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Magazin Mitbestimmung

: Ein Bund fürs Leben

Ausgabe 04/2009

PERSONALSTRATEGIE Wer Gewerkschaftssekretär werden will, legt damit meist seinen Lebenslauf bis zur Rente fest. Ein Studium schadet nicht - aber wichtig für die Karriere als Hauptamtlicher bleibt die Feuerprobe im Betrieb.

Von ANDREAS MOLITOR, Journalist in Berlin/Foto: Michael Hughes

Die Personalchefin ist bestens vorbereitet. Gleich wird sie der Belegschaft verkünden, dass die Firma 80 Leute zu viel an Bord hat. Wie ein Hagel tödlicher Pfeile wird das Stakkato ihrer Argumente auf die Mitarbeiter niedergehen: Zu wenig Aufträge, zu hohe Kosten, zu viel Urlaub, zu wenig Arbeitsstunden. Und dann auch noch die völlig überzogenen Lohnforderungen der Gewerkschaft.

Vanessa Aißen erinnert sich noch gut an ihren Auftritt als Personalchefin. Wann kommt man als Gewerkschaftssekretärin schon mal in die Situation, Rausschmeißerin zu sein? Oder besser: zu spielen. Ihre "Blut-, Schweiß- und Tränen"-Rede hielt sie in einem Personalauswahlseminar der IG BCE. Ein kleiner Test, ob sie sich als Bewerberin für ein Trainee-Programm zur Gewerkschaftssekretärin auch in die Gegenseite hineinversetzen kann.

Das ist ihr offenbar gut gelungen. Die 25-jährige Sozialwissenschaftlerin hat die Seminarhürde genommen und ist nun "Sekretärin zur Ausbildung", wie es offiziell heißt. Dass Aißen nach ihrem Diplom diesen Weg einschlagen würde und keinen anderen, stand keinen Moment zur Debatte. "Für mich war völlig klar, dass ich Gewerkschaftssekretärin bei der IG BCE werden möchte." Starke Worte. Aus Menschen wie Vanessa Aißen rekrutieren IG BCE und IG Metall ihre junge Garde. Beide Gewerkschaften pumpen systematisch frisches Blut in die Venen ihrer Organisation.

Ein passgenau konzipiertes Trainee-Programm - 18 Monate bei der IG BCE, 12 Monate bei der IG Metall - bereitet die Sekretäre der Zukunft auf ihre neue Rolle vor. Bei der IG-BCE-Vorläufergewerkschaft IG Chemie-Papier-Keramik gab es erste Programme dieser Art schon in den späten 80ern. Die Metaller setzen seit dem Jahr 2000 auf eine Spezial-Ausbildung ihrer Politischen Sekretäre. 217 Trainees durchliefen bislang das Programm. In diesem Jahr hält die IG Metall 24 Planstellen vor, 2009 werden es 34 sein.

Die Verjüngungsoffensive ist eine konsequente Reaktion auf "altersbedingte Austauschprozesse". Denn viele Sekretäre, die in den 70er Jahren zu den Gewerkschaften kamen, sind derzeit in Altersteilzeit oder stehen kurz davor. In den Verwaltungsstellen der IG Metall etwa wird bis 2013 die Hälfte der Politischen Sekretäre (Durchschnittsalter derzeit 47 Jahre) in Altersteilzeit gehen.

STRESS-STABILITÄT ALS KERNKOMPETENZ_ Damit nicht genug. Durch Globalisierung, flexible Schicht- und Arbeitsmodelle, Leiharbeit, neue Beschäftigtengruppen und die Lockerung einst eherner Tarifbindungen hat sich auch die Rolle des Gewerkschaftssekretärs grundlegend gewandelt. Die alte Übersichtlichkeit ist dahin. "In den 60er Jahren entsprach der Gewerkschaftssekretär dem Typus des klassischen Arbeiterführers mit dem Betriebsverfassungsgesetz unter dem Arm", formuliert IG-BCE-Personalleiter Hans Eisenbeiß bewusst überspitzt. "Der hat den Arbeitern gesagt, wo es langgeht."

Mit einem derart starren Korsett, so Eisenbeiß, sei heute nichts mehr zu gewinnen. "Ein Gewerkschaftssekretär muss Prozesse gestalten und moderieren können, er muss in der Lage sein zu führen - aber ohne bei alledem die alten Tugenden wie das Agitieren zu vernachlässigen." Lässt er sich auf Moderation und Prozessgestaltung ein, oder trommelt er die Belegschaft vorm Werktor zusammen? Er muss die adäquate Ebene der Reaktion finden. Ständig sieht er sich mit einem Bündel unterschiedlichster Erwartungen konfrontiert. Lässt er sich beispielsweise darauf ein, für einen Standort ein neues Arbeitszeitmodell zu schmieden, muss er der Arbeitgeberseite Paroli bieten, aber auch die eigenen Mitglieder unter einen Hut kriegen: den Ingenieur und den Produktionsarbeiter, die alleinerziehende Mutter und den Familienvater.

Gewerkschaftsarbeit ist anspruchsvoller geworden - das zeigen schon die von der IG Metall verlangten "Kernkompetenzen", die für die Arbeit eines Politischen Sekretärs unverzichtbar sind: Konfliktfähigkeit, Stress-Stabilität, die Fähigkeit, in wenig klaren Verhältnissen handeln zu können, Kampagnen- und Organizing-Kompetenz. Die Metallgewerkschaft hat die Mitgliederwerbung als strategisch-politische Aufgabe für die nächsten Jahre in den Mittelpunkt gerückt. Das Trainee-Programm wurde kürzlich daraufhin modernisiert und sieht nun Seminar- und Trainingseinheiten zu den Themen Organizing, Direkte Kommunikation und Betriebserschließung vor. Die Metaller und ihre Kollegen von der IG BCE setzen vor allem auf Praxis. Das IG-Metall-Programm sieht vier Praxiseinsätze von je sechs bis acht Wochen vor; in Verwaltungsstellen, bei der Bezirksleitung, dem Vorstand, außerdem in einem Mitgliedergewinnungsprojekt oder bei einem Betriebsrat. Die BCE-Ausbilder legen Wert darauf, dass ihre Trainees ein Gefühl für eine Multi-Branchen-Gewerkschaft entwickeln, die den Braunkohlenkumpel aus der Lausitz genauso vertritt wie die BASF-Werker in Ludwigshafen und die Arbeiterinnen in der bayerischen Porzellanindustrie.

ASSESSMENT ERSETZT PERSONAL-KLÜNGEL_ Aber was bedeutet das ganz konkret für die Trainees? Sie sind mittendrin, vor Ort. Meist haben sie einen erfahrenen Sekretär an ihrer Seite, aber mitunter müssen sie auch allein klarkommen. Manche betreuen im Praxiseinsatz selbstständig kleine und mittlere Betriebe. "Da gibt es noch Arbeitgeber, die meinen, sie könnten nach Belieben schalten und walten", wundert sich BCE-Trainee Armando Dente. "Mal eine halbe Stunde bezahlte Pause einkassieren, einfach so." Der angehende Sekretär hörte davon und war am nächsten Tag gleich vor Ort auf der Betriebsversammlung, Flagge zeigen. Wie man die örtliche Gewerkschaftsjugend aus der Lethargie holt, wissen die jungen Trainees meist besser als die Altvorderen. Viele waren selbst jahrelang als Jugend- und Auszubildendenvertreter aktiv.

Besonders jetzt in der Krise, wo allerorten Aufträge wegbrechen, Kurzarbeit angeordnet wird und Entlassungen drohen, "rennen wir von Betrieb zu Betrieb", so eine der BCE-Trainees. "Manchmal weißt du nicht, wie du über die Runden kommen sollst." Ein Trainee-Kollege bekam am ersten Tag seines Praxiseinsatzes gleich einen Feuerwehrauftrag: "Da ist der Bezirksleiter am Telefon, der hat gleich 'nen Job für dich, ein Betrieb mit 120 Entlassungen, da fährste mal hin."

Ein professionelles Auswahlverfahren soll die Richtigen aus der Schar der Trainee-Bewerber herausfiltern. Schließlich will man die Besten. Früher mündeten mitunter gute Beziehungen in einen Sekretärsposten. Da gab es Betriebsräte, die "versorgt" werden mussten. "Diese Praxis haben wir beendet", stellt Personalleiter Hans Eisenbeiß für die IG BCE klar. "Das Bewerbungsverfahren ist transparent und orientiert sich an objektiven Kriterien." Wobei die "Stellungnahme aus der Organisation" nach wie vor eine gewisse Bedeutung hat. "Die Kollegen in den Verwaltungsstellen kennen die Bewerber und Bewerberinnen", sagt Susanne Scholtyssek, die Leiterin des Personalentwicklungsressorts beim IG-Metall-Vorstand. "Sie können beurteilen, ob ein Bewerber den Job packt oder nicht." Eine Empfehlung, versichert sie, münde jedoch nicht automatisch in eine Einstellung. Am Auswahlverfahren komme niemand vorbei.

Eine Entscheidung für die Laufbahn als Gewerkschaftssekretär stellt auch heute noch in der Regel die Weichen fürs ganze Berufsleben. Jobhopper und Karrieristen sind hier fehl am Platz. Eine Tätigkeit als Sekretär einer Gewerkschaft ist nicht die beste Visitenkarte für eine spätere Karriere in der Wirtschaft. Susanne Scholtyssek spricht sogar von einer "Lebensentscheidung" und verweist auf eine geringe Fluktuation. "98 Prozent der Politischen Sekretäre bleiben bis zum Ausscheiden aus dem Berufsleben bei uns."

Doch wie stehen junge Leute zwischen Anfang 20 und Mitte 30 zu einem Funktionärsjob auf Lebenszeit? Wie schützt man sich davor, zum Apparatschik zu mutieren? Und wie kommt man mit der Hierarchie einer Polit-Organisation klar? "Diskussionsprozesse kommen irgendwann zu einem Ergebnis", meint IG-BCE-Trainee Jörg Kammermann zum Thema Geschlossenheit, "und das muss einheitlich nach außen getragen werden, auch vom Gewerkschaftssekretär." Sein Trainee-Kollege Michael Schmitzer von der IG Metall definiert den Politischen Sekretär "zuallererst als Instrument, dem Auftrag der Mitglieder verpflichtet und immer das Wohl der Organisation im Auge."

Gesucht werden aber keine Jasager, sondern "Leute mit Ecken und Kanten", erklärt Hans Eisenbeiß. "Ich würde mir einen Politischen Sekretär wünschen, der mit reflektierten, eigenen Positionen auf Menschen zugehen kann", versucht sich Joachim Beerhorst, in der Vorstandsverwaltung der IG Metall zuständig für die Ausbildung von Gewerkschaftssekretären, an der Konstruktion eines idealen Bewerbers. Dabei soll der Traumkandidat "Standpunkte haben, die unsere Organisationswerte verkörpern, und motivieren können."

Nadine Boguslawski kommt diesem Ideal womöglich schon recht nahe. Zumindest nahe genug, um einen Trainee-Platz bei der IG Metall zu bekommen. In ihrer Entscheidung für eine Laufbahn als hauptamtliche Gewerkschafterin sieht die 31-Jährige auch "eine Möglichkeit, neue Wege zu gehen und dem Kapitalismus von einer anderen Seite entgegenzutreten." Denn dem hat sie, ihrer Meinung nach, lange genug gedient. Zuerst als ungelernte Bandarbeiterin bei Bosch, später als Auszubildende zur Industriemechanikerin bei Carl Zeiss, dann wieder in der Produktion. Über all die Jahre ist sie immer mehr in die Organisation hineingewachsen, zuerst als Jugendvertreterin, dann als Betriebsrätin.

BCE-Trainee Jörg Kammermann nahm für seine Karriere bei der Gewerkschaft in Kauf, dass er erst mal spürbar weniger Geld in der Tasche hat als früher in seinem Job als Elektriker bei der BASF. "Aber ich kam unzufrieden nach Hause, und man konnte nichts mehr mit mir anfangen", erzählt er. Er studierte Volkswirtschaft, ging ein Jahr nach Südafrika. "Vielleicht könnte ich irgendwann das Fünffache oder das Zehnfache mit nach Hause bringen", sagt er, "aber das zählt für mich nicht."

CHANCEN FÜR QUEREINSTEIGER_ Naturgemäß werden viele Nachwuchs-Sekretäre aus den Reihen der Ehrenamtlichen rekrutiert. Ein Studium auf dem zweiten Bildungsweg bringt zusätzliche Punkte. Allerdings haben sowohl IG Metall als auch IG BCE Probleme, genug "Interne" für die Laufbahn des Gewerkschaftssekretärs zu begeistern. Die Personaler der IG BCE haben im vorigen Jahr eine "Betriebsräte-Initiative" gestartet und treten nun an jüngere Betriebsräte heran, veränderungswillige und mobile Leute zwischen 30 und 40. Die bekommen dann unter Umständen ein etwas besseres Salär als die 2679 Euro brutto monatlich, die den anderen BCE-Trainees zustehen.

Bewusst rekrutieren die Gewerkschaften aber auch "Externe"; Bewerber wie Vanessa Aißen, die von der Hochschule kommen und bis dato wenig oder gar keine Berührung mit der Organisation hatten. Ganz ohne gesellschaftliches Engagement - in Hochschulgruppe, Verein, Kirche, Partei oder Verband - geht es aber nicht. Aus der Sicht der Gewerkschaften sind akademisch vorgebildete Sekretäre längst keine Notlösung mehr. "Auch in den Verwaltungsstellen benötigen wir heute Kompetenz mit akademischem Hintergrund, beispielsweise in Ökonomie und Recht", erklärt Rainer Gröbel, der Personalleiter der IG Metall. "Einen Teil davon holen wir uns über Hochschulabsolventen in die Organisation." Vielleicht, so die Hoffnung, erhält man über solche Sekretäre auch leichter Zugang zu den höher qualifizierten Beschäftigten, zu Ingenieuren, Forschern und Betriebswirten, die traditionell Distanz zur gewerkschaftlichen Hemdsärmeligkeit wahren.

Bei der Trainee-Ausbildung werden auch Unterschiede zwischen IG Metall und IG BCE deutlich. Die Metaller legen, wie sie sagen, großen Wert darauf, dem Nachwuchs auch durch die wertebezogene Auseinandersetzung mit Gewerkschafts- und Gesellschaftstheorie eine Orientierung zu geben. Schließlich, so Joachim Beerhorst, brauchen die jungen Sekretäre doch eine "Sinngrundlage für eine Berufstätigkeit, die über 30, 40 Jahre Bestand haben soll." Die Trainees sehen das ähnlich. "Die theoretischen Einheiten öffnen Kopf und Blick", meint Nadine Boguslawski. "Wenn ich wissen möchte, wo ich als Gewerkschafterin hin will, sollte ich mehr als nur eine vage Idee haben, wie Wirtschaft und Gesellschaft funktionieren."

Ihre Trainee-Kollegen von der IG BCE dagegen würden das Wort "Systemveränderung" niemals in den Mund nehmen. Sie preisen die Vorzüge der Sozialpartnerschaft, loben den guten Draht der Gewerkschaftsspitze zur Kanzlerin und sind stolz darauf, dass ihr Vorsitzender, "der Hubertus", als einziger Gewerkschaftsboss zur CSU-Klausur nach Wildbad Kreuth eingeladen wurde. "Ich bin nicht so einer, der bei der ersten Konfrontation Trillerpfeife und Fahnen rausholt", sagt Armando Dente, der ebenfalls Hauptamtlicher werden will. "Ich versuche immer zuerst, den Konsens im Gespräch zu suchen." Aber letztens hat er bei einer Vor-Tor-Aktion fast 90 Prozent einer Kraftwerksbelegschaft vor den Werkseingang bekommen. Und dabei auch noch ein paar Mitglieder für die Gewerkschaft gewonnen. Das war ein guter Tag für Armando Dente.

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