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Magazin Mitbestimmung

Interview: "Das ist ein giftiger Cocktail"

Ausgabe 03/2016

US-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz über die Wirtschaftskrise in Europa und den USA, den Aufstieg rechter Populisten und warum die Proteste gegen TTIP noch lauter werden müssen. Das Gespräch führte Eric Bonse

Professor Stiglitz, Sie fordern eine umfassende Reform der Eurozone, um Austerität und Arbeitslosigkeit zu überwinden und wieder auf Wachstumskurs zu kommen. Reicht die gegenwärtige Konjunkturerholung denn nicht aus?

Ich fürchte nein. Wenn der Kurs nicht bald geändert wird, dann steuern wir in der Eurozone auf einen großen Unfall zu. Das kann in Zeitlupe passieren oder auch ganz schnell kommen. Als Ökonom kann ich beim besten Willen nicht sehen, wie sich dieser Unfall mit dem gegenwärtigen Kurs vermeiden ließe. 

Sie denken an Griechenland?

Ja, aber nicht nur. Ich denke auch an die wirtschaftspolitische Agenda der Eurogruppe und ihre Folgen für die Bürger. Bisher haben die EU-Politiker angesichts der Krise in der Eurozone immer nur versucht, Zeit zu gewinnen und die Probleme vor sich herzuschieben. Damit haben sie viele Menschen gegen sich aufgebracht. Dies hat zu einer großen Desillusionierung geführt.

Sie sprechen vom Populismus, der sich in Europa ausbreitet?

Ja. Ich mag dieses Wort nicht, deshalb würde ich es anders ausdrücken: Die Parteien der Mitte verlieren an Zustimmung, und die extremen Parteien werden immer stärker. Mal sind es Separatisten wie in Spanien oder Neonazis wie die „Goldene Morgenröte“ in Griechenland. Dann gibt es die antieuropäischen Nationalisten vom Schlage Le Pen und natürlich die eher linken Bewegungen. Gemeinsam ist allen, dass sie das Zentrum ablehnen.

Erleben wir nicht ganz ähnliche Entwicklungen in den USA?

Ja, wir haben ähnliche Probleme. Man braucht den Euro also gar nicht, um Probleme zu haben (lacht). Auch ohne den Euro hätte Europa Probleme bekommen. Aber der Euro hat es zugespitzt und schlimmer gemacht. Dabei war Europa in mancher Hinsicht besser auf die Krise vorbereitet als Amerika, ich denke an das Bildungssystem. Doch der Euro hat bewirkt, dass ihr heute schlechter dasteht als wir!

Bleiben wir einen Moment bei den USA. Im US-Wahlkampf beobachten wir, dass sich die Mittelklasse vom Establishment abwendet und für ausgesprochen rechte oder linke Politiker stimmt. Woher kommt das? 

Ich mache dafür drei Entwicklungen verantwortlich: Da ist die Wirtschaftskrise, die Reallöhne im Niedriglohnsektor sind heute niedriger als vor 60 Jahren. Das Medianeinkommen im Mittelstand ist niedriger als vor 40 Jahren. Ist Amerika eine wirtschaftliche Erfolgsstory? Die Antwort heißt: Nein. Alle Zuwächse seit der Jahrhundertwende sind an die Top Ten der Bestverdiener gegangen. 90 Prozent der Amerikaner haben im Großen und Ganzen nur Stagnation erlebt. So viel zur Ökonomie. All jene, die sich an die Regeln gehalten und hart gearbeitet haben, sind Loser. Die Banker hingegen, die sie betrogen haben, sind die Gewinner. Deshalb macht sich das Gefühl breit, dass das ganze System verkommen ist. Ungleiche Ergebnisse in einem verkommenen System bedeuten Ärger. 

Welche Entwicklungen machen Sie außerdem verantwortlich?

Die zweite Entwicklung betrifft die Gesundheit und die Lebenserwartung. Bei den weißen amerikanischen Männern ist sie gesunken, die Volksgesundheit ist zurückgegangen. Es ist ein Desaster! Den Menschen geht es schlechter als früher. Last, but not least ist Präsident Obama mit dem Versprechen angetreten, das System zu ändern – und die Leute haben ihm geglaubt. Doch es hat sich nichts geändert. Deshalb haben wir jetzt ein Vertrauensproblem. Das Vertrauen in die Politik war noch nie so niedrig wie heute. Das ist ein giftiger Cocktail. Trotzdem wird den Leuten gesagt, Amerika sei ein großes Land. Wenn ich dann entgegne, dass Amerika vor allem große Ungleichheit schafft, dann regen sich manche auf. Die Globalisierung sollte doch eigentlich dazu führen, dass es allen besser geht.

Vielleicht stimmt etwas mit der Globalisierung nicht?

Ja, das neoliberale Modell ist kaputt, es hat nicht funktioniert. Privatisierung, Deregulierung und die Angebotstheorie sind gescheitert. 

In den USA sinkt doch wenigstens die Arbeitslosigkeit.

Wir haben eine offizielle Arbeitslosenquote von 4,9 Prozent, doch das ist ein Fake. Es ist die Zahl, die wir mit den herkömmlichen Methoden messen können – doch sie sagt nichts über die Natur der Jobs und über die Verhältnisse am Arbeitsmarkt aus.

Sind die wirtschaftlichen Probleme auch der Grund für die wachsende Ablehnung des Freihandels? Das ist ja nicht nur in Europa ein großes Thema – Stichwort TTIP –, sondern beispielsweise auch in der Kampagne von Bernie Sanders.

Nicht nur bei ihm, alle Kandidaten sind dagegen. Es geht hier auch nicht um Freihandel, sondern um Abkommen für die großen Konzerne, nicht für die einfachen Bürger. Wir schreiben Regeln für die Marktwirtschaft, die die Konzerne begünstigen und auf Kosten der Bürger gehen. Deshalb liegen die Kritiker meiner Meinung nach völlig richtig. Sie wenden sich dagegen, die Globalisierung zu verherrlichen und als Superprodukt zu verkaufen. Sie haben verstanden, dass es vielen Menschen mit dieser Art von Globalisierung schlechter geht. Das ist kein Populismus, das ist durch ökonomische Fakten belegt. Sie können heute zwar günstigere Kleidung bei Walmart kaufen. Aber wenn Sie keinen Job haben, machen Sie fünf Prozent Rabatt auch nicht glücklich. 

Haben Sie Verständnis für den Widerstand gegen TTIP in Deutschland und Europa?

Meiner Meinung nach liegen die Gegner von TTIP richtig. Das Abkommen ist zwar noch nicht fertig verhandelt, doch wohin die Reise geht, können wir jetzt schon am Transpazifischen Abkommen TPP sehen. TPP war ein schlechter Deal für die meisten Amerikaner. Vielen wird es dadurch nicht wie versprochen besser, sondern eher schlechter gehen.

Warum? Das müssen Sie erläutern.

Das TPP-Abkommen hat drei Teile: Es geht um Handel, Investitionen und um das geistige Eigentum. TPP soll angeblich den amerikanischen Bürgern und den Unternehmen dienen. Doch mittlerweile wenden sich sogar Firmen wie Blackberry gegen das Abkommen. Auch die Gewerkschaften machen sich Sorgen. Bisher fällt die amerikanische Handelsbilanz mit den Pazifikstaaten noch positiv aus. Wenn TPP, wie angekündigt, zu einer ausgeglichenen Handelsbilanz führen sollte, dann würden wir in den USA Jobs verlieren. Außerdem unterwandert TPP das globale, multilaterale Handelssystem.

In Deutschland hören wir genau das Gegenteil: TTIP soll einen neuen „Goldstandard“ für den Handel schaffen, verspricht Bundeswirtschaftsminister Gabriel.

Für TPP trifft das nicht zu. Als das Abkommen ausgehandelt wurde, hat man uns versprochen, dass der Einfluss Chinas zurückgedrängt würde. Doch ein Großteil der Produkte, die aus dem Pazifikraum stammen, ist made in China. Das ist doch unehrlich! Auch der Schutz des geistigen Eigentums ist eine Mogelpackung. In Wahrheit geht es vor allem um den Schutz der amerikanischen Pharmaindustrie. 

Was heißt das für Deutschland?

Dass es auch ohne geht. Ihr habt doch schon einen guten Schutz des geistigen Eigentums, dafür braucht ihr kein TTIP. Dasselbe gilt für den Investitionsschutz. Das wird die Gesetzgebung im Umweltschutz oder bei der Bankenregulierung erschweren. Zudem werden Investitionen in den Klimaschutz erschwert. 

So wird das in Europa nicht dargestellt. Offiziell geht es darum, Investitionen zu erleichtern.

Das haben sie bei TPP auch erzählt. Doch das ist nur ein Vorwand. In Wahrheit geht es darum, Regulierungen und Besteuerung zu verhindern. Die Unternehmen möchten nicht vor verlorenen Investitionen geschützt werden, sondern vor verlorenen Profiten. 

Trotzdem setzt sich Deutschland besonders für TTIP ein.

Nicht Deutschland ist für TTIP, sondern die deutsche Bundesregierung. Das ist nicht dasselbe! 

Okay, aber ist es nicht logisch, dass der Exportweltmeister für Freihandel eintritt?

Kein Aspekt von TTIP ist wirklich wichtig für Deutschland. Die geplante Harmonisierung technischer Normen ließe sich auch ohne TTIP regeln. Das wird ja auch schon gemacht, etwa im Automobilsektor. Auch beim Handel erwarte ich keine großen Zuwächse. Inzwischen wissen wir doch, dass die Wachstumseffekte von Freihandel klein, die Verteilungswirkungen aber immens sind. 

Zur Person

Joseph E. Stiglitz, Jahrgang 1943, ist Wirtschaftswissenschaftler an der Columbia University in New York und – seit der Verleihung des Nobelpreises 2001 – einer der populärsten Ökonomen der Gegenwart. Meinungsfreudig und engagiert zieht er gegen Austeritätspolitik und entfesselten Kapitalismus ins Feld und nimmt so Einfluss auf die politischen Debatten weltweit. Sein jüngstes Buch, „Reich und Arm“, in dem er die wachsende soziale Kluft in den USA und anderen Ländern anprangert, ist 2015 im Siedler Verlag auf Deutsch erschienen.

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