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Sozialer urteilen Böckler Impuls

Europäischer Gerichtshof: Sozialer urteilen

Ausgabe 17/2025

Die marktliberale Schlagseite mancher EuGH-Entscheidungen spiegelt ein Grundproblem der EU wider. Helfen könnte zum Beispiel ein Sachwalter der sozialen Dimension.

Markt sticht Soziales: Diesem Motto scheint der Europäische Gerichtshof (EuGH) zu folgen, der in diversen Urteilen etwa das Streikrecht oder die Mitbestimmung zugunsten unternehmerischer Freiheiten eingeschränkt hat. Ob soziale Belange in seiner Rechtsprechung systematisch zu kurz kommen, haben Olaf Deinert, Esra Özen und Philipp Thiel vom Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht der Universität Göttingen gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Andreas Hofmann von der Universität Leiden für die Hans-Böckler-Stiftung untersucht. Das Ergebnis: Während der EuGH regelmäßig individuelle Rechte wie den Diskriminierungsschutz gestärkt hat, ist mit Blick auf das kollektive Arbeitsrecht teilweise eine „Schieflage hinsichtlich der sozialen Dimension“ feststellbar. Das dürfte unter anderem daran liegen, dass kollektive anders als individuelle Rechte kaum im EU-Regelwerk verankert sind. Dies zu ändern, wäre Sache der EU-Gesetzgebung und extrem langwierig. Dazu beitragen, dass der EuGH soziale Belange stärker würdigt, könnten aber auch niedrigschwellige Reformen, beispielsweise arbeitsrechtliche Fachkammern am Gerichtshof oder ein Recht auf Stellungnahmen für die Sozialpartner.

„Die Bedeutung des EU-Rechts für die Arbeitsbedingungen ist über die Jahre immer weiter gewachsen. Die bahnbrechende Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung auf der einen Seite oder das fatale Urteil zur Mitbestimmungsvermeidung durch die Gründung von arbeitnehmerlosen SE in der Rechtssache Olympus sind markante Beispiele dafür“, so HSI-Direktor Ernesto Klengel. Die Analyse von Deinert, Hofmann, Özen und Thiel zeige ein zwiegespaltenes Bild der EuGH-Rechtsprechung – und mache konstruktive Verbesserungsvorschläge. „Die Studie weist somit einen umsetzbaren Weg, um die viel beschworene soziale Dimension im Unionsrecht zur Geltung zu bringen.“

Die Rechtsprechung des EuGH falle uneinheitlich aus, heißt es in der Studie. Zahlreiche Urteile, vor allem im Indi­vidualarbeitsrecht, hätten die Rechte von Beschäftigten gestärkt, zum Beispiel die Freizügigkeit oder den Schutz vor Diskriminierung wegen Geschlecht, Alter, Behinderung oder Religion. Eine statistische Auswertung von 278 arbeitsrechtlichen Fällen lasse keine systematische Benachteiligung der Arbeitnehmerseite erkennen. Insgesamt gebe es „keine Hinweise auf eine marktradikale Agenda des Gerichtshofs“.

„Trotzdem kann dem EuGH auch keine lückenlose Beachtung der kollektiven sozialen Dimension in seiner Rechtsprechung attestiert werden. Immer wieder zeigen Entscheidungen problematische Tendenzen auf, die kollektive Rechte beschneiden oder diese gefährden“, stellt der Jurist Thiel fest. So hätten verschiedene Urteile den Verdacht erweckt, „dass diesen Entscheidungen kein systematisches Verständnis für die Aufgabe und Natur der Arbeitnehmerbeteiligung zugrunde liegt“.

Dass die Unwucht in der Rechtsprechung insbesondere das kollektive Arbeitsrecht betrifft, hängt der Studie zufolge mit dem Konstruktionsprinzip des EU-Rechts zusammen. Die europäischen Verträge seien mit einem starken Fokus auf die Binnenmarktliberalisierung entstanden und hätten den Grundfreiheiten einen hohen Stellenwert eingeräumt. Zwischen diesen Grundfreiheiten, die der EuGH als „Hüter des Unionsrechts“ in seiner Rechtsprechung verteidigt, und kollektiven Rechten bestehe mitunter ein starker Antagonismus. In dieser Hinsicht bleibe der Gerichtshof „in der Rolle als Durchsetzer der europäischen Marktrechte gefangen“.

Theoretisch ließe sich diese Unwucht austarieren, indem Bereichsausnahmen für die Grundfreiheiten festgeschrieben werden, so der Juraprofessor Deinert. Praktisch sei es aber wenig wahrscheinlich, dass Änderungen an den europäischen Verträgen zustande kommen. Auch für Korrekturen an Richtlinien oder Verordnungen müssten zunächst politische Mehrheiten gefunden werden.

Aussichtsreicher erscheine es, den EuGH ohne den steinigen Weg über das Gesetzgebungsverfahren für soziale Rechte zu sensibilisieren. Per Satzungsänderung ließen sich etwa arbeitsrechtliche Fachkammern einrichten. Denkbar wären zudem eine „dezidiert sozialpolitisch orientierte Stellungnahme“ zur Eignung von Kandidatinnen und Kandidaten oder spezialisierte Generalanwältinnen und Generalanwälte, deren Schlussanträge oft großen Einfluss auf die Entscheidungen des EuGH haben. Eine Stärkung des fachlichen Austauschs mit nationalen Gerichten könnte das Verständnis für die jeweiligen arbeitsrechtlichen Traditionen fördern. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände oder die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) könnten ein Recht auf Stellungnahmen in EuGH-Verfahren erhalten, wie es schon jetzt unter anderem für die Mitgliedsstaaten und die EU-Kommission vorgesehen ist. Darüber hinaus gäbe es die Möglichkeit, einen „unabhängigen Sachwalter der sozialen Dimension“ einzuführen, der im Verfahren darauf achtet, dass sozialen Fragen gebührend Rechnung getragen wird.

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Olaf Deinert, Andreas Hofmann, Esra Özen, Philipp Thiel: Die soziale Dimension des Unionsrechts in der Rechtsprechung des EuGH, HSI-Schriftenreihe Band 57, Oktober 2025

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