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Mitbestimmen bei der Softwareauswahl Böckler Impuls

Digitalisierung: Mitbestimmen bei der Softwareauswahl

Ausgabe 02/2024

Am Beispiel eines überdurchschnittlich digitalisierten Krankenhauses ist zu sehen, wie Digitalisierung im Sinne von Beschäftigten, Patientinnen und Patienten gelingen kann.

In Krankenhäusern werden riesige Mengen an Informationen verarbeitet. Welche Pflegeaufgaben sind schon erledigt, welche stehen noch an? Unzählige Geräte erfassen Vitalwerte der Patientinnen und Patienten. Medikationspläne und Krankengeschichten, Schicht- und Raumpläne müssen verwaltet werden; viel Logistik ist nötig, damit die richtige Person zur rechten Zeit auf dem richtigen Operationstisch liegt. Jeder Arbeitsschritt muss dokumentiert werden, damit die Krankenkassen die erbrachten Leistungen vergüten. Das alles geschieht in den meisten Krankenhäusern hierzulande mit einer Vielzahl unterschiedlicher digitaler und analoger Systeme, die miteinander nur bedingt kompatibel sind. Deshalb verfolgt die Gesundheitspolitik das Ziel, die Daten in Krankenhausinformationssystemen (KIS) zusammenzuführen. Aber was bedeutet das für die Beschäftigten? Noch mehr Arbeit? Und totale Überwachung? Das haben der Berliner Soziologieprofessor Philipp Staab und seine Mitarbeitenden Julia Bringmann und Benjamin Henry Petersen anhand einer „umfassenden qualitativen Intensivfallstudie eines überdurchschnittlich digitalisierten Krankenhauses in Deutschland“ untersucht. 

Da es sich um einen kirchlichen Betrieb handelt, werden die Beschäftigten hier nicht durch einen Betriebs- oder Personalrat vertreten, sondern durch eine – mit weniger verbindlichen Rechten ausgestattete – Mitarbeitervertretung. Im untersuchten Fall bezieht das Management diese jedoch bislang stark ein, auf freiwilliger Basis. In Sachen Digitalisierung ist die Vertretung der Beschäftigten von Anfang an dabei. Sie formuliert keine zusätzlichen Bedingungen, nachdem die grundsätzlichen Entscheidungen gefallen sind, sondern entscheidet mit, welche Software angeschafft wird. Neue Systeme werden immer im Konsens eingeführt. In der nächsten Phase werden Regelungen zu Datenschutz und Schulungsaufwand getroffen. Die Nutzung digitaler Systeme zur Leistungskontrolle ist durch eine Dienstvereinbarung kategorisch ausgeschlossen. 

Mit diesem konsensualen Ansatz ist die Klinik, die Staab, Bringmann und Petersen unter die Lupe genommen haben, bereits weiter gekommen als die meisten Krankenhäuser in Deutschland. Hier wird der Gesundheitszustand der Patientinnen und Patienten aus dem Rettungswagen digital direkt an die Notaufnahme übermittelt. Die Vitalwerte werden auf der Intensivstation automatisiert erhoben und es müssen keine Akten mehr aus dem Archiv angefordert oder Handschriften entziffert werden. Fast alles läuft nun über das KIS.

Management und Mitarbeitervertretung haben nach Einschätzung der Forschenden eine „Effizienz-Allianz“ geschlossen. Gut gestaltete Digitalisierung kann, so die Mitarbeitervertretung, in Zeiten des Fachkräftemangels gegen zunehmende Arbeitsverdichtung wirken. Die Handlungsspielräume der Beschäftigten blieben der Studie zufolge durch die Digitalisierung weitgehend unbeeinträchtigt. Die Kontrolle durch Vorgesetzte habe trotz neuer technischer Möglichkeiten nicht zugenommen. Eine Pflegekraft auf der Intensivstation formuliert: „Die Software kontrolliert mich nicht, sie dokumentiert meine Arbeit.“ Offenbar ist allen Beteiligten klar, dass mehr Kontrolle „weder nötig noch zielführend“ ist, schreiben die Wissenschaftlerin und die Wissenschaftler. Eine Konfliktlinie verläuft weniger zwischen Management und Beschäftigten, sondern eher zwischen ihnen und den Softwareanbietern. Letztere müssen dazu gebracht werden, spezifischen Anforderungen, wie dem Informationsaustausch zwischen unterschiedlichen Softwareanwendungen über die Bereitstellung der entsprechenden Schnittstellen, gerecht zu werden und im laufenden Betrieb die nötige Unterstützung zu liefern. 

Das analysierte Fallbeispiel zeigt laut Staab, Bringmann und Petersen vor allem eins: Es besteht eine „Regulierungslücke, die gemeinnützige, privatwirtschaftliche und öffentliche Unternehmen aller Branchen betrifft“. Es fehlt ein gesetzlich verbrieftes Recht, bei der Einführung neuer Software von Anfang an mitzubestimmen. Das sollte im Betriebsverfassungsgesetz verankert werden, denn „das Recht auf Mitentscheidung bei der Softwareauswahl wäre eine für die Gremien notwendige Ressource, damit sie ihre gesetzlich vorgesehene Funktion als Hüter der Qualifizierung und Leistungskontrolle adäquat wahrnehmen können“. Auch die „für beide Betriebsparteien zentrale Frage der Arbeitsbelastung“, etwa in Form von Schulungen, oder Fragen der Einrichtung von Schnittstellen und Supportanforderungen könnten dann rechtzeitig geklärt werden.

Philipp Staab, Julia Bringmann, Benjamin Henry Petersen: Vernetzte Klinik. Neue Spannungen, neue Allianzen, WSI-Mitteilungen 1/2024

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