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Magazin Mitbestimmung

Bergbau: Ein letztes Glückauf

Ausgabe 06/2012

Am 30. Juni wird das letzte verbliebene Bergwerk im Saarland den Steinkohleabbau vorzeitig einstellen. Tausende Beschäftigte sind davon betroffen. Auf betriebsbedingte Kündigungen hat die RAG zwar verzichtet, doch die Bergleute müssen große Opfer bringen. Von Mathias Peer

Sein Haus überstand das Beben ohne einen Kratzer, seine Heimat hat Jörg Wilhelm dennoch verloren. Es war Samstag, der 23. Februar 2008, Wilhelm war gerade von seiner Wochenendschicht im RAG Bergwerk Saar nach Hause gekommen, als er im Radio die Nachricht hörte: „Ein von Bergbauarbeiten ausgelöstes Erdbeben hat um kurz nach halb fünf das Saarland erschüttert. Es erreichte die Stärke 4,0 auf der Richter-Skala.“ Noch nie zuvor hatte der Kohleabbau in Deutschland zu einer so starken Erschütterung geführt. Am Abend sah der damals 43-jährige Wilhelm im Fernsehen Bilder der Gemeinde Saarwellingen, die am stärksten betroffen war: Schornsteine waren zerstört, viele Häuser hatten Risse, vom Kirchturm waren Steine auf den Vorplatz gefallen. Wütende Anwohner hatten sich versammelt und eilig ein Transparent bemalt. „Gotteshaus zerstört von RAG“, stand darauf. Auch der damalige Ministerpräsident, Peter Müller, war vor Ort. Es müsse alles getan werden, um eine weitere „Gefahr für Leben und Gesundheit der Bevölkerung abzuwenden“, sagte Müller in die Fernsehkameras. Gleichzeitig beschloss die Landesregierung einen vorläufigen Abbaustopp. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde Jörg Wilhelm klar: Die Lage für den Bergbau im Saarland ist ernst.

Damit sollte er recht behalten: Nach monatelangen Verhandlungen und heftigen Protesten von Bergbaugegnern einigten sich die Betreibergesellschaft RAG und die saarländische Landesregierung unter öffentlichem Druck darauf, den Steinkohleabbau in dem Bundesland vorzeitig zu beenden. Statt, wie ursprünglich geplant, Ende 2018 wird bereits am 30. Juni dieses Jahres zum letzten Mal Kohle aus einem saarländischen Bergwerk gefördert. Die 250-jährige Geschichte des Industriezweigs, der zu seinen Hochzeiten in den 1950er Jahren über 60 000 Menschen beschäftigte und jeden vierten sozialversicherungspflichtigen Job in der Region stellte, geht damit unwiderruflich zu Ende.

Neben Jörg Wilhelm arbeiteten noch rund 5500 Mitarbeiter für die RAG im Saarland, als das Beben vom 23. Februar den Auslöser für die Schließung gab. Betriebsrat und Arbeitgeber stellte das vorzeitige Ende vor eine enorme Herausforderung: Wie ist es möglich, einen Unternehmenszweig dieser Größenordnung abzuwickeln, ohne betriebsbedingte Kündigungen aussprechen zu müssen und Tausende Arbeitnehmer perspektivlos zurückzulassen? Die Antwort fand das Unternehmen in Ibbenbüren im Tecklenburger Land, weit im Norden Nordrhein-Westfalens. Hier liegt Jörg Wilhelms neuer Arbeitsplatz, 450 Kilometer entfernt von seiner saarländischen Heimat. Im Oktober 2010 hat ihn die RAG als einen der ersten saarländischen Bergleute dorthin verlegt. Rund 400 weitere sind ihm seitdem gefolgt. Wenn das Bergwerk Saar in den kommenden Monaten vollständig abgewickelt ist, werden – inklusive Service- und Verwaltungsmitarbeitern – über 1400 Saarländer, die zu jung für den Vorruhestand sind, im Bergwerk der RAG Anthrazit Ibbenbüren arbeiten.

450 KILOMETER WEIT WEG

Dass bereits viele das Saarland verlassen haben, ist am Nordschacht des Bergwerks Saar besonders gut sichtbar. Der Parkplatz war noch vor wenigen Jahren heillos überfüllt, die Mitarbeiter mussten ihre Wagen mehrere Hundert Meter entfernt am Waldrand abstellen. Heute stehen nur noch vereinzelt Autos auf dem Gelände. Kurz vor der letzten Schicht ist es ruhig geworden an dem Ort, der einst Zehntausende Familien ernährte. Für Hans-Jürgen Becker ist es dennoch eine turbulente Zeit: Der kräftige Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart und tätowiertem Oberarm ist Betriebsratsvorsitzender des Bergwerks Saar – und in diesen Tagen ein gefragter Mann. Gilt in Ibbenbüren ein neuer Tarifvertrag? Können Schichten dort so gelegt werden, dass verlängerte Wochenenden zur Heimreise möglich sind? Werden Urlaubsansprüche auf den neuen Betrieb übertragen? Egal, wo er im Betrieb unterwegs ist, prasseln Fragen auf Betriebsrat Becker ein. Meistens hat er auch eine Antwort parat. Doch nicht bei allen Problemen kann er weiterhelfen. „Wir haben es zwar geschafft, eine Lösung zu finden, die jedem Mitarbeiter im Bergwerk eine Zukunftsperspektive bietet“, sagt Becker. Das sei eigentlich ein Wunder, wenn man bedenke, dass 2008 noch viele befürchteten, von einem Tag auf den anderen auf der Straße zu stehen. „Doch da ist diese eine Sache, die man einfach nicht wegdisktutieren kann: diese verdammten 450 Kilometer Entfernung.“

Die Verlegung nach Ibbenbüren ist für das Leben der Betroffenen ein gewaltiger Einschnitt: Die meisten von ihnen haben ihr gesamtes Berufsleben im überschaubaren Saarland verbracht. Mit dem beruflichen Neuanfang in Nordrhein-Westfalen lassen sie ihre Familien zurück, ihre Freunde, ihr Zuhause. Betriebsratsvorsitzender Becker ist überzeugt: Nur wenn man über die damit verbundenen Sorgen und Ängste offen spricht, gibt es eine Möglichkeit, die schwierige Situation in den Griff zu bekommen. Er streift sich seine Bergmannskleidung über, setzt den Helm auf, bindet den Akkulampengürtel um seinen Bauch und fährt mit dem Aufzug unter Tage. Der Schacht ist 1750 Meter tief – in keinem anderen Bergwerk Europas arbeiten die Bergleute so weit unter der Erdoberfläche wie hier. Becker marschiert durch den Stollen zur Untertagewerkstatt, an der der Bergmann Ali Tatar gerade eine defekte Laufkatze repariert. Seit 28 Jahren arbeitet Tatar bei der RAG und ihren Vorgängerunternehmen unter Tage. Vor zwei Wochen schickte ihm das Unternehmen einen Brief: Darin wurde ihm sein Verlegungstermin mitgeteilt. Nach letzten Abbauarbeiten soll er im Dezember 2012 das Saarland verlassen und ein neues Leben in Ibbenbüren beginnen. „Ich habe keine Vorstellung davon, was mich dort erwartet“, sagt er.

Tatar hatte vor einigen Jahren einen schweren Arbeitsunfall. Seitdem halten seine Schultern und seine Knie größeren Belastungen kaum noch stand. Die Werkstattarbeit ist die einzige Tätigkeit, die Tatar unter Tage noch ausführen kann, ohne weitere gesundheitliche Schäden davonzutragen. „Bekomme ich in Ibbenbüren den gleichen Job?“, will er von Becker wissen. „Das kann ich dir nicht sagen“, antwortet der Betriebsrat. Die konkrete Personalplanung werde vor Ort gemacht. „Man wird eine gute Aufgabe für dich finden, da bin ich mir sicher.“

Gespräche wie diese führt Becker an diesem Tag noch viele. Es geht um nicht abbezahlte Eigenheime, pflegebedürftige Verwandte, die Angst vor einer Ehekrise. Der bevorstehende Umzug führt zu ganz unterschiedlichen Problemen. Viele sind privater Natur, Beckers Möglichkeiten zu helfen sind begrenzt. Er möchte dennoch Optimismus verbreiten. Die Verlegung sei hart, aber eben dennoch die bestmögliche Alternative. „Nur das Negative zu sehen, das bringt keinem was“, sagt er.

Den Maßnahmenkatalog, den Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsam ausgehandelt hatten, um den Betrieb sozialverträglich zu beenden, sieht er als das Beste, was unter den gegebenen Umständen möglich war. Immerhin konnten 250 Bergleute, die ursprünglich verlegt werden sollten, vom Umzug komplett verschont werden, weil sie ausreichend Mehrarbeit auf ihrem Langzeitarbeitskonto angesammelt hatten. Außerdem wurde eine Clearing-Stelle installiert, die paritätisch von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern besetzt ist und die Verlegungen in sozialen Härtefällen hinauszögern kann.

Mehrere Kilometer geht Becker zu Fuß durch das unterirdische Tunnelsystem. Neben seiner Wegstrecke verläuft das Förderband, das normalerweise Tonnen von Steinkohle zum Ausgang transportiert. In letzter Zeit steht es immer häufiger still, auch an diesem Tag bewegt es sich keinen Zentimeter. Dem Saar-Bergbau, der früher zu den produktivsten und rentabelsten Betrieben der deutschen Steinkohleindustrie gehörte, geht langsam die Luft aus. Das nahende Ende ist auch in den Gesprächen der Arbeiter ein Dauerthema: „Seit die Schließung beschlossen wurde, kennt jeder hier das Geburtsjahr seiner Kollegen“, sagt einer von ihnen. Der Grund: Die Jungen müssen zuerst nach Ibbenbüren – und wer alt genug ist, muss die Verlegung nicht mehr mitmachen.

GEREGELT IN EINEM IG-BCE-TARIFVERTRAG

Geregelt wurden diese Details in einem eigenen Tarifvertrag, den die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) mit dem Gesamtverband Steinkohle im Juli 2008 abgeschlossen hat. Die Einigung garantiert den Arbeitnehmern eine Weiterbeschäftigung bis zur Gewährung des sogenannten Anpassungsgeldes. Dabei handelt es sich um eine Art Vorruhestand für Beschäftigte im Steinkohlenbergbau, die über 50 Jahre alt sind und aufgrund von Bergwerksschließungen ihren Job verlieren. Außerdem wird das Einkommen für mindestens zwei Jahre garantiert. Im Gegenzug werde von den Beschäftigten dafür „Flexibilität“ erwartet, wie es in einer Mitteilung der IG BCE hieß.

Hinter dem abstrakten Schlagwort verbirgt sich die Verlegung nach Ibbenbüren. Wann der Umzug für die einzelnen Beschäftigten konkret wird, teilt die RAG mindestens sechs Monate im Voraus mit. 92 Bergleute bekamen jetzt Anfang Mai Gewissheit, dass sie die nächsten sind. Um zu erklären, wie es jetzt weitergeht, lud die RAG sie zu einer Informationsveranstaltung in die Weißkaue am Ensdorfer Firmensitz. Der Saal war früher Umkleideraum, bevor die Bergleute einfuhren. Nur ein paar zurückgelassene Handtücher und Shampoo-Flaschen erinnern an die Betriebsamkeit von früher.

Der Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Viele haben ihre Ehefrau mitgebracht. Es gibt kalte Cola und aufmunternde Worte. „Ihr seid gestandene Männer, ihr steht jeden Tag vor riesigen Herausforderungen, ihr werdet auch diese Herausforderung meistern“, ruft Personaldirektor Walter Fuss in sein Mikrofon. Im Hintergrund läuft eine Powerpoint-Präsentation, auf der vorgerechnet wird, wo das Unternehmen bei der Verlegung hilft: Zwei Jahre lang bezahlt die RAG einen Mietzuschuss für die neue Wohnung in Ibbenbüren, außerdem organisiert sie Möbelpacker und zahlt einen Pauschalbetrag für Einrichtungsgegenstände aus, die neu angeschafft werden müssen. Außerdem bekommen die Bergleute einen Zuschuss für Heimfahrten ins Saarland ausgezahlt. Dass die finanzielle Unterstützung die Probleme, die der Neuanfang mit sich bringt, lediglich abmildern kann, ist Walter Fuss klar. „An den 450 Kilometern können wir mit keinem Geld der Welt etwas ändern“, sagt er in ruhigem Ton zu den Bergmännern.

VON CHANCEN UND FERNBEZIEHUNGEN

Eine gute Stunde dauert die Veranstaltung, die die Belegschaft auf ihr neues Leben vorbereiten soll. Am Ausgang verteilen RAG-Mitarbeiter noch die zwölfseitige Broschüre „Umgang mit Veränderungen und neuen Lebenssituationen“. Darin finden sich Tipps wie: „Angst kann man nur besiegen, wenn man sich ihr stellt“, „Große Veränderungen können auch eine Chance sein“ und „So gelingen Fernbeziehungen“.

Doch wenn das eigene Leben plötzlich auf dem Kopf steht, hilft selbst die beste Vorbereitung nur begrenzt weiter. Das hat auch Jörg Wilhelm erlebt. Seine letzte Schicht im Saarland war vor 21 Monaten. Zum Abschied hatten die Kollegen für ihn noch Rouladen mit saarländischen Schneebällchen und Rotkohl gekocht. Dann war Wilhelm auf sich gestellt. „Das Schlimmste nach dem Umzug war die Einsamkeit“, erzählt der Bergmann, der seit mittlerweile 21 Monaten in Ibbenbüren lebt. Seit 30 Jahren ist er mit seiner Frau verheiratet, räumlich voneinander getrennt waren die beiden nie länger als eine Woche. „Von der Arbeit nach Hause zu kommen und da ist niemand, der auf einen wartet, war eine schwierige Situation“, sagt er. „Wir waren uns nicht sicher, ob wir das gemeinsam hinkriegen.“

Doch Wilhelm gelang es, sich an sein neues Leben zu gewöhnen: Er wohnt während der Woche zwar in einer 60-Quadratmeter-Wohnung und nicht in einem 200-Quadratmeter-Haus, aber der Platz reicht selbst dann, wenn seine Frau und die erwachsenen Kinder gleichzeitig zu Besuch kommen. Wenn er alleine ist, helfen ihm neue Rituale: Erst kocht er sich eine frische Mahlzeit, dann geht er meistens laufen oder fährt mit seinem Fahrrad durch Ibbenbürens Hügellandschaft. „Ich will nicht so einer werden, der in seiner Freizeit nur vor dem Fernseher versackt.“ Mit seiner Frau telefoniert er mehrmals jeden Tag, an jedem Wochenende fährt er in einer Fahrgemeinschaft in seine alte Heimat. „In Ibbenbüren fühle ich mich mittlerweile zu Hause, ‚dahemm‘ bin ich aber immer noch im Saarland.“ Auch das letzte Juni-Wochenende wird Wilhelm an der Saar verbringen. An der offiziellen Abschiedsfeier für sein ehemaliges Bergwerk will er aber nicht teilnehmen. Er habe dort bereits Lebewohl gesagt, als er 2010 nach Ibbenbüren aufbrach, sagt Wilhelm. Das sei für ihn genug. „Ein Bergmann verabschiedet sich nur einmal.“ 

Text: Mathias Peer, Wirtschaftsjournalist in Köln / Foto: RAG Bergwerk Saar

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