Quelle: HBS
Böckler ImpulsMitbestimmung: Klimawechsel in der IT-Branche
In der Boomphase der New Economy empfanden etliche Beschäftigte in der IT-Industrie 60-Stunden-Wochen als Kick in einer aufregenden Welt. Mitbestimmung per Betriebsrat galt als Relikt, das nicht in eine selbstbestimmte Firmenkultur mit offenen Türen und flachen Hierarchien passe. Doch seit der Branchenkrise beginnen die Beschäftigten umzudenken, zeigt eine Studie des ISF München.
Was Arbeitnehmer in tarifgebundenen Branchen nie zu fordern gewagt hätten, fiel den IT-Beschäftigten geradezu in den Schoß. Und stellte sich das Management quer, kehrte man den "Arbeitskraftunternehmer" heraus, drohte dezent mit den vielen Headhunteranrufen, die man in der letzten Woche erhalten hatte, und setzte so seine Forderungen durch - oder trat einen besser dotierten Job in einem anderen Unternehmen an. In der Boomphase bis zum Jahre 2000 schienen die Unternehmen der IT-Industrie in der öffentlichen Debatte vielfach als wegweisend für eine neue Kultur der Selbstbestimmung, die die herkömmliche kollektive Interessenvertretung überflüssig gemacht habe. Nach der New-Economy-Krise ist es um diese These stiller geworden.
Die Sozialwissenschaftler vom ISF München haben in den Jahren 2003 und 2004 in sechs ausgewählten IT-Firmen Beschäftigte sowie Vertreter von Management und betrieblichen Interessenvertretungen befragt. Sie konstatieren eine "Zeitenwende" in der Branche, die mit dem Ende des IT-Booms eingesetzt hat und noch in vollem Gange ist. Das hat Auswirkungen auf die Art und Weise, wie vor allem die "Kerngruppen" der Beschäftigten, die Software-Entwickler und Berater, ihre Interessen verstehen und artikulieren.
=> Wunsch nach Selbstbestimmung bleibt
Die Forscher zeigen: Mittlerweile stehen für IT-Beschäftigte individuelle und kollektive Interessenwahrnehmung weniger im Widerspruch zueinander. Zwar legen sie unverändert großen Wert auf Selbstbestimmung und gemeinschaftliche Selbstverwirklichung in der Arbeit. Aber gerade hier erleben sich die Beschäftigten inzwischen häufig im Konflikt mit der Shareholder-Value-Orientierung und den Kostensenkungsstrategien der Unternehmen. Wenn selbst wirtschaftlich florierende Unternehmen mit Verweis auf den Börsenwert den Beschäftigten einen Sparkurs verordneten - "dann wurde dies von vielen Beschäftigten als Signal verstanden, dass Selbstverwirklichung, Emanzipation und Gemeinschaft zwar in Hochglanzbroschüren organisationskultureller Erbauungsliteratur ihren Platz haben, die Arbeitsrealität aber nach anderen Prinzipien verläuft," so das ISF.
Dazu kommt ein gestiegenes Interesse, nicht das gesamte Leben von der Arbeit dominieren zu lassen. Viele Aspekte tragen zu diesem Lernprozess bei, sagen die Wissenschaftler: "Die Beschäftigten berichten von gesundheitlichen Problemen, die sie zu einer Umkehr bewegt haben." Andere fürchten um ihre sozialen Kontakte außerhalb der Arbeitswelt. Die Branche und ihre Beschäftigten sind offensichtlich gereift, "sie haben jetzt Familie und spüren die Grenzen der körperlichen Belastbarkeit intensiver."
=> Neue Einstellung zum Unternehmen
Folge: Vor allem die hoch qualifizierten Beschäftigten verändern ihre Einstellung zum Unternehmen. Sie orientieren sich stärker als früher am Leitbild des Arbeitnehmers - und suchen nach neuen Möglichkeiten, wie sie ihre Interessen ausdrücken und wahren können. Diese Verschiebungen finden jedoch bisher weitgehend in den Köpfen der Beschäftigten statt, so die ISF-Forscher. Sie finden bisher nur wenig Niederschlag in der Unternehmensöffentlichkeit. "Nach außen stehen weiter die Fassaden der alten, auf Selbstverwirklichung und Gemeinschaft bauenden Sozialordnung; im Inneren aber, und häufig ohne dass die Beschäftigten untereinander davon wissen, hat sich der alte Konsens überlebt."
Auch das Management nimmt Abschied vom Leitbild der Gemeinschaft und spricht nun deutlich offener von unterschiedlichen Interessen. Heute droht die Geschäftsführung mit "Offshoring", der massenhaften Verlagerung von Arbeitsplätzen in die Niedriglohnregionen Indien und Osteuropa. Die Chefs scheinen zu hoffen, so das ISF, "dass sich auf diese Weise die Bereitschaft zu Zugeständnissen auf Seiten der Beschäftigten erhöhen lässt und die Ökonomie so in neuer Qualität Einzug in den Kuschelecken der Softwareentwickler hält." Sie kündigen damit den geltenden Konsens, wonach sie die Shareholder-Value-Rhetorik in der Öffentlichkeit bedienen können, wenn sie die gelebte Kultur in den Betrieben nicht antasten.
Erlebbare Interessengegensätze bestimmen die sozialen Beziehungen in den IT-Unternehmen immer mehr. Dieser Prozess dürfte tendenziell "eher zu einer Neubelebung der Mitbestimmung führen", resümieren die ISF-Forscher.
Andreas Boes, Katrin Trinks: "Theoretisch bin ich frei!"-Interessenhandeln und Mitbestimmung in der IT-Industrie, edition sigma 2006, Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Mehr Infos zum Buch und Forschungsprojekt.