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„Rider Captain“ Semih Yalcin liefert in Köln Essen aus. Magazin Mitbestimmung

Von GUNNAR HINCK: Delivery Hero ab jetzt paritätisch

Ausgabe 06/2018

Thema Die digitale Bestell-Plattform wird ihren Aufsichtsrat zukünftig zur Hälfte mit Arbeitnehmervertretern besetzen. Das Landgericht Berlin hatte den Essenslieferservice zuvor wegen Verstoßes gegen das Mitbestimmungsgesetz gerügt.

Von GUNNAR HINCK

Semih Yalcin hat es fast geschafft. Er wird als einer von drei Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsrat der neuen Delivery Hero SE einziehen, sobald die Gründung der neuen Gesellschaft in diesem Jahr abgeschlossen ist. Nominiert ist er schon. Der 30-jährige Fahrradkurier fährt mit seiner pinken Essensbox auf dem Rücken durch Köln und beliefert hungrige Großstädter mit Sushi, Pizza und Pasta.

Pink ist die Farbe von Foodora – das ist die deutsche Tochter der bisherigen Aktiengesellschaft mit Sitz in Berlin, welche von Brasilien bis Südkorea über verschiedene Plattformen Kunden mit Essen aus Restaurants beliefert. Bereits jetzt ist Yalcin Betriebsratsvorsitzender von Foodora in Köln. Auch wenn er sich nie so bezeichnen würde: Semih Yalcin, NGG-Mitglied, Student und Reserveoffizier der Bundeswehr, ist der informelle Arbeitnehmervertreter Nummer eins bei Foodora.

Der überraschend schnelle Einzug der Mitbestimmung bei der digitalen Bestell-Plattform, die erst seit 2017 eine börsennotierte AG ist, ist ein Erfolg. Anders als etwa beim Online-Händler Zalando SE, wo es nur eine Drittelparität gibt, wird der Aufsichtsrat bei der neuen europäischen Gesellschaft Delivery Hero zur Hälfte mit Arbeitnehmervertretern besetzt sein. Dass das Gremium nur aus sechs statt aus zwölf Mitgliedern – wie es bei einer AG der Fall wäre – bestehen wird, ist die Kröte, die die Arbeitnehmervertreter schlucken mussten.

Im Unterschied zu Zalando werden nicht nur Führungskräfte die Arbeitnehmer im Aufsichtsrat vertreten, sondern voraussichtlich mit Semih Yalcin mindestens einer von der Basis: Die „Rider“, wie die Fahrradkuriere genannt werden, bekommen 9 Euro die Stunde. Als „Rider Captain“ – so nennt Delivery Hero die Teamleiter von bis zu 20 Kurieren – bekommt Semih Yalcin einen Euro mehr.

Wenn eine SE gegründet wird oder ein deutsches Unternehmen in eine SE umgewandelt wird, bestimmt das „Besondere Verhandlungsgremium“ (BVG) aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern, wie viel Mitbestimmung es in der neuen Gesellschaft geben soll. Semih Yalcin ist der Vorsitzende des BVG. „Das Management wollte im Gremium anfangs nichts von Mitbestimmung wissen. Sie wollten uns mit unverbindlichen Instrumenten ködern, die sie wohl für modern halten: irgendwelche Feedback-Prozesse und Online-Votings zum Beispiel, anstatt eines normalen Betriebsrats. Die Arbeitgeberseite sah Mitbestimmung einfach nicht vor“, erzählt er.

Start-ups und Mitbestimmung – das ist eine schwierige Beziehung. Der Organisationsgrad der Gewerkschaften ist zumindest bei den Lieferdiensten noch gering. Für die grenzüberschreitenden Online-Plattformen steht die deutsche Mitbestimmung nicht gerade auf der Prioritätenliste. Die Gründer von Zalando, Delivery Hero oder Flixbus haben vorher meist als Berater gearbeitet und orientieren sich an der amerikanischen Start-up-Welt. Mitbestimmung gilt darin als bürokratisch und überflüssig, weil die Hierarchien flach erscheinen und der Arbeitnehmer angeblich bei Problemen mal schnell zum Chef gehen kann, der im gleichen Großraumbüro sitzt.

Am Anfang der Verhandlungen boten die Arbeitgeber gar keinen Arbeitnehmer-Sitz, später eine Drittelparität, sagt Christoph Schink, der als zuständiger Referatsleiter für die Gewerkschaft NGG im BVG saß. „Dazu verlangten sie abenteuerliche Bedingungen: Die Aufsichtsratsmitglieder sollten studiert haben und in Vollzeit arbeiten. Das hätte ganz klar eine Diskriminierung von Frauen und weniger qualifizierten Beschäftigten bedeutet“, sagt Schink. Delivery Hero wollte sich dazu nicht äußern.

Die Arbeitnehmervertreter blieben hartnäckig. Zugute kam ihnen ein Beschluss des Landgerichts Berlin, der im März mitten in ihre Verhandlungen platzte: Das Gericht verdonnerte die Delivery Hero AG – noch ist das Unternehmen eine Aktiengesellschaft nach deutschem Recht – dazu, ihren Aufsichtsrat zur Hälfte mit Arbeitnehmervertretern zu besetzen. Der Lieferservice hat allein in Deutschland mehr als 2.000 Mitarbeiter und verstieß damit nach Ansicht des Gerichts gegen das deutsche Mitbestimmungsgesetz, das ab dieser Mitarbeiteranzahl eine paritätische Besetzung vorscheibt.

Den Beschluss haben die Richter mit Blick auf die künftige SE gefasst. Wenn es im besonderen Verhandlungsgremium zu keiner Einigung kommt, greift als Auffanglösung das Mitbestimmungsniveau, das in der AG bestanden hat. Auch, wenn die AG bald verschwindet, hat diese Entscheidung Bedeutung für die Zukunft, so das Gericht.

Ironischerweise hatte der Investor Konrad Erzberger das Verfahren ins Rollen gebracht. Das ist der Mann, der vor einem Jahr vor dem Gericht noch die Mitbestimmung bei TUI aushebeln wollte und verlor. Sein Argument damals: Die deutsche Mitbestimmung diskriminiere nicht-deutsche Arbeitnehmer, die in anderen Ländern arbeiten. Vor dem Landgericht Berlin beklagte der Kleinaktionär nun, dass Delivery Hero gegen das Mitbestimmungsgesetz verstoße, weil Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat ausgesperrt sind. Erzbergers Motive für die Klage sind unklar, aber das Verfahren hat den Arbeitnehmern im Verhandlungsgremium geholfen.

Plötzlich ging es schnell. Keine vier Wochen nach dem Berliner Urteil verkündete das Unternehmen eine Einigung für die kommende SE. Per Pressemitteilung erklärte Finanzvorstand Emmanuel Thomassin: „Die Unternehmenskultur von Delivery Hero ist geprägt von Offenheit, flachen Hierarchien und Mitbestimmung. Wir freuen uns, mit der nun getroffenen Vereinbarung diese Kultur zu stärken.“ In den Verhandlungen der BVG hatte das laut Christoph Schink und Semih Yalcin noch anders geklungen.

Aus Sicht des Unternehmens besteht zwischen dem Machtwort des Berliner Landgerichts und der Einigung im SE-Gremium kein Zusammenhang. „Dass die Einigung mit dem besonderen Verhandlungsgremium wenige Wochen nach dem Beschluss des Landgerichts Berlin zustande kam, ist reiner Zufall“, sagte ein Sprecher. „Die Verhandlungen im Gremium fingen lange vor der Verkündigung des Gerichtsbeschlusses an und endeten schließlich in einer Einigung.“

Für die Arbeitnehmerseite sieht es dagegen so aus, als ob der Gerichtsbeschluss die Arbeit im BVG stark beeinflusst habe. „Nach dem Urteil des Gerichts kippte die Stimmung im Verhandlungsgremium. Auch die arbeitgebernahen Vertreter wollten jetzt Parität“, sagt Christoph Schink von der NGG. Semih Yalcin als Vorsitzendem standen seit dem Beschluss mehr Hebel zur Verfügung. „Ich habe die Druckmittel genutzt, die mir zur Verfügung standen. Ich zögerte ein entscheidendes Meeting hinaus und erklärte, wenn es keine ordentlichen Vorlagen von der Arbeitgeberseite gibt, werde ich nicht laden. Das hat Druck erzeugt, weil es ohne Einigung zu der Auffanglösung gekommen wäre“, sagt Yalcin.

Das hätte für Delivery Hero rechtliche Unsicherheiten bedeutet – und für ein börsennotiertes Unternehmen, das sich als hip und als „große Familie“ darstellt, ist ein öffentlicher Streit mit den Arbeitnehmern zum Start ihrer SE schlecht für das Image.

Der Erfolg für die Mitbestimmung zeigt, wie wichtig bei SE-Gründungen Verhandlungsführer auf der Arbeitnehmerseite sind, die sich mit den Kniffen der deutschen Mitbestimmung und des europäischen Beteiligungsrechts auskennen. Bei jungen Start-ups ist dieses Wissen nicht selbstverständlich. „Viele Mitglieder im Gremium waren nicht sehr erfahren mit Gremienarbeit und Verhandlungen“, sagt Semih Yalcin. Außerdem ist ein BVG bei SE-Gründungen international besetzt – meistens kommt die Mehrheit der Mitglieder aus Ländern, denen die Bedeutung der deutschen Mitbestimmung fremd ist. Im Delivery-Hero-Gremium stammen die Mitglieder aus 13 Ländern; nur sechs kommen aus Deutschland.

In dem kleinen Sechser-Aufsichtsrat ist die NGG nicht vertreten, wie es in der AG der Fall wäre. Semih Yalcin sagt: „Ein Sechser-Aufsichtsrat ist eindeutig zu klein. Delivery Hero glaubt, dadurch effizienter zu sein, aber das Gegenteil ist der Fall. Ein vielfältig besetzter Aufsichtsrat kann besser alle Bereiche abdecken und Risiken besser abschätzen.“

Für Christoph Schink ist das Ergebnis „ein Kompromiss zwischen unterschiedlichen Mitbestimmungskulturen“. Für die Gewerkschaft bieten die Lieferplattformen nebenbei eine strategische Chance, in der kleinteiligen Gastronomie insgesamt Fuß zu fassen: „Wir als NGG können klein“, sagt Schink. „Durch die Fahrer kommen wir in die kleinen Restaurants: Rider, die Mitglied bei uns sind, können Flyer auslegen oder mit dem Personal reden.“ So könnte sich die Idee der Mitbestimmung in der gering organisierten Branche weiter ausbreiten.

Aufmacherfoto: Karsten Schöne

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