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Die Wirtschaft wächst, der Wohlstand nicht Böckler Impuls

Nachhaltigkeit: Die Wirtschaft wächst, der Wohlstand nicht

Ausgabe 03/2023

Ein breiter gefächerter Indikator wie der Nationale Wohlfahrtsindex umschreibt die Wohlstandsentwicklung besser als das Bruttoinlandsprodukt. 2021 fiel demnach schlechter aus als das Jahr zuvor.

Wirtschaftswachstum und dadurch ermöglichter Konsum sind wichtige Faktoren für die gesellschaftliche Entwicklung. Die Verteilung der Einkommen, die Wohlfahrtseffekte unbezahlter Arbeit, das Ausmaß der Umweltzerstörung und andere Aspekte von Lebensqualität sind es aber ebenfalls. Das berücksichtigt der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI). Der NWI, jährlich berechnet im Auftrag des IMK, enthält 21 Einzelkomponenten. Sie alle zusammen ergeben eine Kennzahl, die – im Vergleich mit den Werten der Vorjahre – erkennen lässt, in welche Richtung sich Volkswirtschaft und Gesellschaft entwickelt haben. Das Wohlfahrtsniveau sinkt, wenn der Konsum zurückgeht, die Luftverschmutzung und die ausgestoßenen Treibhausgase und der Verbrauch nicht-erneuerbarer Ressourcen zunehmen oder die Einkommensverteilung ungleicher wird. Gelingt es dagegen, gleichzeitig umweltfreundlich und rentabel zu produzieren, bei hohem Beschäftigungsstand und guten Löhnen, und kann die Bevölkerung eine möglichst intakte Umwelt genießen – kurz: geht es voran mit der sozial-ökologischen Transformation – so steigt der NWI. 

Im zuletzt ausgewerteten Jahr 2021 ist der NWI um 1,8 Indexpunkte auf 94,6 gefallen. Das geht aus einer aktuellen Studie von Benjamin Held, Dorothee Rodenhäuser und Hans Diefenbacher vom Institut für Interdisziplinäre Forschung in Heidelberg hervor. Was bedeutet 94,6? Der NWI ist so normiert, dass das Wohlfahrtsniveau des Jahres 2000 einem Indexwert von 100 entspricht. Seither hat die Wohlfahrt in Deutschland also abgenommen. Auch gegenüber 2020, als der NWI noch einen Wert von 96,4 erreichte, ist er gesunken. Das erklären die Forschenden vor allem mit der Flutkatastrophe an Ahr und Erft im Sommer 2021. Die Schäden von über 30 Milliarden Euro gehen negativ in den NWI ein und stellen „die größte wohlfahrtsmindernde Änderung“ im Jahr 2021 dar. Außerdem negativ wirkten die wieder ansteigenden Emissionen von Treibhausgasen, ein erhöhter Verbrauch fossiler Energieträger sowie die Tatsache, dass sich eine leichte Erhöhung der Einkommensungleichheit abzuzeichnen scheint.

Damit unterscheidet sich die Entwicklung des NWI deutlich von der des Bruttoinlandsprodukts (BIP), das im Jahr 2021 um 2,6 Prozent stieg. Hier werden die Schwächen des BIP als Wohlfahrtsindikator sichtbar: Die Flutkatastrophe schlägt sich darin nämlich nicht umfassend nieder – oder möglicherweise sogar mit umgekehrten Vorzeichen. Denn sollten die Ausgaben für den Wiederaufbau die Produktionsausfälle durch die Zerstörungen überstiegen haben, wäre ein Teil des ausgewiesenen Wirtschaftswachstums gerade eine Folge der Katastrophe.

Auch bei der Betrachtung der längerfristigen Entwicklung zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen BIP und NWI: Beim BIP drängt sich der Eindruck eines beinahe kontinuierlichen Fortschritts seit der Wiedervereinigung auf, der nur durch Finanz- und Coronakrise unterbrochen wurde, so Held, Rodenhäuser und Diefenbacher. Der NWI, der sich rückwirkend für die Jahre bis 1991 berechnen lässt, hat sich ganz anders entwickelt: Auf eine deutliche Wohlstandsteigerung in den 1990er-Jahren folgt eine 20-jährige Hängepartie; erst im Jahr 2019 erreicht er wieder knapp das Niveau der Jahrtausendwende. Verantwortlich für die lange Phase ohne Fortschritt waren vor allem höhere Ungleichheit und Umweltbelastung. Das BIP, das diese Faktoren nicht berücksichtigt, nahm hingegen im gleichen Zeitraum um fast die Hälfte zu.

Der NWI zeichnet damit ein facettenreicheres Bild der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung, als es das BIP tut. Allerdings ist auch der NWI eine ökonomische Kennzahl, die nur Phänomene erfasst, die sich in Euro ausdrücken lassen. So wird zum Beispiel jede ausgestoßene Tonne CO₂ mit einem „jahresspezifischen Schadenskostensatz“ eingerechnet. Aber nicht alles lässt sich in „monetäre Wohlfahrtsmaße“ fassen. So weisen Held, Rodenhäuser und Diefenbacher ausdrücklich darauf hin, „dass der NWI nur einen Teilbereich der gesellschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie abzubilden vermag“. Gesundheitliches Wohlbefinden – im Gegensatz zu eindeutig messbaren Gesundheitsausgaben –, subjektive Zufriedenheit, soziale Kontakte: Zur Erfassung solcher Faktoren bedarf es anderer Kennzahlen und Indikatoren.

Benjamin Held, Dorothee Rodenhäuser, Hans Diefenbacher: NWI 2022 – Corona-Pandemie und Flutkatastrophe führen zu sinkender Wohlfahrt, IMK Study Nr. 85

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