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Engagierte Zuwanderer Böckler Impuls

Mitbestimmung: Engagierte Zuwanderer

Ausgabe 17/2021

Beschäftigte mit Migrationshintergrund sind überdurchschnittlich häufig als Betriebsräte oder Vertrauensleute aktiv. Ein Grund: Viele haben früh gelernt, für sich und andere zu kämpfen.

Dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, hat auch die Gewerkschaften geprägt: Einer Studie aus dem Jahr 2017 zufolge haben rund 22 Prozent der IG-Metall-Mitglieder einen Migrationshintergrund, also ähnlich viele wie in der Gesamtbevölkerung. Ein weiterer Befund: Überdurchschnittlich oft engagieren sich diese Mitglieder in der betrieblichen Mitbestimmung. Warum das so ist, hat Serhat Karakayalı von der Universität Lüneburg gemeinsam mit Celia ­Bouali untersucht. Die Soziologen erklären die „spezifische migrantische Kampfbereitschaft“ zum einen mit besonders widrigen Arbeitsbedingungen. Zum anderen hätten viele Migranten schon in jungen Jahren Verantwortung übernehmen und sich gegen Ablehnung und Ausgrenzung behaupten müssen.

Für ihre Untersuchung haben Karakayalı und Bouali in zwei Metall-Betrieben – einem Großkonzern der Automobilbranche und einem Zulieferer – Interviews mit 25 Vertrauensleuten, Betriebsräten, sowie Jugend- und Auszubildendenvertretern mit Migrationshintergrund geführt. Zusätzlich wurden Gewerkschaftsmitarbeiterinnen, Seminarleiter der IG Metall und eine Personalleiterin interviewt.

Ausgangspunkt für das Engagement als Vertrauensperson oder im Betriebsrat ist der Auswertung zufolge oft ein Konflikt – mit dem Management, um Abläufe im Produktionsprozess, mit Kollegen oder Vorgesetzten. Bisweilen ergreifen betroffene Beschäftigte selbst die Initiative, häufiger werden sie aus der Belegschaft oder von bereits aktiven Kollegen zur Kandidatur aufgefordert. Die so Nominierten hatten oft vorher schon eine „informelle Vertretungsrolle“ inne, haben bei Konflikten geschlichtet oder gemeinsame Beschwerden bei Vorgesetzten vorgetragen. Insbesondere unter Migranten der ersten Generation sind auch sprachliche Fähigkeiten maßgeblich: In Frage kommen vor allem Kollegen mit guten Deutschkenntnissen, die als Dolmetscher fungieren können.

Wenn die Entscheidung gefallen ist, aktiv zu werden, spielen laut der Studie gewerkschaftliche Seminare für die Betriebsrats- und Vertrauenskörperarbeit eine zentrale Rolle. Die positiven Bildungserfahrungen, die viele Teilnehmer dort machen, würden regelmäßig als „Empowerment“ erlebt und hätten in manchen Fällen auch zu beruflicher Weiterqualifizierung ermutigt.

Dass es so gut gelingt, Beschäftigte mit Migrationshintergrund für die betriebliche Mitbestimmung zu gewinnen, führen die Forscher zum einen auf die „ethnische Segmentierung am Arbeitsmarkt“ zurück. Menschen, die selbst oder deren Eltern zugewandert sind, arbeiten vergleichsweise häufig auf Stellen für Geringqualifizierte, in befristeten Jobs und in Unternehmen, die zu den „schwächeren Gliedern in der Wertschöpfungskette“ gehören. Das heißt: Sie sind stärker wirtschaftlichen Unsicherheiten in Form von Restrukturierungen und Stellenabbau ausgesetzt und damit häufig in Konflikte verwickelt, die einen Anlass geben, aktiv zu werden.

Auch das familiäre Umfeld, in dem viele Migranten aufgewachsen sind, halten Karakayalı und Bouali für einen relevanten Faktor. In der Gastarbeiter-Generation mussten oft beide Eltern im Schichtdienst arbeiten, die Kinder waren gezwungen, früh selbstständig zu werden und auch Verantwortung für Geschwister zu tragen. Zugleich mussten viele mit Armuts-, Ausgrenzungs- und Abwertungserfahrungen zurechtkommen und dabei lernen, sich selbst zu behaupten. All das trage zu einer gewissen „Kampfbereitschaft“ bei, erklären die Soziologen. Dass viele Menschen mit Migrationshintergrund familiäre Bindungen als brüchig und unzuverlässig erlebt haben, mache die Gewerkschaft zudem als eine Art Ersatzfamilie attraktiv.

Diese Verbundenheit hat auch historische Wurzeln: Die Strukturen der Gewerkschaft und der Mitbestimmung seien lange Zeit die einzigen Orte gewesen, in denen Migranten die Chance auf demokratische Teilhabe besaßen, heißt es in der Studie. Nachdem die Interessen der sogenannten Gastarbeiter zunächst wenig beachtet worden waren und es infolgedessen teilweise zu wilden Streiks gekommen war, hätten sich die Gewerkschaften in den 1970er-Jahren verstärkt um ihre Integration bemüht und für eine Verbesserung ihrer rechtlichen und sozialen Situation eingesetzt.

Karakayalı und Bouali empfehlen, migrantisches Engagement nicht für einen Selbstläufer zu halten, sondern durch geeignete Maßnahmen zu sichern. Als Beispiele nennen sie Mentoring-Programme und Netzwerke für Migranten. Zudem gelte es, die Geschichte migrantischen Engagements durch Veranstaltungen, Ausstellungen und Publikationen sichtbar zu machen. Gegen rassistische Debatten und deren Wortführer sowie gegen die strukturelle Benachteiligung von Migranten in der Arbeitswelt sollten Gewerkschaften noch lauter und deutlicher Stellung beziehen, als sie es ohnehin bereits tun.

Serhat Karakayalı, Celia Bouali: Migrantische Aktive in der betrieblichen Mitbestimmung, Working Paper der HBS-Forschungsförderung Nr. 228, September 2021

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