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Zentrale von Müller-Fleisch in Birkenfeld bei Pforzheim Magazin Mitbestimmung

Prekär: Geschäftsmodell auf der Kippe

Ausgabe 03/2020

Nach vielen Hundert Corona-Infektionen in der Fleischindustrie will Arbeitsminister Heil Werkverträge verbieten. Ortstermin bei Müller-Fleisch in Birkenfeld. Von Stefan Scheytt

In diesen Tagen und Wochen erinnert sich Elwis Capece, Geschäftsführer der Regionen Mannheim-Heidelberg und Mittelbaden-Nordschwarzwald der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), wieder daran, was ihm sein Vater über seine ersten Jahre in Deutschland erzählte. Capece senior war 1958 als 15-jähriger Schneidergeselle aus Süditalien nach Süddeutschland gekommen und hatte sich von Job zu Job gehangelt, bevor er eine Ausbildung zum Werkzeugmacher absolvierte und später Betriebsrat wurde. „Mein Vater erzählte von den alten Buden, in denen er in Mehrbettzimmern mit anderen hauste, dass es dort nur eine Toilette für alle auf dem Gang gab und bestenfalls eine Kochnische.“ Das Skandalöse sei, findet Capece, dass diese Erfahrungen „eins zu eins übertragbar sind auf das, was wir heute – 60 Jahre später – bei osteuropäischen Beschäftigten in der Fleischindustrie erleben“.

In Elwis Capeces Region ist der Firmensitz der Müller-Gruppe, die mit rund 600 Millionen Euro Umsatz zu den Großen der deutschen Fleischwirtschaft zählt und an ihren Standorten in Baden-Württemberg und Bayern jährlich rund 2,5 Millionen Schweine und Rinder schlachtet und zerlegt. Das tun zu großen Teilen Frauen und Männer aus Rumänien, Polen oder Ungarn, die deshalb aber nicht bei Müller-Fleisch angestellt sind, sondern bei Subunternehmen. Keine andere Branche hat das Modell der Werkvertragsarbeiter, die ein paar Monate arbeiten, gehen und dann wieder für einige Monate kommen, so ausgereizt wie die Fleischindustrie – zum Teil sind mehr als 80 Prozent einer Belegschaft bei Subfirmen unter Vertrag.

Zum Geschäftsmodell gehört außerdem, dass diese Menschen oft in engen Sammelunterkünften leben, die als eine der Ursachen gelten für die starke Verbreitung des Corona-Virus in den Belegschaften: Hunderte Mitarbeiter in deutschen Schlachthöfen haben sich infiziert; allein bei Müller-Fleisch in Birkenfeld im Nordschwarzwald wurden unter knapp 1200 Mitarbeitern 399 positiv getestet, die meisten Werkvertragskräfte aus Osteuropa. Weil in ihren Unterkünften keine Quarantäne möglich war, schickte das Landratsamt die Infizierten in drei eigens angemietete Unterkünfte und verhängte für die Nicht-Infizierten und Genesenen zeitweise eine Arbeitsquarantäne: Sie dürfen sich nur im Betrieb und in ihrer Unterkunft aufhalten, aber nicht einkaufen und mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren.

Ein ehemaliges Wirtshaus im Ortskern von Neuenbürg, wenige Kilometer von der Müller-Fleisch-Zentrale entfernt. Im Eingang des heruntergekommenen Gebäudes, an dem freie Stromkabel von einem Fenster zum anderen führen, steht Mario, ein Mann um die 40 mit vielen Zahnlücken, dessen Deutsch nur ausreicht, um zu erfahren, dass er bei Müller arbeitet und aus Rumänien kommt. Sein Zimmer im zweiten Stock ist eine enge Stube mit zwei durchgelegenen Betten und einer einzelnen Kochplatte im Eck. Mario senkt den Daumen, um zu signalisieren, was er von diesem Ort hält. 

Gesetz nicht zerfleddern

Zwei solche überbelegte Sammelunterkünfte hat das Landratsamt bereits geschlossen, und von August an dürfen die Müller-Schlachter und -Zerleger ihre Zimmer nur noch alleine bewohnen. Aber es geht nicht nur um die Unterbringung für Monatsmieten um die 250 Euro pro Person. Gewerkschafter Capece hat auch den Verdacht, dass viele der Beschäftigten mehr arbeiten, als erlaubt. „Müller-Fleisch bestreitet das zwar, aber wir hören, dass Menschen oft auch zwölf, 14 oder 16 Stunden am Tag arbeiten und sieben Tage die Woche.“ Capece sagt: „Das System Fleischindustrie beruht auf Ausbeutung: Firmen wie Müller-Fleisch, aber auch den großen Supermarktketten geht es vor allem um den Profit, und die Politik lässt diese Unternehmen seit Jahrzehnten gewähren, um mit billigen Lebensmitteln punkten zu können.“

Auf Betreiben von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) beschloss das Kabinett nun Mitte Mai, Werkverträge und Leiharbeit in der Fleischindustrie von 2021 an zu verbieten und höhere Bußgelder bei Verstößen gegen Arbeitszeitvorschriften zu verhängen. Heils Ansage begrüßt Elwis Capece: „Bei ordentlichen Beschäftigungsverhältnissen hätten wir endlich bessere Bedingungen, um in Betrieben wie Müller-Fleisch Fuß zu fassen. Dann wären die Mitarbeiter, zu denen man mühsam Kontakt aufgebaut hat, nicht nach einigen Monaten schon wieder weg.“

Doch der NGG-Mann sieht auch die Gefahr, dass der Kabinettsbeschluss auf dem Weg zum Gesetzestext zerfleddert werden könnte. Einen Hinweis lieferte bereits der baden-württembergische Agrar- und Verbraucherschutzminister Peter Hauk (CDU), der Müller-Fleisch erst eineinhalb Monate nach Ausbruch des Corona-Virus besuchte und danach Heils Pläne als Schnellschuss attackierte: Werkverträge sorgten auch in anderen Branchen für Flexibilität, es sei nicht sinnvoll, einer einzelnen Branche dieses Instrument zu nehmen. Auch habe er keine prekären Wohnverhältnisse gesehen: „Die wollen im Zweifel das Mehrbettzimmer“, um Geld zu sparen.

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