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HBS Böckler Impuls

Sozialstaat: Alt gegen Jung - die falsche Gerechtigkeitsdebatte

Ausgabe 08/2008

Bevorzugt der Sozialstaat alte Menschen und benachteiligt er junge? Forscher des WZB analysieren das Zusammenleben der Generationen im Sozialstaat und in den Familien. Dabei zeigt sich: Die ältere Generationen bekommt zwar mehr ausgezahlt. Aber das eigentliche Gerechtigkeitsproblem ist die ungleiche Chancenverteilung innerhalb der Altersklassen.

Menschen über 65 Jahren bekommen höhere Beträge vom Staat und den Sozialkassen überwiesen als Familien mit Kindern. Hat der deutsche Sozialstaat also eine Schlagseite zugunsten der Älteren? Forscher des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) haben im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung das Zusammenleben von Alt und Jung untersucht. Sie warnen davor, das Thema Generationengerechtigkeit anhand von Rentenhöhen abzuhandeln. Denn tatsächlich tauschen sich Alt und Jung auf vielerlei Wegen aus - nicht nur im Sozialstaat und via Rentenversicherung, sondern auch innerhalb der Familien. Neben Transfers spielen Geschenke, unentgeltliche Hilfe, Pflege und Betreuung eine große Rolle in den Beziehungen der Generationen. Öffentliche Ausgaben gegeneinander aufzurechnen, greift zu kurz. Kaum  eine Leistung lässt sich nur einer Gruppe zuordnen, das macht die umfassende Studie von Agnes Blome, Wolfgang Keck und Jens Alber deutlich. So kommt die Pflegeversicherung zwar im ersten Schritt meist älteren, bedürftigen Menschen zugute, aber zugleich profitieren auch die Kinder, weil sie von der Pflege-Aufgabe entbunden werden. Oder: Erst die Rente ermöglicht es Großeltern, ihre Enkel zu unterstützen und nicht wie früher von der Hilfe der Kinder abhängig zu sein.

Das viel beschworene Szenario eines drohenden Generationenkonflikts steht im Gegensatz zu den sozialpolitischen Trends der vergangenen Jahre. Die Experten des WZB haben analysiert, wie sich in Deutschland, Schweden, Frankreich und Italien der Wohlfahrtsstaat von 1990 bis 2005 wandelte. Überall vergrößerte sich  der Anteil der Senioren an der Bevölkerung. Träfen die These vom Eigennutz der Generationen zu, müssten die Alten ihren Einfluss dazu eingesetzt haben, mehr vom Sozialbudget zu bekommen. Doch das Gegenteil ist der Fall: In drei von vier Ländern verschoben sich die Gewichte zugunsten der jüngeren Generationen. Die Ausnahme bildet Schweden, aber dort war eine weit reichende Familienpolitik bereits vor 1990 etabliert. In der Bundesrepublik begrenzte der Staat die gesetzliche Rente und privatisierte teilweise die Altersvorsorge, während er zugleich die  Transfers für Familien erhöhte. Das spricht nicht für das Szenario einer Gerontokratie.

Europas Rentner sind keine privilegierte Gruppe. Die Rente ist in allen vier untersuchten Wohlfahrtsstaaten der größte Ausgabeposten im Sozialbudget. Mit gutem Grund, wie die Experten des WZB erklären: Leistungen an jüngere Menschen ergänzen in der Regel nur das Arbeitseinkommen, Leistungen an ältere müssen es jedoch ersetzen. Bislang ist das in Deutschland und Frankreich einigermaßen gelungen, die Armutsquoten der über 65-Jährigen liegen in beiden Ländern unter derjenigen der gesamten Bevölkerung. Doch das Polster ist dünn: "Die Mehrheit der Rentnerhaushalte ist mit ihren Einkommen in der unteren Hälfte der Einkommensverteilung zu finden." Nun ist wegen Rentenkürzungen und zunehmend prekären Beschäftigungsverhältnissen mit einer Zunahme der Altersarmut zu rechnen. In Deutschland hat eine Serie von Kürzungsgesetzen bereits seit 1977 die Renten gestaucht. "Der kumulative Effekt dieser Reformen sollte nicht unterschätzt werden. Wären heute noch die Bestimmungen vor der Rentenreform von 1977 in Kraft, so betrüge die Standardrente bei 45-jähriger Versicherungszeit 1.624 Euro", so die Studie. Tatsächlich liegt sie derzeit bei 1.176 Euro. Künftige Rentner werden aufgrund der geänderten Rentenanpassungsformel noch weniger erhalten. Italien und Frankreich verfuhren ähnlich wie die Bundesrepublik - Renten wurden begrenzt, während die private Altersvorsorge steuerliche Förderung erhielt. Die Wissenschaftler weisen auf die damit verbundenen Verteilungseffekte hin: "Die neuen Förderungsinstrumente kommen fast ausschließlich den Besserverdienenden zugute." Wer aber nicht sparen kann, muss von einer geschmälerten gesetzlichen Rente leben.

Gute Sozialpolitik nutzt allen Generationen. Was generationengerecht sein soll, hat in der Rentenpolitik vor allem die sozial Schwachen getroffen. Die Berliner Wissenschaftler warnen darum vor "einer schleichenden Entsolidarisierung sozialstaatlicher Leistungen". Die Forscher verstehen Sozialpolitik nicht als ein Nullsummenspiel - was der einen Altersgruppe nutzt, muss nicht auf Kosten der anderen gehen. In ihrer Analyse stellen sie heraus, dass Rentenkürzungen jungen Menschen nicht zwingend helfen und dass kluge Familienpolitik letztlich auch den Rentnern zugute kommt: "Indem sozialstaatliche Politik die Geburt von Kindern fördert und eine Infrastruktur schafft, die Kindern gute Entwicklungschancen bietet, wird das Problem des Ungleichgewichts zwischen der schrumpfenden Zahl der Beitragszahler und der wachsenden Zahl der Leistungsbezieher im Rentensystem zwar nicht völlig entschärft, aber gemildert."

Im vergangenen Jahrzehnt hat sich in der Politik zugunsten der Jüngeren vor allem in Deutschland viel bewegt. "Kein anderes Land hat die Familienleistungen so erhöht wie Deutschland", stellt das WZB fest. Mittlerweile lässt sich die Bundesrepublik Kinderbetreuung und Familientransfers ähnlich viel kosten wie Schweden und Frankreich. Doch das Geld wird nicht effektiv eingesetzt, kritisieren die Forscher: "Was sich in Schweden wie eine Familienpolitik aus einem Guss darstellt, kann in Deutschland eher als Konglomerat voneinander getrennter, teils zueinander in Widerspruch stehender Maßnahmenbündel beschrieben werden." So unterstützen fast 42 Prozent der Ausgaben die Institution Ehe und nicht die Betreuung von Kindern. "Eine die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördernde Familienpolitik, die zum einen versucht, Armutsrisiken von Kindern zu vermeiden und zum andern in der Qualifikation der jungen Generation den Schlüssel für eine nachhaltige Entwicklung sieht, ist in Deutschland bislang allenfalls partiell umgesetzt."

In drei der vier untersuchten Länder leben Kinder häufiger in Armut als der Durchschnitt der Bevölkerung. Das gilt trotz beachtlicher Transfers auch für Deutschland und Frankreich. Besonders auffällig ist der Unterschied zwischen Schweden und Italien: Der italienische Staat unternimmt wenig, um Familien zu unterstützen - entsprechend war dort die Kinderarmut 2001 vier Mal so hoch wie in Schweden. Die Analysen der WZB-Experten zeigen am internationalen Vergleich, was den Unterschied ausmacht: Familien mit Kindern sind dann vor Armut gefeit, wenn beide Partner über ein Erwerbseinkommen verfügen. Die Förderung der Berufstätigkeit von Müttern hat sich als bestes Mittel gegen Kinderarmut erwiesen - und dient natürlich auch der besseren Alterssicherung von Frauen. Die Schweden unterstützen die Berufstätigkeit von Frauen durch eine Kombination von öffentlich finanzierter Betreuung und Arbeitsmarktförderung. Die höhere Frauenerwerbsquote strahlt auf andere Bereiche des Sozialstaates aus, so die Studie: "Hätte Deutschland die schwedische Frauenbeschäftigungsquote von 70,4 Prozent, so würden knapp drei Millionen mehr Beitragszahler die deutschen Sozialversicherungskassen entlasten."

Der Fokus auf das Thema Generationen-Gerechtigkeit verstellt den Blick auf die eigentliche Gerechtigkeitsfrage. "Die Generationenbande sind in Deutschland sehr eng geknüpft", beobachten die Wissenschaftler. Viele Eltern unterstützen ihre erwachsenen Kinder oder Enkel finanziell. Doch die privaten Transfers sind dem WZB zufolge von einem hohen Grad der Ungleichheit zwischen den Familien gekennzeichnet - nur ein Drittel der Älteren kann mehr als 250 Euro im Jahr geben. Weitaus bedeutender sind Erbschaften:  Jeder dritte ältere Deutsche schätzte 2003, mehr als 150.000 Euro vererben zu können. Auf der anderen Seite erwartete jeder sechste, seinen Kindern nichts zu hinterlassen. Die Erbschaften werden die bereits bestehenden Ungleichheiten innerhalb der Altersgruppen verschärfen. Vom  Wohlfahrtsstaat werden die Ungleichheit nur noch schwach korrigiert. Die Sozialpolitik hat zwischen 1990 und 2005 Leistungen enger an Beiträge gebunden und somit Elemente der Umverteilung reduziert. Wer nicht gut verdient und auch nicht dauerhaft sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, steht schlechter da als noch vor einigen Jahren - und seine Kinder in der Regel auch. Die Berliner Wissenschaftler folgern darum: "Wenn soziale Ungleichheit in der Kindheit geschliffen und ihre Perpetuierung im Lebensverlauf vermieden werden soll, dann ist ein größeres Engagement zur Förderung von Kindern einkommensarmer Familien nötig."  

  • Deutschland gibt zwar viel für die Familienpolitik aus, aber die öffentlich finanzierte Kinderbetreuung hinkt immer noch hinterher. Zur Grafik
  • Die Rente ist in allen vier untersuchten Ländern der größte Ausgabenposten im Sozialbudget, denn sie muss ein Arbeitseinkommen nicht bloß ergänzen, sondern komplett ersetzen. Zur Grafik
  • Die Lebensverhältnisse der über 65-Jährigen unterscheiden sich deutlich. Nur einer von drei Älteren lebt gemeinsam mit seinen Kindern, und ebenfalls nur einer hinterlässt dem Nachwuchs ein stattliches Erbe. Zur Grafik

Agnes Blome, Wolfgang Keck, Jens Alber: Generationenbeziehungen im Wohlfahrtsstaat, Wiesbaden 2008

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