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Magazin Mitbestimmung

: Die Mitbestimmungs-Profis

Ausgabe 04/2010

UNTERNEHMENSKONTROLLE Wie verändert sich die Arbeit der Arbeitnehmervertreter in den Kontrollgremien mit dem BilMoG und dem VorstAG? Ein Besuch bei den Mitbestimmungsexperten der Gewerkschaften. Von Mario Müller

MARIO MÜLLER ist Wirtschaftsjournalist in Frankfurt/Main. Foto: Stephan Pramme

Ohne sein "BlackBerry" wäre Siegfried "Sigi" Birth ziemlich aufgeschmissen. An diesem Spätnachmittag hat der 61-jährige Jurist Station in Sulzbach gemacht. In dem kleinen Ort unweit von Frankfurt am Main steht am nächsten Morgen eine Besprechung mit Betriebsräten eines Chemieunternehmens an. Es gehe um größere Umstrukturierungen, erzählt Birth. Seine mobile Kommunikationszentrale ist leise gestellt. Später zückt er das "BlackBerry" und zeigt beim elektronischen Blättern auf die kürzlich angekommenen Sendungen: E-Mails, Kurznachrichten, Bitten um Rückruf zuhauf. Die wird er abends im Hotel durcharbeiten müssen.

Sigi Birth leitet die Abteilung Mitbestimmung beim Hauptvorstand der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) in Hannover. Zu seinen Aufgaben gehört die Betreuung jener Gewerkschaftsmitglieder, die in Aufsichtsräten von rund 150 mitbestimmten Unternehmen sitzen. "Fast jeden Tag", sagt Birth, erhalte er Anrufe, in denen die Kollegen Kontrolleure über firmeninterne Probleme berichteten und wegen ihrer Rechte und Pflichten um Rat bäten. Die derzeit am häufigsten gestellte Frage: "Wie halten wir es mit dem Thema Vorstandsvergütung?"

GESTIEGENE QUALIFIKATIONSANFORDERUNGEN_ Ähnlich wie Birth geht es den Mitbestimmungsexpertinnen und -experten aller Gewerkschaften. Sie sehen sich einem wachsenden Informationsbedarf der Mitglieder von Aufsichtsräten gegenüber. Denn an die werden, nicht zuletzt durch neue Gesetze, umfangreiche Anforderungen gestellt. Damit ändert sich auch das Aufgabenspektrum: Die Belegschaftsvertreter in den Kontrollgremien sind gezwungen, sich noch stärker als bisher mit wirtschaftlichen und juristischen Aspekten auseinanderzusetzen, um die Interessen der Beschäftigten mit Nachdruck vertreten zu können.
An neuen Vorschriften und Empfehlungen herrscht jedenfalls kein Mangel:

Das im vergangenen Sommer verabschiedete "Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung", kurz VorstAG, verpflichtet den gesamten Aufsichtsrat, also bei mitbestimmten Unternehmen auch die Arbeitnehmerbank, dafür zu sorgen, dass die Gesamtbezüge von Vorstandsmitgliedern in einem "angemessenen Verhältnis" zu deren Aufgaben und Leistungen stehen.

Das seit Mai 2009 geltende "Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz" (BilMoG) schreibt vor, dass in kapitalmarktorientierten Unternehmen mindestens ein Mitglied des Aufsichtsrats über Sachverstand in Sachen Rechnungslegung und Abschlussprüfung verfügen muss. Dieser aus dem angelsächsischen Recht übernommene "Financial Expert", auf Deutsch: Finanzfachmann, kann auch ein Betriebsrat sein, der entsprechend erfahren ist oder sich weitergebildet hat.

Die Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex, die Regeln für gute Unternehmensleitung und -überwachung aufstellt, spricht sich in einer kürzlich veröffentlichten Mitteilung für die "weitere Professionalisierung" und Qualifizierung von Aufsichtsräten börsennotierter Firmen aus.
n?Das ebenfalls im Sommer 2009 beschlossene "Gesetz zur Stärkung der Finanzmarkt- und der Versicherungsaufsicht" hält speziell für Aufsichtsratsmitglieder von Banken und Assekuranzunternehmen die Aneignung von unternehmensbezogenem Sachverstand für unerlässlich.

Kein Wunder, dass Martin Lemcke von "stark gestiegenen Qualifikationsanforderungen" spricht. Der 54-jährige Jurist ist, nach Stationen bei der Arbeitnehmerkammer Bremen und der ehemaligen Postgewerkschaft, seit 2001 in der Berliner Bundesverwaltung der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di beschäftigt und leitet den Bereich Mitbestimmung. Als Aufsichtsratsmitglied der Versicherungsholding Generali Deutschland und Ex-Aufseher von DeTe Immobilien, einer ehemaligen Tochter der Deutschen Telekom, kennt Lemcke auch die Mitbestimmungspraxis. Und er beobachtet einen grundlegenden Wandel der Arbeit eines Aufsichtsrats: Aus dem "zurückschauenden Kontrolleur" sei ein "in die Zukunft blickender Mitgestalter" geworden, der mehr Verantwortung zu tragen habe, aber auch mehr Haftungsrisiken.

ZUKUNFTSORIENTIERTE MITGESTALTUNG_ Eine "sehr spannende" Möglichkeit zukunftsorientierter Mitgestaltung sieht Lemcke beim Thema Vorstandsvergütung: Die Höhe der Managergehälter gilt als wichtiges Instrument zur Steuerung von Unternehmen. Das neue Gesetz eröffne den Vertretern der Beschäftigten im Aufsichtsrat die Chance, Einfluss auf die Kriterien zu nehmen, die für die Bezahlung der Manager gelten sollen. Den üblichen Bezugsgrößen wie dem Ergebnis vor Steuern oder dem Börsenwert könnten bislang vernachlässigte ökologische und soziale Erfolgskriterien zur Seite oder gegenübergestellt werden. In diesem Zusammenhang müsse der Aufsichtsrat nach Antworten auf Fragen suchen wie: "Was heißt Nachhaltigkeit? Wo wollen wir hin?" Damit sei ein direktes Mitwirken an der strategischen Ausrichtung von Unternehmen möglich, glaubt Lemcke.

"Wir brauchen in den Aufsichtsräten qualifizierte Leute, die sich ständig weiterbilden und bereit sind, Verantwortung für das Unternehmen zu übernehmen", meint der Mitbestimmungsexperte von ver.di. Front gegen das Management zu machen sei einfach, aber nicht unbedingt zielführend. Lemcke erinnert an die Deutsche Telekom, bei der klar gewesen sei, dass die einstige Belegschaftsstärke nicht zu halten war. In einer solchen Situation komme es für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat darauf an, gemeinsam mit den Betriebsräten nach Alternativen zu suchen, um das Schlimmste zu verhindern. Wie er sich das ideale Aufsichtsratsmitglied vorstellt? "Optimal wäre ein Mix aus juristischen Kenntnissen, einem Grundwissen in Betriebswirtschaft sowie einem breiten Informationsstand über die Branche und der Bereitschaft zur fortlaufenden Weiterbildung. Und natürlich muss er oder sie eng mit dem Betriebsrat vernetzt sein", antwortet Lemcke und räumt ein, dass er damit ein "höchst anspruchsvolles" Raster vorgibt.

Um die Qualifizierung voranzutreiben, will ver.di noch in diesem Jahr ein spezielles Programm für die gut 1500 Aufsichtsratsmitglieder aus rund 300 mitbestimmten Unternehmen starten, die zum Organisationsbereich der Gewerkschaft gehören. Die Seminarreihe soll sich unter der Trägerschaft eines Instituts der Universität Hamburg über insgesamt neun Tage erstrecken und mit einem Zertifikat abschließen. "Wir wollen keine Profi-Aufsichtsräte, wohl aber professionell arbeitende Interessenvertreter", sagt Lemcke.

Geschäftsordnung als politikum_ Qualifikation und Professionalität sind für Aufsichtsräte der Arbeitnehmerseite unerlässlich, meint auch Julia Cuntz. "Sie dürfen aber nicht vergessen, für wen sie in den Gremien sitzen." Die 34-jährige Juristin wechselte 2004 aus einer Anwaltskanzlei zum Vorstand der IG Metall, wo sie inzwischen im Ressort Unternehmensmitbestimmung und -politik arbeitet, als "Anlaufstelle für alle Aufsichtsräte". Das ist insofern nicht wörtlich zu nehmen, als ihr winziges Büro in der Frankfurter Zentrale kaum Platz für Besucher lässt. Den braucht es wohl auch nicht, weil Cuntz ebenso wie Birth oder Lemcke den Kontakt zur ihren "Mandanten" aus mehr als 200 mitbestimmten Unternehmen im Organisationsbereich der IG Metall meist vor Ort sucht.

"Unser Vorteil gegenüber der Kapitalseite ist zu wissen, was in den Unternehmen passiert", sagt Cuntz, die sich auf eigene Erfahrungen aus den Aufsichtsräten von Philips Deutschland und Siemens Enterprise Communications stützen kann. Dieses Wissen allein genügt aber nicht mehr. Die neuen Gesetze erfordern zusätzliche Kenntnisse. Besonders gefragt ist Cuntz derzeit als Beraterin in Sachen Geschäftsordnung, die in vielen Aufsichtsräten den veränderten Bedingungen angepasst werden muss. Dabei geht es um weit mehr als Formalien: Laut Aktiengesetz hat der Aufsichtsrat Art und Umfang jener Geschäfte festzulegen, die der Vorstand nur mit seiner Zustimmung abschließen darf. Die Geschäftsordnung entscheidet also über seine Einflussmöglichkeiten, etwa bei Investitionen. Da der Gesetzgeber aber bislang auf Mindestanforderungen verzichtet hat, wird die Vorschrift in der Praxis häufig lax gehandhabt. Cuntz zufolge gibt es nicht wenige Unternehmen, die keine oder nur unzureichende Kataloge zustimmungspflichtiger Geschäfte kennen.
"Der Aufsichtsrat muss die Interessen des Unternehmens vertreten. So steht es im Gesetz", betont Marie Sophie Seyboth, Bereichsleiterin Mitbestimmung und Unternehmenspolitik sowie Justitiarin beim Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB). Die einseitige Orientierung an möglichst hohen Gewinnen für die Anteilseigner - Shareholder-Value - könne damit nicht gemeint sein. Schließlich seien Vorstand und Aufsichtsrat verpflichtet, "im Einklang mit den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft für den Bestand des Unternehmens und seine nachhaltige Wertschöpfung zu sorgen". So definiert, vom DGB angestoßen, inzwischen der Deutsche Corporate Governance Kodex das "Unternehmensinteresse", das damit die Interessen aller "Stakeholder", also auch die der Beschäftigten, Kunden, Lieferanten sowie der Gesellschaft und der Umwelt zu berücksichtigen hat.

Die von Seyboth geleitete vierköpfige Abteilung nimmt in Berlin eine "Scharnierfunktion zwischen Gewerkschaften, Politik und Wissenschaft" ein, erklärt Rainald Thannisch. Als politischer Referent vertritt der Volkswirt gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen die Positionen der Gewerkschaften in Sachen Mitbestimmung gegenüber Parlament, Regierung und zahlreichen Verbänden. Entsprechend erleichtert hat man dem schwarz-gelben Koalitionsvertrag entnommen, dass sich die FDP mit ihren Vorschlägen zur Schwächung der Mitbestimmung nicht durchsetzen konnte. Eine Weiterentwicklung der Mitbestimmung während der kommenden vier Jahre erwartet Thannisch freilich auch nicht.

SPEZIALISIERUNG AUF DER ARBEITNEHMERBANK_ Den jüngsten Vorstoß der Regierungskommission Corporate Governance Kodex zur Professionalisierung der Aufsichtsratsarbeit sieht Seyboth äußerst gelassen. Die Gewerkschaften und der DGB hätten "schon immer für Qualifizierung" der insgesamt gut 5000 Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten von rund 700 mitbestimmten Unternehmen gestanden. Wohl wahr. So bietet die IG Metall über ihre "Mitbestimmungsakademie" zahlreiche Seminare, Fachtagungen und Workshops für Aufsichtsräte an. Auch die anderen Gewerkschaften halten ihre Vertreter mit Schulungen auf dem Laufenden. Hinzu kommen Veranstaltungen des DGB-Bildungswerks oder Fachtagungen und Beratungsangebote durch die Mitbestimmungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung. "Wir freuen uns, dass auch die Anteilseignerseite nun endlich verstanden hat, dass Aufsicht Kompetenz erfordert, und unser Modell der Fortbildung nachbildet", meint Seyboth. Als Mitglied der Aufsichtsräte von ThyssenKrupp Steel Europe sowie der deutschen Tochter des US-Autozulieferers Lear weiß sie, wie "anspruchsvoll die Tätigkeit ist". Und sie weiß, dass man nicht alles wissen kann. Entscheidend sei deshalb, dass der Aufsichtsrat insgesamt über die erforderlichen Kenntnisse verfüge und sich einzelne Mitglieder der Arbeitnehmerbank auf einzelne Aspekte spezialisierten.

Auf betriebswirtschaftliche Kennziffern etwa. "Die Zahlen können uns helfen, die Argumente des Managements, das Einsparmöglichkeiten fast immer nur bei den Personalkosten sucht, zu entkräften", sagt Sigi Birth. Auf diese Weise ließen sich etwa Pläne zum Abbau von Arbeitsplätzen durchkreuzen. Unter Umständen könne die genaue Kenntnis der wirtschaftlichen Verhältnisse sogar dazu führen, dass Stilllegungen von Betrieben und andere fragliche Umstrukturierungsmaßnahmen verhindert werden können. Nach Births Beobachtung hat die Fülle der Themen, mit denen sich Aufsichtsräte beschäftigen müssen, in den vergangenen Jahren enorm zugenommen. Die Unternehmen seien unter dem Einfluss von Globalisierung und technischen Umwälzungen etwa in der Kommunikation "völlig anders aufgestellt als früher". Dies verlange von Aufsichtsratsmitgliedern die Bereitschaft, sich jederzeit in neue Themen einzuarbeiten. Das ideale Mitglied verfüge aber nicht nur über Sachkunde, sondern sei als gewerkschaftlich organisierter Interessenvertreter über den Betriebsrat eingebunden in das Unternehmen und bereit, konstruktiv im Überwachungsgremium mitzuwirken.

Qualifizierung bleibt für Sigi Birth, der in den Aufsichtsräten des regionalen Energieversorgers E.ON edis sowie des Kohlechemieunternehmens Rütgers sitzt, eine wichtige Aufgabe. Eine Zertifizierung hält aber auch er für überflüssig. Dafür sieht er andere Notwendigkeiten: "Wir müssen uns intensiv damit beschäftigen, dass Frauen und Ausländer einen angemessenen Anteil in den Aufsichtsräten erhalten."


Mehr Informationen 

Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.): Arbeitshilfen für Aufsichtsräte. Ein Servicedienst mit Orientierungshilfen zu praktischen Problemen der Unternehmensmitbestimmung. Die Arbeitshilfen erscheinen unregelmäßig und werden laufend aktualisiert. Als PDF zu beziehen über http://www.boeckler.de/, Veröffentlichungen

 

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