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Yasmin Fahimi Jahresbericht Service aktuell

Interview mit Yasmin Fahimi: "Kluge Zukunftsinvestitionen mit Krisenmanagement verbinden"

Yasmin Fahimi spricht über ihr erstes Jahr im Amt, über die nötige Verknüpfung von Krisen- und Zukunftspolitik, über neue Ideen zur Gestaltung der sozial-ökologischen Transformation – und sie erklärt, wann sich die Bundesregierung warm anziehen muss.

Yasmin Fahimi, Sie sind seit Mai 2022 Vorsitzende des DGB, gewählt gut zwei Monate nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. Wie hat der Krieg seitdem Ihre Arbeit als DGB-Vorsitzende geprägt?

Yasmin Fahimi: In den Gewerkschaften mussten wir ähnlich wie die Bundesregierung sofort in den Krisenmodus schalten. Wie sichern wir Arbeitsplätze, wie dämpfen wir die Schockwellen der Energiepreise für Privathaushalte und Unternehmen – wie stabilisieren wir unsere Wirtschaft? Noch gar nicht richtig aus der Pandemie aufgetaucht, waren das sehr drängende Fragen und sie sind es bis heute. Das war auch noch einmal ungleich schwerer als in der Pandemie. Aber wir sind recht erfolgreich gewesen.

Was wäre im Krisenmanagement anders gelaufen ohne die Initiativen der Gewerkschaften?

Yasmin Fahimi: Wir haben sehr klar gemacht, dass es keine Lohn-Preis-Spirale gibt, sondern dass es jetzt im Gegenteil an der Zeit ist, die Reallohnentwicklung zu stabilisieren. Und dass es dafür neben guten Tarifabschlüssen auch flankierende politische Maßnahmen braucht. Wir haben eine ganze Reihe von Verbesserungen bei den Entlastungspaketen erreicht, nicht zuletzt die Sonderzahlungen für Rentner*innen und Studierende.

Wir haben die Energiepreisbremse, die zunächst auf viel Wider stand und Zweifel gestoßen ist, schlussendlich durchgesetzt. Das hat zu einer großen Beruhigung für das Gewerbe, aber auch für die Privathaushalte beigetragen. Und wir haben mit der Bundesregierung eine Inflationsausgleichszahlung vereinbart, mit der wir jetzt in Tarifverhandlungen arbeiten können. Das waren wesentliche und wichtige Stützen. Aber es liegt noch eine ganze Marschroute vor uns.

Was steht da für Sie im Vordergrund?

Yasmin Fahimi: Wir brauchen eine dauerhafte Stabilisierung der Energiepreise – für die Privathaushalte, aber natürlich auch mit Blick auf unseren industriellen Kern. Wir stehen in einem globalen Wettbewerb. Würden die Einschnitte in die Wertschöpfungsketten in Deutschland immer tiefergehen, hätte das einen Dominoeffekt für die gesamte Wirtschaft. Das müssen wir verhindern. Es wird aber auch immer offensichtlicher, dass wir in Deutschland endlich wieder flächendeckende Tariflöhne brauchen.

Denn wir können der gemeinsamen Verantwortung für den Wohlstandserhalt in diesem Land nicht nachkommen, wenn fast die Hälfte der Beschäftigten nicht mehr unter dem Schutz von Tarifverträgen arbeitet. Da muss sich die Politik entscheiden: Wenn sie den Wohlstand in diesem Land auch für die Zukunft sichern will, geht das nicht ohne faire Löhne. Und faire Entlohnung heißt flächendeckende Tarifbindung. Das bleibt deshalb für unsere politische Arbeit in den nächsten Monaten zentral.

Wie gut kann das jetzt gelingen? Der Krieg und seine kurzfristigen wirtschaftlichen und sozialen Folgen haben ja vieles in den Hintergrund gedrängt, auch die notwendige Antwort auf Klimawandel, Digitalisierung und demografische Entwicklung. Verlieren wir so kostbare Zeit – oder lassen sich kurz- und längerfristige Problemlösungen zusammenbringen?

Yasmin Fahimi: Eine Fortschrittspolitik, die kluge Zukunftsinvestitionen mit Krisenmanagement verbindet, ist möglich. Es darf nicht allein um Subventionierung im Krisenmodus gehen, sondern wir müssen neue Verabredungen treffen, die Wirtschaftshilfen und öffentliche Investitionsstrategien verbinden mit Zusagen der Privatwirtschaft zur Sicherung von Standorten, von Reinvestitionen, von guten Arbeitsplätzen, von Tarifbindung und Mitbestimmung.

"Tarifverträge sind nichts anderes als kleine Gesellschaftsverträge"

Wir stehen vor gesellschaftlichen Veränderungen wie der demografischen Entwicklung. Wir haben technischen Wandel wie die Digitalisierung. Wir müssen Wirtschaft und Gesellschaft klimaneutral machen. Das müssen wir alles gleichzeitig bewältigen. Und das geht nicht einzeln und hintereinander, sondern nur durch wirklich neue, verbindliche Verträge auf Gegenseitigkeit. Unsere Tarifverträge sind nichts anderes als solche kleinen Gesellschaftsverträge.

Inwiefern?

Yasmin Fahimi: Tarifverträge binden genau das zusammen, nämlich die Wirtschaftlichkeit der Standorte und die nachhaltige Investition – in die Technik und in die Menschen. Es geht darum, die Beschäftigten für die Arbeit der Zukunft zu qualifizieren, sich aber auch gemeinsam mit ihnen darauf zu verständigen, wie denn in Zukunft der Betrieb aussehen muss, damit er ökonomisch nachhaltig funktioniert. Die Transformation dringt so tief in unser aller Leben ein, dass die Politik das nicht bis ins letzte Detail regeln kann. Mit Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen kommen wir aber tatsächlich bis in die kleinsten Äderchen unserer Gesellschaft, bis zum einzelnen Betrieb und zum einzelnen Arbeitsplatz. Deswegen brauchen wir eine starke Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft. Ich hoffe, dass die Arbeitgeber da endlich mehr Einsicht zeigen. Die Versuchsphase des Neoliberalismus in den vergangenen 20 Jahren hat ja bewiesen, dass das Versprechen, der Markt regele schon alles und eine wachsende Wirtschaft nehme alle mit bei der Wohlstandsentwicklung, nicht gehalten wurde.

Was sagen Sie, wenn Unternehmen beim Thema Weiterbildung auf den Staat zeigen?

Yasmin Fahimi: Es ist viel besser, wenn wir das im Betrieb schaffen, wenn wir also aus gut qualifizierter Arbeit in gut qualifizierte Arbeit weiterbilden und nicht den Umweg gehen über die Arbeitslosigkeit. Das kann vom Staat unterstützt und gefördert werden. Aber wir brauchen auch mehr Anstrengungen der Arbeitgeber. Und wir brauchen eine Mitbestimmung, die bei Personalbemessung, bei Qualifizierung und Personalentwicklung verbindlich mitredet. Das müssen wir weiter ausbauen. Die Frage der Qualifizierung und Weiterbildung ist ja eine absolute Schlüsselfrage für die Bewältigung des gegenwärtigen Fachkräftemangels, wenn auch nicht die einzige.

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Wo würden Sie darüber hinaus ansetzen, um die wachsende Fachkräftelücke zu schließen?

Yasmin Fahimi: Die Erwerbsarbeit von Frauen ist hierzulande offenbar immer noch weniger wert, das muss endlich ein Ende haben. Wir müssen Schluss machen mit der nach wie vor ungleichen Bezahlung von Frauen und Männern, mit der gläsernen Decke, an die Frauen bei ihrer Karriere immer noch viel zu oft stoßen, mit steuerlichen Fehlanreizen wie dem Ehegattensplitting, mitungewollter Teilzeit wegen der Sorgearbeit, die immer noch hauptsächlich von Frauen geleistet wird. Damit, da bin ich sicher, ließe sich ein großes Potenzial an weiblichen Fachkräften gewinnen. Das ist das eine.

Das andere ist: Man kann einfache Routinearbeit, aber auch bürokratische Tätigkeiten viel konsequenter durch digitale Systeme erledigen lassen. Dagegen haben wir als Gewerkschaften überhaupt nichts, weil der Fachkräftebedarf so groß ist, dass er uns sogar als weitere Bremse des qualitativen Wachstums ins Kontor schlagen könnte. Überall da, wo Digitalisierung dazu beitragen kann, belastende Arbeit und Routinetätigkeiten zu kompensieren, haben wir ein Interesse daran. Denn das bedeutet, dass dann mehr Platz für Gute Arbeit ist. Natürlich gibt es auch eine Schattenseite der Digitalisierung. Wenn Beschäftigte überwacht werden oder wenn Apps, wie wir das bei Liefer- oder Paketdiensten sehen, so etwas wie eine moderne digitale Akkordarbeit hervorrufen. Das sind die Auswüchse, die wir begrenzen müssen. Und auch hier gilt wieder: Dafür brauchen wir eine starke Mitbestimmung.

Sie haben, was die Gestaltung der sozial-ökologischen Transformation angeht, über Beteiligung und über Qualifizierung gesprochen. Es sind aber auch hohe Investitionen nötig. In den vergangenen Jahren hat der Staat viel Geld ausgegeben, um die Folgen erst der Corona-Pandemie und dann des russischen Angriffs auf die Ukraine abzumildern. Das hat die Zustimmung zu einem aktiveren Handeln des Staats vergrößert, zugleich jedoch die finanziellen Spielräume enger werden lassen. Welche Rolle können da öffentliche Investitionen in der Transformation noch spielen?

Yasmin Fahimi: Der Staat kann nicht der große Ersatzinvestor Deutschlands werden, aber er kann auch künftig Impulse geben. Er sollte das, wie eingangs skizziert, eben nicht mehr in Form unkonditionierter Wirtschaftshilfen tun, sondern Verträge auf Gegenseitigkeit schließen. Das können Klimaschutzverträge sein, das können Verträge zum Ausbau der erneuerbaren Energien sein, in denen Ausbauflächen zugesagt oder Preiskorridore geschaffen werden, die eine stabile Planungsgrundlage schaffen für die Wirtschaft.

Andersherum müssen Subventionen, etwa für die Neuansiedlung von Unternehmen, an Bedingungen geknüpft werden, die den Standort langfristig sichern. Sonst passiert, was wir gerade in Ostdeutschland in den letzten 30 Jahren immer wieder erlebt haben: Neuansiedlungen verschwinden, wenn die Förderung ausgelaufen ist, weil die so eingeheimsten Gewinne nicht am Standort reinvestiert werden. Und weil es keine Mitbestimmung gibt, die das kontrolliert. Deshalb darf es Staatshilfen auch nur für mitbestimmte und tarifgebundene Betriebe geben. Der volkswirtschaftliche Schaden, den die Tarifflucht der Arbeitgeber verursacht, ist enorm.

Können Sie das beziffern?

Yasmin Fahimi: Jedes Jahr gehen durch die Tarifflucht 20 Milliarden Euro an Einkommenssteuern verloren, 30 Milliarden Euro an Sozialversicherungsbeiträgen und 40 Milliarden Euro an Kaufkraft. Und das sind Zahlen, die sich auf 2018 beziehen. Mittlerweile beläuft sich der gesamte volkswirtschaftliche Schaden also wahrscheinlich schon auf 100 Milliarden Euro. Pro Jahr! So können wir in Deutschland nicht weitermachen. Allein eine flächendeckende Wirkung von Tarifverträgen würde uns eine Power geben, dass wir über die Schuldenbremse für den Bundeshaushalt gar nicht mehr zu diskutieren bräuchten.

Ließe sich auch die Energiepreisentwicklung mit solchen Vereinbarungen, wie Sie sie beschreiben, in den Griff bekommen?

Yasmin Fahimi: Beim Energiemarkt- und insbesondere beim Strommarktdesign werden wir sicher-lich noch einen Schritt weitergehen müssen. Im Moment führen die extremen Volatilitäten am Spotmarkt einerseits zu hohen Preisen für Haushalte und Gewerbe, die wir am Ende deckeln, und andererseits zu Übergewinnen der Anbieter, die wir hinterher abzuschöpfen versuchen. Da brauchen wir eine politische Verabredung für ein modernes Strommarktdesign, das anders funktioniert.

"Wir müssen wegkommen von einer Strukturförderpolitik, die sich erst dann um Regionen kümmert, wenn sozusagen schon alles in Schutt und Asche liegt."

Dazu gehört aber auch, die realen Investitionen, die jetzt notwendig sind, über einen längeren Zeitraum abzusichern und so zu einer Preiszusage und Preisstabilität zu kommen, die wettbewerbsfähig ist und Planungssicherheit schafft. Dafür werden wir nicht nur eine nationale, sondern eine europaweite Lösung finden müssen. Und wir werden einen Industriestrompreis einführen müssen, um eine wettbewerbsfähige Industrie für eine klimaneutrale Wirtschaft in Deutschland zu sichern.

Wesentliche Weichen für die Transformation werden auch auf lokaler und regionaler Ebene gestellt. Mit dem „Hub: Transformation gestalten“ und einer neuen Förderlinie will sich die Hans-Böckler-Stiftung hier stärker einbringen. Was erwarten Sie sich davon?

Yasmin Fahimi: Wir brauchen eine Strukturentwicklung in den Regionen – und das heißt auch, betriebsübergreifend zu schauen, welche Potenziale in einer Region liegen, um intelligent darauf aufzusetzen. Der Aufbau einer Bundesbehörde oder einer neuen Universität ist ja nicht überall die passende Lösung. Ein Positivbeispiel ist Cottbus, wo durch den Neubau eines ICE-Werks der Deutschen Bahn technische und Industriearbeitsplätze in einer Region neu entstehen, in der durch den Kohleausstieg genau diese Arbeitskräfte auch vorhanden sind. Das ist eine kluge Entscheidung. Man wird so etwas aber nicht immer bundeszentral auf dem Reißbrett planen können. Deswegen setzen wir uns ein für den Aufbau regionaler Transformationsbeiräte.

Was muss man sich darunter vorstellen?

Yasmin Fahimi: In den Transformationsbeiräten sollen die Sozialpartner mit am Tisch sitzen, aber auch die Bundesagentur für Arbeit oder Wissenschaftler*innen, um gemeinsam regionale Strukturentwicklungsprogramme zu erarbeiten – und das rechtzeitig. Wir müssen wegkommen von einer Strukturförderpolitik, die sich erst dann um Regionen kümmert, wenn sozusagen schon alles in Schutt und Asche liegt. Stattdessen müssen wir zu einer präventiven Investitionsstrategie finden, die auf dem Wissen und Können vor Ort aufbaut und die wesentlichen Akteur*innen zusammenholt.

Eine solche agile Steuerung ist aus meiner Sicht der einzige Weg. Dabei geht es aber nicht nur um Technik und um Geld, sondern auch um die notwendige Revitalisierung sozialer Infrastruktur, um eine funktionsfähige öffentliche Verwaltung, um gute Bildung und Erziehung, um ein gemeinwohlorientiertes Pflege- und Gesundheitswesen. Ohne das wird es nicht gehen, das wird in der Transformationsdebatte leider oft vergessen. Und nicht zuletzt geht es auch darum, zu beweisen, dass unsere demokratische Gesellschaft einen so großen Veränderungsprozess viel effizienter gestalten kann, als das zum Beispiel autokratische Systeme können.

Sie haben an verschiedenen Punkten in unserem Gespräch betont, dass die Mitbestimmung gestärkt werden muss. Die Ampel hat in ihrem Koalitionsvertrag in Aussicht gestellt, zumindest einige Lücken in den Mitbestimmungsgesetzen zuschließen – sowohl bei der betrieblichen Mitbestimmung als auch bei der Unternehmensmitbestimmung. Seitdem hat man aber nicht mehr viel von Reformen gehört. Droht das Thema unter die Räder zu geraten?

Yasmin Fahimi: Die Gefahr ist groß. Die Stärkung der Mitbestimmung wird oftmals missinterpretiert als ein reines Gewerkschaftsthema. Dabei wird übersehen, welche Systemrelevanz Mitbestimmung für ein zukünftiges Wohlstandsmodell hat. In Politik und Arbeitgeberverbänden haben alle schnell auf den Lippen, dass Sozialpartnerschaft eine ganz tolle Idee ist. Aber wenn es darum geht, das auch rechtlich zu untermauern, dann wird die Luft schon sehr viel dünner. Wir müssen uns auf eine harte politische Auseinandersetzung einstellen, werden aber keinen Millimeter preisgeben. Die Bundesregierung muss Farbe bekennen: Will sie uns als wichtigen und wesentlichen Player an ihrer Seite wissen, damit die Transformation gelingt und es einen gerechten Wandel gibt? Oder meint sie auf uns verzichten zu können? Dann muss sie sich aber sehr warm anziehen.

Wenn Sie ein Jahr in die Zukunft denken: Was sind, neben einem Frieden in der Ukraine, die drei wichtigsten politischen Entwicklungen, die bis dahin zumindest in Gang gekommen sein sollten?

Yasmin Fahimi: Dass für die Sozial-, Pflege- und Erziehungsberufe, die gerade die Spitzenplätze beim Fachkräftemangel ausmachen, endlich eine Ausbildungsoffensive gestartet wird – damit es in der Bildungs- und Pflegekrise überhaupt wieder Licht am Ende des Tunnels gibt. Dass die Grundlagen dafür geschaffen werden, dass die Sozialpartner wieder mehr Tarifverträge verhandeln. Und dass es einen funktionierenden europäischen Energiemarkt gibt, der unsere Industriestandorte sichert.

Vielen Dank für das Gespräch!

(Das Interview führten Rainer Jung und Joachim Tornau)

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