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Editorial Thorsten Schulten Mindestlohn Service aktuell

12 Euro Mindestlohn: Kein Widerspruch zur Tarifautonomie

Arbeitgeberverbände drohen mit Klagen gegen die geplante Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro. Doch sie haben keine guten Argumente auf ihrer Seite, schreibt der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Thorsten Schulten.

[17.1.2022]

Die Sache ist im Prinzip entschieden: Der Mindestlohn soll laut Koalitionsvertrag der neuen Ampel-Regierung „in einer einmaligen Anpassung“ auf 12 Euro pro Stunde angehoben werden. Deutschland erfährt damit seine zweite große Mindestlohnreform. Nach der Einführung einer allgemeinen gesetzlichen Lohnuntergrenze im Jahr 2015, erfolgt nun ihre Anhebung auf ein Niveau, das sich deutlich einem existenzsichernden „Living Wage“ annähert.  

Wenig begeistert von dieser Entwicklung sind nach wie vor die Arbeitgeberverbände, die in diesen Tagen noch einmal lautstark ihre Kritik formuliert haben. Im Mittelpunkt steht dabei der Vorwurf eines schwerwiegenden Eingriffs in die Tarifautonomie. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) warnt gar vor einem Systemwechsel hin zu „Staatslöhnen“ und droht mit dem Gang vor das Bundesverfassungsgericht. In Karlsruhe hätten die Arbeitgeberverbände allerdings wenig Aussicht auf Erfolg, sind doch ihre Argumente, mit denen sie einen Widerspruch von Mindestlohn und Tarifautonomie konstruieren, alles andere als überzeugend.  

Zunächst muss daran erinnert werden, dass der Mindestlohn in Deutschland überhaupt nur deshalb eingeführt wurde, weil die Tarifautonomie in einigen Bereichen nicht mehr funktioniert. Nur noch jeder zweite Beschäftigte arbeitet heute in einem Unternehmen mit Tarifvertrag. Vor allem in den Niedriglohnbranchen ist oft nur noch eine Minderheit der Beschäftigten tarifgebunden. Von 12 Euro Mindestlohn profitieren ganz überwiegend Beschäftigte ohne Tarifvertrag. 

Davon abgesehen gibt es immer noch eine Reihe von Tarifverträgen, in denen einzelne Entgeltgruppen unter 12 Euro liegen. Die Vereinbarung niedriger Tariflöhne ist jedoch keineswegs Ausdruck einer besonders vitalen Tarifautonomie, sondern vielmehr das Ergebnis relativ schwacher Tarifverbände. Auf Seiten der Arbeitgeber kommt noch hinzu, dass durch die so genannten „OT-Mitgliedschaften“ selbst viele Verbandsmitglieder nicht mehr an den Tarifvertrag gebunden sind. Gerade in den Niedriglohnbranchen würde eine Erhöhung des Mindestlohns tarifgebundene Unternehmen gegenüber der tariflosen Konkurrenz stärken und damit das Tarifsystem stabilisieren.  

Schließlich ist auch die Tatsache, dass die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro durch die Politik und nicht durch die Mindestlohnkommission entschieden wurde, kein Beleg für einen Verstoß gegen die Tarifautonomie. Zwar wird in der Mindestlohnkommission zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern auch um die Anpassung des Mindestlohns gerungen. Mit autonomen Tarifverhandlungen, die immer auch die Möglichkeit zur Mitgliedermobilisierung und das Recht auf Streik miteinschließen, hat dies jedoch nichts zu tun.  Am Ende ist es immer der Staat, der die Entscheidung über ein angemessenes Mindestlohnniveau treffen muss und hierfür auch die soziale Verantwortung trägt. Mindestlohn und Tarifverträge folgen demnach unterschiedlichen Logiken. Sie stehen aber keineswegs im Widerspruch zueinander, sondern können sich im Gegenteil positiv ergänzen.

Prof. Dr. Thorsten Schulten leitet das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. 

Weitere Informationen

Informationen zu Mindestlöhnen beim WSI-Tarifarchiv

Informationen zum Tarifsystem beim WSI-Tarifarchiv

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