU-Parlament gesessen hat. Die aktuelle Krise nach dem Irland-Referendum biete durchaus Chancen für ein gesellschaftliches Europa-Projekt.
Allerdings werde niemand den deutschen Gewerkschaften die Tarifautonomie schenken. "Die muss erkämpft werden", so Wolf. Nur, wenn sich in den Häfen alle Arbeiter weigern würden, Waren zu entladen, die nicht unter ILO-Kernarbeitsnormbedingungen hergestellt wurden, würde sich an den weltweiten Herstellungsbedingungen etwas ändern. Will sagen: Auch innerhalb der EU darf es nicht darum gehen, Schutzwälle um schrumpfende Besitzstände zu ziehen. Vielmehr müssen die europäischen Gewerkschaften offensiv und solidarisch für bessere Bedingungen für alle streiten.