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Mehr Sozialpolitik wagen Böckler Impuls

Europäische Union: Mehr Sozialpolitik wagen

Ausgabe 19/2023

Die EU muss eine eigenständige Sozialpolitik entwickeln. Sonst ist der europaweite Zusammenhalt in Gefahr.

Frieden, Demokratie, Sicherheit und Wohlstand. Das sind die zentralen Versprechen der EU. Vieles davon hat sie seit ihrer Gründung eingelöst. Die wirtschaftlich schwächeren Mitglieder konnten aufholen, wovon auch die stärkeren profitierten. Die Lebensbedingungen der Menschen haben sich insgesamt verbessert. Doch seit einigen Jahren funktioniert dieser Mechanismus nicht mehr. Stattdessen hat sich die wirtschaftliche und soziale Spaltung in Europa wieder vertieft, insbesondere zwischen den „alten“ Mitgliedsstaaten. „Der jahrzehntelange wirtschaftliche Konvergenzprozess in Westeuropa ist weitgehend zum Stillstand gekommen“, schreibt Martin Heidenreich von der Universität Oldenburg. Der Sozialwissenschaftler hat Daten zu den Lebens-, Einkommens- und Arbeitsbedingungen in Europa ausgewertet.

In den ersten Jahrzehnten der europäischen Integration konnten die Menschen in allen Teilen der EU davon ausgehen, dass sich ihre soziale und wirtschaftliche Lage verbesserte, auch wenn die Menschen in den weniger entwickelten Regionen hiervon überdurchschnittlich profitierten. Dies galt auch für die Bevölkerung in den 13 Staaten, die in den letzten Erweiterungsrunden 2004, 2007 und 2013 aufgenommen wurden. Die neuen Mitglieder aus Mittel- und Osteuropa kamen von einem niedrigen Niveau und konnten nach dem EU-Beitritt einen Teil ihres Rückstands aufholen. Gleichzeitig haben sich jedoch die Ungleichheiten zwischen den alten Mitgliedsstaaten seit 2007 nicht mehr verringert, sondern eher vergrößert. Insbesondere die südeuropäischen Länder – Portugal, Spanien, Italien und Griechenland – weisen nicht nur eine unterdurchschnittliche Wirtschaftsleistung auf, sondern haben sich relativ zum EU-Durchschnitt sogar verschlechtert. „Dies könnte zu einer dauerhaften Spaltung zwischen dem nord- und westeuropäischen Zentrum und einer südeuropäischen Peripherie führen“, so der Wissenschaftler.

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Dass sich die größten und forschungsstärksten Unternehmen in einem engen Raum vom Großraum Paris und den Benelux-Ländern über Deutschland bis nach Norditalien konzentrieren, ist nicht neu, hat sich aber noch verstärkt. Hier haben sich einerseits urbane Regionen als Knotenpunkte globaler Informations-, Handels- und Finanzströme herausgebildet, andererseits sind die industriellen Kernregionen in Westeuropa nach wie vor von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus haben sich einige Regionen in Mittel- und Osteuropa als Produktions- und Zulieferstandorte vor allem westeuropäischer Unternehmen, zum Beispiel der Automobilindustrie, etabliert und sind damit in internationale Wertschöpfungsketten eingebunden. In südeuropäischen Regionen hingegen sind die Wachstumschancen durch die Spezialisierung auf Landwirtschaft, einfache Industrien und personenbezogene Dienstleistungen geringer.

Die wirtschaftlichen Ungleichheiten und die Einkommensunterschiede wirken sich auf die soziale Lage der europäischen Bevölkerung aus – etwa bei der Versorgung mit wichtigen Gütern und Dienstleistungen, beim Zugang zu guter Arbeit, zu Aus- und Weiterbildung oder bei der Verfügbarkeit von bezahlbarem und angemessenem Wohnraum. Auf der Verliererseite stehen Menschen mit niedriger Bildung und einfachen Tätigkeiten vorwiegend in Süd- und Osteuropa. Aber auch im Westen und Norden sind Menschen von gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffen, insbesondere Migrantinnen und Migranten aus Drittstaaten, Arbeitslose oder Alleinerziehende.

Der Erfolg der europäischen Integration hängt davon ab, ob es gelingt, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Wenn jedoch die Ungleichheiten in einigen Bereichen der EU zunehmen, wie es in jüngster Zeit geschehen ist, gerät der Zusammenhalt in Gefahr. In dieser Situation kann sich die EU nicht mehr darauf verlassen, dass die Unterschiede von selbst verschwinden. Sie muss eine eigenständige und aktive Politik zur Stärkung eines sozialen Europas entwickeln. Immerhin hat Brüssel erste Schritte in diese Richtung unternommen – eine im November 2022 verabschiedete Richtlinie soll etwa für höhere Mindestlöhne sorgen und die nationalen Tarifvertragssysteme stärken. Insgesamt, so der Forscher, seien die Anstrengungen aber noch überschaubar: „Eine europäische Sozialpolitik steckt trotz ihrer jahrzehntelangen Geschichte noch in den Kinderschuhen, da die Gewährleistung des sozialen Zusammenhalts in Europa nach wie vor als nationalstaatliche Aufgabe betrachtet wird.“

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