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HBS Böckler Impuls

Prekäre Beschäftigung: Auf Kosten der Sozialversicherung

Ausgabe 13/2010

Der Gesetzgeber hat während des vergangenen Jahrzehnts den Arbeitsmarkt dereguliert, um mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Damit höhlt er jedoch die sozialen Sicherungssysteme aus.

Ein Großteil der Arbeitsmarktreformen des vergangenen Jahrzehnts hatte eine entscheidende Nebenwirkung - sei es die Einführung von Minijobs oder die Erleichterung von Leiharbeit: Immer mehr Beschäftigte können von ihrer Arbeit nicht leben, benötigen also staatliche Hilfen. Auch die Rente wird in Zukunft für viele nicht mehr reichen - weil sie im Laufe ihres Berufslebens nicht genug in die Rentenkasse einzahlen können. Das Sozialversicherungssystem stellt jedoch auf Arbeitsverhältnisse ab, die ein auskömmliches Einkommen und eine ausreichende Rente ermöglichen. Versuche, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, müssen sich in diesen Rechtsrahmen einfügen, sonst drohen der Gesellschaft schwere Schäden. Zu diesem Ergebnis kommt Raimund Waltermann in einem Gutachten, das er kommende Woche auf dem Deutschen Juristentag vorstellt. Der Jura-Professor an der Universität Bonn hat unter arbeits- und sozialrechtlicher Perspektive die Reformen am Arbeitsmarkt untersucht.

Besonders die "Agenda 2010" der rot-grünen Bundesregierung förderte nach der Analyse Waltermanns einen wachsenden Niedriglohnsektor, breit gefächerte geringfügige Beschäftigung, mehr Leiharbeit und Solo-Selbstständigkeit. Die Löhne atypisch Beschäftigter - speziell in geringfügiger Beschäftigung und in der Leiharbeit - liegen im Schnitt deutlich unter den Entgelten eines so genannten Normalarbeitsverhältnisses, belegen Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Fast die Hälfte bezieht demnach Bruttolöhne unterhalb der Niedriglohngrenze - mit zunehmender Tendenz.

Auf diesen Feldern sieht der Jurist die größten Probleme:

Minijobs. Die beschäftigungspolitischen Ziele - Menschen in Arbeit bringen, die sonst keine hätten - werden nur selten erreicht. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen: Minijobs bauen meist keine Brücke in Richtung Vollzeitbeschäftigung. Umso schwerer wiegen die erheblichen Nachteile, mit denen der Boom der Mini-Beschäftigung erkauft wurde, argumentiert der Jura-Professor: Mit geringfügig entlohnter Beschäftigung ist eine die Existenz sichernde Altersvorsorge nicht möglich. Arbeitgeber und Arbeitnehmer einigen sich bei Vertragsabschluss auf gerade das Gehalt, das eine Privilegierung bei den Sozialabgaben ermöglicht - der Arbeitnehmer zahlt nichts, der Arbeitgeber nur einen Pauschalbetrag. Eventuell wird das Entgelt dann noch mit steuerfinanzierten Transfers aufgestockt. Der Verlust, so Waltermann, "wird an die Sozialversicherung und an die Steuerzahler weiter geschoben".

Leiharbeit. Die Löhne für Leiharbeit liegen zum Teil weit unter denen vergleichbarer Normalarbeitsverhältnisse. Einzelne Gewerkschaften seien zum Abschluss von Tarifverträgen bereit, die erheblich unter denen der Entleihbetriebe liegen, so Waltermann. Daneben berge eine zunehmende Arbeitnehmerüberlassung durch konzerneigene Verleihfirmen die Gefahr der Verdrängung regulärer Arbeitsverhältnisse.

Niedriglöhne. Auch viele Normalarbeitsverhältnisse sichern inzwischen nicht mehr die Existenz. Der Jurist spricht sich deshalb für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn aus, der flächendeckend eine Untergrenze bildet. Denn damit ließe sich dem Umstand entgegenwirken, dass die Vertragsparteien die Transferleistung mit Auswirkung auf den Bruttolohn bei Vertragsschluss gleich mit einkalkulieren - implizit ein Kombilohnmodell. Mit der steuerfinanzierten Aufstockung in dem von arbeitsrechtlichen Einschränkungen befreiten Niedriglohnbereich verstärke der Gesetzgeber auch die Erosion der versicherungspflichtigen Beschäftigung, so Waltermann.

Neue Selbstständigkeit. Solo-Selbstständige sollten kurzfristig in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden, empfiehlt der Jura-Professor. Und zwar mindestens so lange, bis die Versicherten Rentenanwartschaften oberhalb des Niveaus der Grundsicherung erlangt haben. Nur Selbstständigkeit, die sich für die Selbstständigen rechnet, bleibe am Ende ohne nachteilige Folgen auch für die Gesellschaft.

Das heutige Privat- und Sozialrecht setzen auf die Leistungskraft der Erwerbstätigen, nicht auf den Versorgungsstaat, fasst Waltermann seine Analyse zusammen. Dem liefen die arbeits- und sozialrechtlichen Reformen der vergangenen Dekade zuwider: Zwar könne es dem Einzelnen durchaus helfen, überhaupt einen Job zu finden - auch wenn dieser schlecht bezahlt ist. "Als Modell wäre eine solche Lösung jedoch nicht geeignet, weil arbeitslose Armut durch arbeitende Armut (‚working poor') ersetzt würde." Dass Arbeit einen auskömmlichen Ertrag hat und in vernünftig abgesicherten Verhältnissen erfolgt, sei in Demokratien unerlässlich.

  • Zwischen 1998 und 2008 ist die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt zwar um 6,5 Prozent gestiegen. Besonders stark wuchs allerdings die atypische Beschäftigung – um 46,2 Prozent. Die Zahl der Normalarbeitsverhältnisse ging sogar um 3 Prozent zurück. Zur Grafik

Raimund Waltermann: Abschied vom Normalarbeitsverhältnis? (pdf), in: Neue Juristische Wochenschrift, Beilage zu Heft 22/2010

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