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Magazin Mitbestimmung

: Die Jobfighter

Ausgabe 03/2010

METALLINDUSTRIE Beschäftigungssicherung ist eine Disziplin, die Betriebsräte im Südwesten nicht erst seit gestern beherrschen. Wie sie das machen, zeigt gerade die Krise. Von Stefan Scheytt

STEFAN SCHEYTT ist Journalist in Rottenburg am Neckar/Foto: Wolfgang Roloff

Es passiert selten, dass zwei Männer auf die Frage, ob sie Angst hätten, ohne zu zögern mit "Ja" antworten. Der eine ist Rainer Wietstock, Betriebsratsvorsitzender bei John Deere in Mannheim, ein zierlicher Mann Mitte Fünfzig, ruhig formulierend in starkem Mannheimer Dialekt; der andere ist Betriebsratsreferent Torsten Jann, gebürtiger Hamburger, ein sprudelnder Schnellsprecher. Sie sitzen in Wietstocks Büro mitten im weitläufigen Mannheimer Fabrikgelände, auf dem seit 1921 Traktoren gebaut werden, zuerst die legendären Bulldogs der Lanz AG, seit 1956 Maschinen des US-Weltmarktführers John Deere mit Hauptsitz Illinois. Wietstocks und Janns Sorge gilt den 3500 Kollegen im hochproduktiven Werk in Mannheim, die einen Umsatzeinbruch von 30 Prozent verkraften müssen; und sie gilt den 140 Leiharbeitern, deren Beschäftigungsschutz am 30. April ausläuft. Ihre Entlassung wäre nicht nur der "worst case", finden die Arbeitnehmervertreter, sie wäre auch das Ende eines in Deutschland wohl einmaligen Schutzes für Leiharbeitnehmer, die sonst die ersten Opfer der Krise sind.

Auch 130 Kilometer entfernt, beim Motorsägenhersteller Stihl in Waiblingen bei Stuttgart, hat die Krise voll zugeschlagen: 20 Prozent weniger Umsatz in den deutschen Werken, 7,5 Prozent Minus weltweit. Und dennoch erneuerten im vergangenen Sommer Arbeitgeber und Betriebsrat einen Beschäftigungs- und Standortsicherungsvertrag, der die Arbeitsplätze der Stammbelegschaft in Deutschland bis Ende 2015 garantiert, was der Stihl-Vorstandschef bei einer Betriebsversammlung als "eigentlich unglaublich für Krisenzeiten" bezeichnete. Mehr noch: Das Unternehmen sichert während dieser Zeit eine sogar leicht erhöhte Zahl von 3300 Beschäftigten im Stammhaus in Waiblingen zu. "Wir kämpfen hier nicht ums nackte Überleben", sagen Luigi Colosi und Claudia Klenk, der Vorsitzende und die Stellvertreterin des Betriebsrats. Colosi: "Mit diesem Vertrag haben wir dem Unternehmen die Gelegenheit gegeben, sich in schwierigen Zeiten den Mitarbeitern loyal zu zeigen."

LEIDENDER SÜDWESTEN_ Schwierige Zeiten - das gilt im "Musterländle" Baden-Württemberg mit seiner hohen Konzentration an Automobil- und Maschinenbaufirmen mehr als in jedem anderen Bundesland. Nirgendwo schrumpfte die Gesamtwirtschaft 2009 stärker (minus acht Prozent), stieg die Arbeitslosigkeit so steil an wie hier. Jeder dritte Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie arbeitet kurz, weitere zehn Prozent haben ihre Arbeitszeit im Rahmen eines Beschäftigungstarifvertrags reduziert. Das bundesweit größte Arbeitsplatzrisiko tragen die Belegschaften im Südwesten: Etwa die Hälfte des Personalabbaus in der M?+?E-Branche von rund 100 000 Mitarbeitern entfällt auf Baden-Württemberg.

Und dennoch ist überall von einem "Beschäftigungswunder" die Rede - weil die Arbeitslosenzahlen eben nicht widerspiegeln, was aufgrund der teilweise dramatischen Umsatzeinbrüche zu erwarten wäre. Laut Arbeitgeberverband Gesamtmetall gab es im vergangenen Jahr für 875 000 Mitarbeiter in der M?+?E-Industrie faktisch keine Beschäftigung, aber "nur" 105 000 verloren bislang ihren Job oder gaben ihn freiwillig auf.

Zu verdanken ist das nicht nur der weitreichenden Kurzarbeit. Zu verdanken ist das Betriebsräten wie jenen bei Stihl und John Deere, die - begleitet von der IG Metall - tief in den Instrumentenkasten griffen, um Beschäftigung zu sichern. So unterschiedlich die zwei Firmen sind - hier das schwäbische Familienunternehmen, dort die börsennotierte, zehnmal mehr umsetzende US-Firma -, verbindet sie, dass die Arbeitnehmervertreter schon lange vor der Krise tätig geworden waren und deshalb jetzt in der Krise agieren können. Denn unabhängig davon, wie es beim Traktorenbauer John Deere weitergeht: Bemerkenswert ist schon jetzt, dass Leiharbeiter ausgerechnet in einem US-Unternehmen so geschützt und bezahlt werden, wie das offenbar in keiner deutschen Firma der M?+?E-Branche der Fall ist.

LEIHPOOL ALS ALTERNATIVE ZUR BEFRISTUNG_ "Bis heute hat keiner unserer 140 Leiharbeiter das Unternehmen verlassen trotz eines Auftragsrückgangs von 30 Prozent", sagt Betriebsratschef Rainer Wietstock nicht ohne Stolz. Und: Bei John Deere erhalten die Leihkräfte exakt den gleichen Stundenlohn wie Stamm-Mitarbeiter, inklusive Zulagen, Prämien, Weihnachts- und Urlaubsgeld, Lohnerhöhungen sowie Gewinnbeteiligung (im Dezember 2009 waren es rund 3000 Euro pro Mitarbeiter). Es gebe wohl kein Leihunternehmen, das bessere Bedingungen biete als die nicht gewinnorientierte Jobpool GmbH, mit der die IG Metall Mannheim einen entsprechenden Tarifvertrag abgeschlossen hat.

Das bestätigt auch Leiharbeiter Reiner Reich. Der 25-jährige Kfz-Mechaniker hat eine typische Leiharbeiterkarriere vorzuweisen: keine Übernahme in einer Mercedes-Niederlassung trotz guter Noten, befristete Anstellung bei Smart, dann bei zwei Zeitarbeitsfirmen. Auch bei John Deere fing er mit einem befristeten Vertrag an, der zweimal verlängert wurde; Ende 2008 war Reich einer der Letzten, die als Leiharbeiter zu Jobpool wechseln konnten. "Schon ohne Schichtzulage verdiene ich hier knapp 20 Euro in der Stunde, das Dreifache dessen, was ich bei einer anderen Leihfirma bekam", sagt Reich. Er baut jetzt Bremsen zusammen, ein abwechslungsreicher Job, wie er sagt, und über die Rotation dürften die Mitglieder der Gruppe selbst entscheiden. Im Alltag, sagt Jobpool-Mitarbeiter Reich, gebe es keinerlei Unterschied zur Stammbelegschaft: dieselbe Kleidung, derselbe Werksausweis, dieselben Spinde. "Und wenn sich ein Leiharbeiter verletzt, wird er wie jeder andere von der Werksfeuerwehr nach Hause gefahren."

Dass es überhaupt Leiharbeiter im Unternehmen gibt - "wir wollten das nie", stellt Betriebsratsreferent Torsten Jann klar -, ist historisch begründet. "Mitte der 90er Jahre waren befristete Anstellungen eine Geißel, zeitweise machten sie mehr als 20 Prozent der gewerblichen Belegschaft aus", sagt Jann. "Von denen bekamen wir Druck nach dem Motto: ‚Ihr müsst was tun, damit wir bleiben können.‘" Als dann die Unternehmensleitung auch noch Leiharbeiter einsetzen wollte und beteuerte, dies nicht aus Kostengründen zu tun, sondern um in Absatzkrisen leichter Personal abbauen zu können, griff der Betriebsrat 2006 zu: Er sah die Chance, befristete Anstellungen stark zu beschränken und gute Bedingungen für Leiharbeiter auszuhandeln. "Dass das Unternehmen eine strategische Abbaureserve wollte, konnten wir nicht verhindern, also haben wir die Situation gestaltet", sagt Betriebsratschef Wietstock. Und zwar so gut, dass die Unternehmensleitung zustimmte, ausgerechnet ihre "strategische Abbaureserve" durch eine Betriebsvereinbarung bis Ende April 2010 gegen Jobverlust zu schützen. "Das sind alles gute Leute, relativ jung, alle mit Facharbeiterausbildung, die sich zuvor als Befristete ‚bewährten‘", sagt Referent Jann. "Das Unternehmen weiß, warum es auch seine Leiharbeiter so lange wie möglich hält."

ARBEITSZEIT VERNICHTET_ Bezahlt wird diese Beschäftigungssicherung bei John Deere durch die klassischen Instrumente, deren Wirkung Torsten Jann mit dem schlimm klingenden, aber zutreffenden Satz beschreibt: "Je mehr Arbeitszeit wir clever vernichten, desto mehr Jobs können wir halten." Konkret: Befristete Arbeitsverhältnisse werden nicht in feste Verhältnisse umgewandelt; die Guthaben auf den Zeitkonten sind "geplündert" und laufen längst ins Negative, teilweise bis zu mehr als 100 Stunden; dazu gibt es Kurzarbeit seit Frühjahr 2009. Im vergangenen Jahr wurde auf diese Weise etwa ein Drittel der Jahresarbeitszeit "vernichtet", und in diesem Jahr "wird es mindestens dieselbe Größenordnung sein", befürchtet Betriebsrat Rainer Wietstock. "Aber unser Ziel ist es, alle Mitarbeiter an Bord zu halten, auch die Leiharbeiter", sagt Wietstock mit Blick auf das entscheidende Datum 30. April. Ob es gelingt, hängt von der Konjunktur ab. Und von der Solidarität der Stammbelegschaft, die natürlich weiß, dass auch sie einen Teil des Preises für den Schutz der Jobpool-Kollegen bezahlt, etwa durch vermehrte Kurzarbeit.

PRODUKTIONSUMFÄNGE FÜRS STAMMWERK_ Im Vergleich mit John Deere scheint die Welt beim Motorsägenhersteller Stihl geradezu heil. Kurzarbeit betrifft nur 400 von knapp 4000 Beschäftigten in Deutschland, und das auch nur an vier Tagen im Monat; und Leihkräfte beschäftigt der Weltmarktführer hierzulande nur einige wenige; der Schutz vor betriebsbedingten Kündigungen bis Ende 2015 ist außerdem durch weitere Zusagen zusätzlich abgesichert: So hat das Management versprochen, zahlreiche künftige Nachfolge- und neu anlaufende Produkte in Deutschland herstellen zu lassen; mit dem Betriebsrat ist sogar die Stückzahl der in Deutschland jährlich zu produzierenden Motoreinheiten vereinbart.

Betriebsratschef Luigi Colosi findet, das sei ein fairer Deal. "Das Unternehmen hat in den 70er und 80er Jahren im Ausland reichlich Kapazitäten für ausländische Märkte aufgebaut, die uns hier Beschäftigung kosteten" - allerdings nie durch Entlassungen. Und natürlich hat die ungewöhnlich lange Jobgarantie bis 2015 auch jetzt ihren Preis. So können die Arbeitszeitkonten bis zu 200 Stunden ins Minus gehen - obwohl Schwaben ungern Schulden machen, auch nicht Arbeitszeitschulden. "Für viele Mitarbeiter ist das ein schwieriger Umdenkungsprozess", sagt Betriebsratsvize Claudia Klenk. "Die sind jahrelang nach dem Motto verfahren ‚Ein guter Mitarbeiter steht im Plus‘. Jetzt fragen sie sich, wie sie bis zu vier oder fünf Wochen wieder reinholen sollen."

Der Beschäftigungs- und Standortsicherungsvertrag erlaubt es dem Arbeitgeber außerdem, jeden Mitarbeiter an sechs Samstagen im Jahr zur Arbeit einzubestellen, und zwar zuschlagsfrei; und schließlich regelt der Vertrag kollektive Freischichten für ganze Werksbereiche. "Das Unternehmen hat jetzt wirklich genügend Flexi-Instrumente, es sei denn, es will die Arbeit einfach billiger", meint Luigi Colosi. Doch gegen den Einsatz von Leiharbeitnehmern hat der Betriebsrat bislang erfolgreich gekämpft. Claudia Klenk: "Wir signalisierten immer: Nicht mit uns! Wir wollen keine Zwei-Klassen-Gesellschaft im Betrieb. Schlimm genug, dass es auch bei Stihl die typischen Befristungskarrieren gibt: zwei Jahre beim Daimler, zwei Jahre bei Porsche, zwei Jahre bei uns. Wie sollen solche Kollegen eine vernünftige Lebensplanung machen?"

Auch bei Stihl waren die befristet Beschäftigten, deren Anteil allerdings auf 6,5 Prozent begrenzt ist, die ersten Opfer der Krise - seit 2008 verloren etwa 150 ihren Arbeitsplatz. Verlierer waren auch ausländische Stihl-Beschäftigte. Bereits 2009 hatte das Unternehmen zur Beschäftigungssicherung in Deutschland die Produktion von rund 100 000 Motoreinheiten von den USA und Brasilien nach Deutschland verlagert. Und in diesem Jahr wandert die Fertigung von weiteren rund 50 000 Motorsägen von Brasilien nach Baden-Württemberg. "In diesen Ländern gab es früher ordentliche Beschäftigungszuwächse, die wir nicht hatten", sagen Luigi Colosi und Claudia Klenk. "Wir versuchen schon, unseren Anteil am Kuchen zu bekommen."

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