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Magazin Mitbestimmung

Portugal: "Wir müssen die Wut der Menschen bremsen"

Ausgabe 01+02/2014

Die Sparpolitik der Regierung bedroht die Existenz der Bürger und die demokratischen Institutionen. Die Gewerkschaften setzen auf Generalstreik und das Verfassungsgericht. Von Michaela Namuth

Im Wartezimmer vor Carlos Trindades Büro sitzt eine Frau und weint. Sie ist um die 50, blondiert und trägt Jeans und Turnschuhe. Aus einer bunten Stofftasche zieht sie ein Papiertaschentuch nach dem anderen. Trindade nimmt sie in den Arm. „Ich komme gleich zu dir“, verspricht er. Dann zieht er die Tür seines Arbeitszimmers zu und erklärt, dass die Frau Gewerkschaftsvertreterin in einer Putzkolonne sei. Bei Verhandlungen und im Fernsehen hat sie immer für alle Kolleginnen gesprochen. Jetzt soll sie selbst gekündigt werden. „Das Land ist in einem desolaten Zustand und die Menschen auch. Am schlimmsten trifft es die Frauen“, sagt Trindade.

Sein Büro erreicht man über ein heruntergekommenes Treppenhaus mit knarrenden Holzstufen und abgeschlagenen Wandkacheln. Es liegt in der Altstadt von Lissabon, nahe dem Hafen. Carlos Trindade, 59, gehört zum Urgestein der portugiesischen Gewerkschaftsbewegung. Er ist Chef der kleinen Organisation STAD, die Sicherheitskräfte, Putzfrauen und Haushaltshilfen vertritt. Trindade ist auch Vorstandsmitglied der CGPT, des größten portugiesischen Gewerkschaftsbundes, wo er sich um die Probleme der Immigranten und der immer zahlreicheren Auswanderer kümmert. Zudem ist er Mitglied des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (WSA) und nimmt für die CGPT auch jedes Jahr an der Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation ILO teil.

Trindade kennt alle Realitäten, von ganz unten bis ganz oben. „Aber jetzt ist es schlimm, ganz schlimm“, sagt er. Und er erzählt: „Die Leute sind so wütend, dass wir sie bremsen müssen, um unkontrollierte Ausbrüche zu verhindern. Es herrscht eine Stimmung der Rebellion.“ Die Gewerkschaften haben trotz der notorischen Uneinigkeit zwischen der eher kämpferischen CGPT und der kompromissorientierten UGT in den vergangenen zwei Jahren schon vier gemeinsame Generalstreiks gegen die Regierung von Premierminister Pedro Passos Coelho organisiert.

DAS DIKTAT DER TROIKA Die Sparpolitik der Regierung hat das Land in eine Rezession gestürzt und bedroht jetzt die demokratischen Institutionen. Viele Krankenhäuser, Schulen und Gerichtshöfe wurden bereits geschlossen, die Gelder für Universitäten und Forschung gekürzt. Die Kürzungen im öffentlichen Dienst bedrohen – wie in Griechenland – den Mittelstand, der sich in vielen Fällen mit dem Existenzminimum arrangieren muss. Jetzt sollen auch die Renten der Staatsangestellten angegriffen werden. Zum ersten Mal seit der Nelkenrevolution von 1974, die der Salazar-Diktatur ein Ende setzte, tauchen in Lissabon wieder Armut und Hunger auf.

In der Zentrale der kostenlosen Essensausgabe, dem Banco Alimentar, wurden in den drei Sommermonaten von Juni bis August 15 000 Menschen regelmäßig mit Lebensmitteln versorgt. Viele, die kommen, sind alte Menschen, die mit einer Pension von 300 Euro leben müssen, und Familien mit Kindern, die durch plötzliche Arbeitslosigkeit ins soziale Nichts fallen. Die Arbeitslosenquote im Land ist seit 2011 von zehn auf über 18 Prozent gestiegen. Dabei ist ein Viertel der Erwerbslosen, diejenigen, die kein Arbeitslosengeld beziehen, gar nicht mitgerechnet. In der offiziellen EU-Arbeitslosenstatistik belegt Portugal den dritten Platz nach Griechenland und Spanien.

2011 hat das hochverschuldete Land von der sogenannten Troika, bestehend aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds, ein Hilfspaket von 78 Milliarden Euro erhalten und gleichzeitige Schuldentilgung akzeptiert. Der sozialdemokratische Regierungschef Coelho drosselte die Staatsausgaben: Das bedeutet vor allem Schließung von Schulen, Forschungseinrichtungen und Ämtern; das Durchschnittsgehalt im öffentlichen Dienst Portugals liegt derzeit bei rund 1000 Euro brutto. Zudem zog die Regierung das bereits von der sozialistischen Vorgängerregierung begonnene Privatisierungsprogramm in rasender Schnelle durch.

Es betrifft bislang die Energieversorgung, den Schiffsbau, die staatliche Minengesellschaft, den Flughafenbetreiber ANA und bald auch die Post. Viele kapitalschwere Investoren kommen aus den ehemaligen Kolonien Angola und Brasilien, aber auch aus China. Die linke Opposition spricht von der Aushöhlung des Staates, aber selbst von konservativer Seite wird Coelho kritisiert. António Bagão Félix, ehemaliger Finanzminister und Ex-Vizedirektor der portugiesischen Notenbank, bezeichnete die Privatisierungspolitik der Regierung in einem Interview mit dem italienischen Fernsehsender RAI 3 als „Farce“. „Das Land riskiert, seine Souveränität zu verlieren, und am Ende kommen nicht mehr als zehn Prozent der Schulden in die Staatskasse“, so der Ex-Minister.

In der europäischen Wirtschaftspresse hingegen gilt Portugal, das 2014 wahrscheinlich um einen neuen Kredit bitten muss, als Musterschüler unter den EU-Schuldnern. „Die Troika gibt Portugal gute Noten“, titelten einige Blätter im vergangenen Herbst, unter anderem auch das „Handelsblatt“. Finanzanalysten freuen sich über einen kleinen Handelsüberschuss als Zeichen für ein besseres Wirtschaftsklima.

REBELLION LIEGT IN DER LUFT Von dieser guten Stimmung ist in Portugal nichts zu spüren. Trotz der drastischen Ausgabenkürzungen des Coelho-Kabinetts steigt das Haushaltsdefizit seltsamerweise weiter. Die Portugiesen fühlen sich von ihrer Regierung betrogen. „Coelho und seine Bande zerstören unser Leben“, sagt Henrique Gil. Auf dem Rücken trägt er ein Protestplakat. „Würde oder Misere“ steht darauf. Gemeinsam mit einem Grüppchen von Leuten demonstriert der Informatiker vor dem Lissabonner Rathaus gegen die Ausgabenkürzungen für Schule und Bildung und gegen die Mieterhöhungen. Es ist Samstagvormittag, ein paar Passanten bleiben stehen. Die Polizisten, darunter viele Frauen, schirmen routiniert das Rathaus ab. Ein Journalist macht Fotos.

Solche unangekündigten Flashmobs gibt es jetzt ständig in der Stadt. Sie gehören zu den Aktionen der immer stärker werdenden Protestbewegung „Que se lixe a Troika“, was so viel heißt wie: „Zum Teufel mit der Troika“. Dass die europäischen Stabilitätswächter in Portugal einen miserablen Ruf haben, zeigt auch der Erfolg des neuen Tischspieles „Vem ai a Troika“ (die Troika kommt). In dem Alternativ-Monopoli geht es um obskure finanzielle Interessen und inkompetente und korrupte Politiker.

„Wir haben es satt, auf den Arm genommen zu werden“, erklärt Marco Neves Marques, 30 Jahre alt und Aktivist einer Prekären-Gruppe. Er ist Teil der Generation, die sich bei der ersten großen Demo 2011 auf der Lissabonner Praça do Rossio den Namen „Wegwerfgeneration“ gegeben hat. Rund 40 Prozent der unter 30-Jährigen sind arbeitslos. Die übrigen finden höchstens befristete 500-Euro-Jobs. „Wir sind die bestausgebildete Generation, die das Land je hatte, aber wir bekommen keine Chance“, sagt er. Er selbst ist Forstingenieur und hatte zuletzt einen Einjahresvertrag bei einem Universitätsprojekt für Landschaftsentwicklung. Jetzt bekommt er Arbeitslosengeld. Vorher hat er eine Zeit lang bei der Modekette Zara für 2,77 Euro die Stunde im Verkauf gearbeitet. Schon 2007 hat er an der Uni mit anderen prekär Beschäftigten eine politische Gruppe gegründet, die sich jetzt der Anti-Troika-Bewegung angeschlossen hat.

GEFÄHRDETE DEMOKRATIE Marco Neves Marques hetzt ständig zwischen Terminen hin und her. Deshalb muss man sich mit ihm am Lissabonner Hafen treffen, wo er auf die Fähre wartet, die die vom Fluss Tejo getrennten Stadtteile verbindet. Wie er warten hier viele – mit einer Einkaufstüte in der einen und einem Telefon in der anderen Hand. „So gut wie alle, die hier stehen, haben Freunde und Verwandte, die ausgewandert sind – in den Norden oder auch in den Süden, beispielsweise in die ehemalige Kolonie Angola“, sagt Marques. Seit die Regierung auch die Wohnungsmieten liberalisiert hat, ist das Leben in der Stadt für viele unmöglich geworden. Die Mieten liegen bei durchschnittlich 300 bis 400 Euro, viele Einkommen bei 400 bis 500 Euro. Die meist mit antiken Kachelfassaden verzierten Wohnhäuser der Lissabonner Altstadt sind zum Objekt von Immobilienspekulationen geworden, viele stehen schon leer. Seit der Erhöhung der Mehrwertsteuer haben auch viele kleine Geschäfte geschlossen.

Das Zentrum der europäischen Kulturhauptstadt des Jahres 1994 könnte eine Geisterstadt werden. „Das wird passieren, wenn noch mehr Menschen wegziehen müssen“, erklärt Marques. Er selbst möchte bleiben und helfen, zu verhindern, dass die Demokratie in kleinen Stücken abgetragen wird. „Das Ziel unserer Regierung ist die Änderung der Verfassung und die Beschneidung der demokratischen Rechte“, davon ist er überzeugt. Und mit dieser Überzeugung steht er nicht alleine. Mario Soares, 88, war Staats- und Regierungschef des Landes. Seine sozialistische Partei hat das Memorandum of Understanding mit der Troika unterzeichnet. Dennoch erklärte er unlängst in einem Interview: „Alle, wirklich alle sozialen Gruppen sind gegen die Sparpolitik der Regierung – von den Studenten bis zum Militär. Ich bin überzeugter Europäer, aber was jetzt passiert, ist eine Gefahr für die Demokratie. Die Troika entscheidet über die Gesetze im Land. Dafür gibt es keine Legitimierung.“

LABILE GEWERKSCHAFTSEINHEIT Auch Reinhard Naumann, der die Entwicklung Portugals seit vielen Jahren beobachtet, kann keine Zuversicht verbreiten. „Die Perspektive ist ein Land, in dem alle Schutzmechanismen für Erwerbstätige, Rentner und Kinder aus ärmeren Familien abgebaut wurden“, erklärt der Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Lissabon. Auch auf die Gewerkschaften sieht er weitere Probleme zukommen. „Jetzt wird der öffentliche Sektor geschleift, und das Instrument des Generalstreiks, das schon viermal eingesetzt wurde, wird stumpf“, sagt er. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad liegt derzeit bei knapp 20 Prozent. Nach Naumann könnte er bald auf die Hälfte sinken, wenn Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung weiter steigen. „Die Regierung setzt auf die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Senkung der Lohneinkommen und die systematische Schwächung der Gewerkschaften. Das ist ihr vor allem mit der Zerstörung des Flächentarifvertrags gelungen“, so der FES-Experte. Auch die aus der Not geborene, spontan für die Generalstreiks gebildete Gewerkschaftseinheit ist seiner Meinung nach eher ein „labiler Zustand“, was die Bewegung zusätzlich schwächt.

All das macht Gewerkschaftschef Carlos Trindade manchmal ratlos. Trotz aller widrigen Umstände will er aber keinesfalls die Waffen strecken. Für ihn sind die Ergebnisse der Lokalwahlen im September 2013, wo Sozialisten und Kommunisten die Wahlgewinner waren, ein Hoffnungsschimmer. Jetzt gibt es seiner Meinung nach vor allem zwei Dinge zu tun. Das ist zum einen der Gang zu den Arbeitsgerichten. „Uns bleibt das Arbeitsrecht, und wir sollten dieses Instrument nutzen“, so Trindade. Das portugiesische Verfassungsgericht hat 2013 mehrere Sparbeschlüsse der Regierung zurückgewiesen und somit die Hoffnung auf eine größere Stabilität der bestehenden Rechte und der Möglichkeit, sie einzuklagen, gestärkt.

Trindades zweite Handlungsoption heißt: „menschlich bleiben“. „Die Menschen sind ausgelaugt und verzweifelt. Sie brauchen ganz praktische Hilfe und jemanden, der ihnen zuhört“, sagt er und macht die Tür zum Vorzimmer seines Büros wieder auf. Der Warteraum ist jetzt restlos überfüllt. Neben der Frau, die weint, sitzen viele andere. Die meisten von ihnen sind vor Jahren aus den afrikanischen Kolonien gekommen und arbeiten als private Haushaltshilfen oder im Zimmerservice von großen Hotelketten. Viele sollen gekündigt werden, alle verdienen zu wenig oder bekommen Probleme, wenn sie schwanger werden. Carlos Trindade schiebt die Papiere auf seinem Schreibtisch zusammen und schlürft schnell noch einen Kaffee. Vor ihm liegen viele Geschichten, die er sich anhören wird. Und vielleicht auch ein paar Prozesse, die er gewinnen kann. 

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