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Magazin Mitbestimmung

Investitionen: Wachstumspaket als Mogelpackung

Ausgabe 09/2012

Der Wachstumspakt ändert nichts an der strikten Sparpolitik der EU. Ob er neue Investitionen anstoßen wird, ist fraglich – und wenn, dann gehen sie auch noch in die falschen Projekte. Von Eric Bonse

Die Europäische Union ist schon lange auf der Suche nach einer Wachstumsstrategie. Vom gemeinsamen Binnenmarkt der 90er Jahre über die Lissabon-Agenda im Jahr 2000 bis hin zur aktuellen Europa-2020-Strategie reichen die Versuche, die EU auf einen neuen Wachstumspfad zu bringen. Gemeinsam ist allen Plänen, dass sie auf neoliberale Konzepte der Privatisierung und Liberalisierung setzen – und wenig gebracht haben. Der Binnenmarkt ist immer noch Stückwerk, die Lissabon-Agenda scheiterte auf halber Strecke, von Europa 2020 redet kaum noch jemand.
 
Umso erstaunlicher ist auf den ersten Blick, dass beim EU-Gipfel im Juni schon wieder ein neuer Wachstumspakt beschlossen wurde. Schließlich liegt der offizielle Startschuss für die 2020-Strategie gerade einmal zwei Jahre zurück. Zudem hatten die EU-Länder noch 2009, nach dem Zusammenbruch der US-Bank Lehman Brothers, Konjunkturprogramme aufgelegt. Diese haben einen Zusammenbruch der europäischen Wirtschaft verhindert, aber auch die Schulden in die Höhe getrieben. Weitere schuldenfinanzierte Programme dürfe es nicht geben, forderte die Bundesregierung in Berlin.

In dieser schwierigen Gemengelage aus chronischer Wachstumsschwäche und akuter Haushaltsnot wurde der Wachstumspakt konzipiert. Er litt von Anfang an unter dem Widerspruch zwischen knappen Kassen und großen Erwartungen. Denn bereits bevor Frankreichs neuer Staatspräsident François Hollande die Initiative für den Pakt ergriff, war die Nachfrage nach neuen Konzepten groß. So war 2011 im Europaparlament der Ruf nach einem „Marshallplan“ für Griechenland laut geworden, um den Absturz des völlig überschuldeten Landes zu verhindern. Auch Italiens Premier Mario Monti forderte wachstumsfördernde Maßnahmen für sein Land.
Allerdings verengte sich gleichzeitig der fiskalpolitische Spielraum. Beim EU-Gipfel im Dezember 2011 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel den Fiskalpakt durchgesetzt, der alle 25 Unterzeichnerstaaten zu strikter Budgetdisziplin und der Einführung von Schuldenbremsen nach deutschem Vorbild verpflichtet. Wenn der Pakt wie geplant 2013 in Kraft tritt, finden sich die Euroländer in einem engen Korsett aus Vorgaben und Sanktionen wieder, das eine aktive und intelligente, also an die Situation angepasste Wachstumspolitik fast unmöglich macht.

Statt den Fiskalpakt neu zu verhandeln, wie es Hollande angekündigt hatte, begnügte er sich schließlich damit, den umstrittenen Vertrag um den Wachstumspakt zu ergänzen. Außerdem verzichtete Hollande unter deutschem Druck nicht nur auf neue Ausgabenprogramme. Auch neue Einnahmen sind in „seinem“ Pakt zunächst nicht vorgesehen; erst mit der Einführung einer Finanzmarktsteuer könnte sich dies ändern.

Das Ergebnis, das Hollande und Merkel beim Gipfel im Juni präsentierten, ist ein typischer EU-Kompromiss. Einerseits gelang es Hollande und seinem italienischen Mitstreiter Monti, eine beeindruckende Summe zu präsentieren: 120 Milliarden Euro. Das macht fast ein Prozent der Wirtschaftsleistung der EU aus. Andererseits werden keine neuen Gelder mobilisiert, sondern nur bereits bewilligte und verplante Mittel umgeschichtet. Zudem ist von dem ursprünglich verfolgten Ziel, die befürchteten negativen Folgen des Fiskalpakts auszugleichen, kaum etwas übrig geblieben. Im Gegenteil: Die Philosophie des Fiskalpakts zieht sich wie ein roter Faden durch den „Pakt für Wachstum und Beschäftigung“, wie er nun offiziell heißt. Gleich nach der Absichtserklärung, ein „intelligentes, nachhaltiges, integratives, ressourceneffizientes und beschäftigungswirksames Wachstum im Rahmen der Strategie Europa 2020 zu fördern“, kommt das Bekenntnis zu „soliden öffentlichen Finanzen“ und Strukturreformen. Das Wachstum soll vor allem durch höhere Wettbewerbsfähigkeit, Innovationen und den Ausbau des Binnenmarkts gefördert werden – ganz auf der Linie Merkels.

GELD SCHON VERPLANT

Gewiss, neben der „wachstumsfreundlichen Haushaltskonsolidierung“ sind auch Investitionen vorgesehen. Doch die stolze Summe von 120 Milliarden Euro erweist sich bei näherer Betrachtung als Mogelpackung. Der größte Einzelposten, nämlich 55 Milliarden Euro, soll aus den bestehenden EU-Strukturfonds kommen. Der zuständige Kommissar Johannes Hahn hat aber klargestellt, dass das meiste Geld schon fest verplant ist und nicht so einfach umgewidmet werden kann. „Es gibt keine Gelder, die irgendwo herumliegen“, sagte er in einem Zeitungsinterview.

Der zweite Posten, der von der Europäischen Investitionsbank (EIB) kommen soll, ist eine reine Luftbuchung. Durch eine Kapitalerhöhung um zehn Milliarden Euro sollen neue Investitionen in Höhe von 60 Milliarden Euro angeschoben werden. Doch die Kapitalerhöhung ist noch nicht einmal beschlossen. Und die 60 Milliarden Euro, die sich auf vier Jahre verteilen, kommen auch nur dann zusammen, wenn genügend förderungswürdige Projekte vorgeschlagen werden. Genau dies sei aber oft ein Problem, heißt es bei der EIB. Gerade bedürftige Länder wie Griechenland sind oft schon mit der Projektplanung überfordert.
Der dritte Posten, die sogenannten Projektbonds, ist Zukunftsmusik. Die von der EU-Kommission konzipierten Anleihen, mit denen Investitionen in die Infrastruktur finanziert werden sollen, sind nämlich selbst noch in der Projektphase. Für einen ersten Modellversuch sind nur 230 Millionen Euro aus EU-Mitteln vorgesehen – ob damit tatsächlich wie geplant Straßen und Schienen im Wert von 4,6 Milliarden Euro gebaut werden können, ist offen. Selbst wenn die Projektbonds funktionieren, könnten sie sich als Flop erweisen – denn Berlin steht einer Fortsetzung nach 2013 skeptisch gegenüber.

Wer sich von dem neuen Wachstumspakt erhoffte hatte, dass die europäische Wirtschaft endlich wieder durchstartet, wird also enttäuscht: Er ist eine leere Hülle. Für 2012 sind überhaupt keine neuen Investitionen vorgesehen, bestenfalls läuft das Programm 2013 langsam an. Doch selbst das ist schon wieder fraglich, da die EU-Staaten den Entwurf für das Gemeinschaftsbudget 2013 kräftig zusammengestrichen haben. Statt der von der EU-Kommission geforderten Erhöhung um 6,8 Prozent wollen Deutschland und die meisten anderen Länder nur 2,8 Prozent bewilligen.

Dies könne „den Geist unserer Vereinbarungen gefährden“ und den Wachstumspakt durchkreuzen, fürchtet Kommissionschef José Manuel Barroso. Der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold spricht von einem „Stück aus Absurdistan“. Erst hätten die EU-Staaten ein „Mogelpaket für Wachstum“ geschnürt, und dann verweigerten sie ihm auch noch das Geld. Sollte es bei der harten Haltung bleiben, könnten auch in Deutschland geplante Projekte nicht durchgeführt werden, fürchtet Giegold. Dabei sei die Struktur- und Kohäsionspolitik europaweit der einzige automatische Stabilisator, der makroökonomische Schocks auffangen könne; 336 Milliarden Euro sind vorgesehen für die Förderperiode von 2014 bis 2020.

Noch größere Zweifel hat Fabian Zuleeg, Chefökonom des Brüsseler Thinktanks „European Policy Center“. Für ihn zielen die EU-Politiker auf die „falsche Krise“. Europa leide nicht nur unter einer Wachstumsschwäche, sondern auch unter der wachsenden Kluft zwischen erfolgreichen und kriselnden Ländern, die durch die Sparpolitik in eine „Abwärtsspirale“ getrieben werden. Diesen Ländern müsse vorrangig geholfen werden, so Zuleeg – doch der Wachstumspakt konzentriere sich auf die alte Krise und verteile das Geld mit der Gießkanne. Anstatt wie bisher flächendeckend Autobahnen zu finanzieren, fordert Zuleeg gezielte Investitionen in die staatliche Grundversorgung. „Wenn die Bildungs- und Gesundheitssysteme zusammenbrechen und der Staat nicht länger den Hilfsbedürftigen beistehen kann, gibt es kaum Hoffnung auf Wachstum“, fasst er seine Philosophie zusammen.

GELD VERSICKERT

Auch Wirtschaftsprofessor Peter Egger von der ETH Zürich fordert ein Umdenken. Von der Förderung aus den EU-Strukturfonds profitieren bisher vor allem die reichen Regionen, kritisiert er. In Ländern mit schwacher Verwaltung und Korruption – wie Griechenland und Süditalien – versickern die Mittel jedoch ohne spürbaren positiven Effekt. Und Griechenland ist kein Einzelfall, fand Egger in einem Forschungsprojekt zur EU-Strukturpolitik heraus. Nur 30 Prozent der Empfänger profitieren bisher tatsächlich von den Hilfen. Das meiste Geld versickere ohne nachweisbare Effekte, „da die institutionellen Rahmenbedingungen zu einer ineffizienten Nutzung führen“. Um dies zu ändern, müssten die Projektträger gestärkt und die Hilfen umgesteuert werden – weg von Infrastruktur und hin zu Humankapital. „Durch Verbesserungen von lokalen Institutionen und stärkere Priorisierung von Bildungsinvestitionen könnte ein Wachstumseffekt in 70 Prozent der Empfängerregionen erzielt werden“, resümiert Egger.

Eine bloße Fortsetzung der Strukturfonds wie bisher bringe dagegen „konsumtive Effekte in den Empfängerregionen, aber nur geringe langfristige Wachstumseffekte“. Die Strukturfonds mit ihrem Schwerpunkt auf Infrastrukturinvestitionen haben außerdem den Bausektor zu stark gefördert, was zu einer Verzerrung der Wirtschaft führt. Die erhoffte Konvergenz bei Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit werde sich so nicht erreichen lassen, warnt der Experte.

Immerhin ein Gutes hat der Wachstumspakt: Er hat eine Debatte über sinnvolle Wirtschaftspolitik ausgelöst – und einige Tabus gebrochen. Zum ersten Mal seit Beginn der Finanz- und Schuldenkrise wird das deutsche Dogma der Sparpolitik in Frage gestellt, zum ersten Mal wird über ein Umsteuern der EU-Förderinstrumente diskutiert. Das war zwar nicht das eigentliche Ziel des Paktes, doch darauf lässt sich aufbauen. Bis zu einer echten Wachstumsstrategie ist es allerdings noch ein weiter Weg.

Text: Eric Bonse, Journalist in Brüssel / Illustration: Oliver Weidmann/SIGNUM communication

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