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Bildschirme zwischen Stuhlreihen zum Mitlesen bei HSI-Veranstaltung zu Gleichstellung und Barrierefreiheit Magazin Mitbestimmung

Inklusion: Teilhabe geht alle an

Ausgabe 06/2023

Auf dem Weg zu einer barrierefreien Gesellschaft stehen noch einige Hindernisse – auch in den Köpfen. Von Fabienne Melzer

Komplizierte Verfahren bei Behörden erleben Menschen mit Behinderungen als häufigste Barriere in ihrem Alltag. Als Felix Welti, Juraprofessor an der Uni Kassel, diese Erkenntnis kürzlich auf einer Fachtagung vortrug, brachte ihm das einige Lacher und den Einwurf ein, dass diese Hürde nicht nur für Menschen mit Behinderung bestehe. Weltis Befund stammt aus einer gemeinsamen Evaluation, in der sich das Hugo Sinzheimer Institut der Hans-Böckler-Stiftung (HSI), das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) in Köln sowie Sozial- und Gesundheitsrechtler der Universität Kassel angeschaut hatten, wie das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und seine Novellierung 2016 in der rechtlichen und gesellschaftlichen Praxis ankommt und wie barrierefrei Menschen die Welt um sie herum inzwischen erleben. Auf einer Tagung in Frankfurt stellten Felix Welti und Dietrich Engels, Geschäftsführer des ISG, die Ergebnisse zur Diskussion.

Auch Fatime Görenekli von der Servicestelle für Studium und Behinderung an der Uni Kassel besuchte die Veranstaltung. Die 44-Jährige ist blind und hörbeeinträchtigt. An der Universität berät sie Studierende mit Einschränkungen. Das BGG schreibt vor, dass der Staat Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben und gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen muss. Das gilt auch für Studierende. „Jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung“, sagt Fatime Görenekli. „Für alle, die mit Beeinträchtigungen leben, müssen die Bedingungen so verändert werden, dass sie mit vergleichbaren Anstrengungen wie Menschen ohne Behinderung das Studium schaffen.“ Sie selbst lebt und arbeitet relativ selbständig. An der Universität hat sie eine Arbeitsassistentin und Hilfsmittel wie eine Braillezeile, die Computerschrift für Blinde übersetzt.

Doch sie stößt auch immer wieder auf Hindernisse, die Menschen ohne ihre Einschränkung meist gar nicht auffallen. So konnte sie im Tagungshotel nicht allein Aufzug fahren, weil es weder eine Ansage der Etagen noch eine entsprechende Beschriftung gab.

Das HSI, das nach Frankfurt eingeladen hatte, wollte über Barrierefreiheit nicht nur diskutieren, sondern auch Verbesserungsanstöße für den Alltag liefern. Dabei stellte Johanna Wenckebach, Wissenschaftliche Direktorin des HSI, fest, wie schwer der Weg von der Theorie in die Praxis ist: „Über Barrierefreiheit schreiben ist etwas anderes, als sie auch selbst umzusetzen.“

Der Weg zum Veranstaltungsort war über abgeflachte Bürgersteige, Aufzüge und Rampen auch für Rollstuhlfahrer problemlos zu erreichen. Im Saal übersetzten Gebärden- und Schriftdolmetscher für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen. Die Texte wurden auf Monitore im ganzen Raum und teilweise direkt vor die Sitzreihen übertragen. Außerdem gab es Tonübertragungsgeräte. Die Veranstaltung sei barrierearm, so Antonia Seeland, die beim HSI die Veranstaltung mitorganisierte. Bis zur völligen Barrierefreiheit sei es allerdings noch ein großer Schritt.

  • Fatime Görenekli von der Servicestelle für Studium und Behinderung der Uni Kassel
    Fatime Görenekli von der Servicestelle für Studium und Behinderung der Uni Kassel besuchte die Fachtung des Hugo Sinzheimer Instituts.

Jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung.“

Fatime Görenekli von der Servicestelle für Studium und Behinderung der Uni Kassel

Der Alltag ist für die meisten Menschen mit Behinderungen mit Hindernissen gespickt. Dies zeigte sich in diesem Jahr auch in Genf, wo die UN die Umsetzung ihrer Behindertenkonvention prüft und sich Annette Tabbara vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales stellvertretend einen Rüffel abholte. „Dort wurde noch einmal deutlich gemacht, dass es nicht sein kann, dass ein reiches Land wie Deutschland keine Barrierefreiheit herstellt“, sagte Tabbara.

Das Fazit der BGG-Evaluation lautet denn auch: Es gibt gute Ansätze, aber es hapert noch viel zu oft bei der Umsetzung. Zu den positiven Ansätzen zählt beispielsweise: Das Gesetz hat das Verständnis von Behinderung erweitert. Zum einen verdeutlicht es unterschiedliche Behinderungsformen, unter anderem auch intellektuelle und psychische Beeinträchtigungen. Zum anderen definiert sich der Begriff nun durch die Einschränkungen der Betroffenen in der Wechselwirkung mit den Bedingungen ihrer Umwelt. Das ist neu, da bis zur Änderung des Sozialgesetzes Behinderung sich ausschließlich auf die gesundheitlichen Einschränkungen eines Menschen bezog. Für Fatime Görenekli eine entscheidende Änderung: „Die meisten sehen Behinderung immer noch in Einschränkungen, die ein Mensch hat. Sie sehen nicht, dass die Welt, wie sie ist, Menschen einschränkt.“

Im allgemeinen Bewusstsein hat sich diese Definition noch längst nicht durchgesetzt. Tanja Klenk, Professorin an der Universität der Bundeswehr in Hamburg, attestierte in einer der Diskussionsrunden etwa Beschäftigten von Behörden noch immer ein konservatives Verständnis von Behinderung. Dabei wies sie der Verwaltung als dem Gesicht des Staates eine wichtige Rolle zu: „Die Qualität des Gesetzes hängt auch davon ab, was Behörden daraus machen.“

Menschen mit Behinderungen erleben nicht nur bauliche Barrieren als Hindernis, auch in der Kommunikation und in der Digitalisierung scheitern sie an Hürden – oder bei Produkten und Dienstleistungen, wie Uwe Boysen vom Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf an einem einfachen Beispiel deutlich machte: „Wer kann eigentlich eine Packstation der Post ohne Probleme bedienen?“ Michael Wahl, Leiter der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik, erhielt viel Zustimmung für seine Frage: „Warum ist der Zugang zu Daten nicht genauso wichtig wie der Schutz von Daten?“

In der rechtswissenschaftlichen Evaluation zeigte Felix Welti von der Uni Kassel, dass das BGG auch nach zwei Jahrzehnten im Rechtsleben noch wenig bekannt ist. „In gerichtlichen Entscheidungen wird wesentlich häufiger auf das
Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und die UN-Behindertenkonvention verwiesen“, sagte Welti. Das Schlichtungsverfahren werde häufig genutzt, das Verbandsklageverfahren dagegen nur selten. Kritisch beurteilte Welti, dass es sich hierbei lediglich um eine Feststellungsklage handelt, die keinerlei verbindliche Konsequenzen nach sich zieht.

Dieses Verfahren kritisierte auch Verena Bentele, Böckler-Alumna und Präsidentin des Sozialverbands VdK. Sie machte das Verfahren dafür verantwortlich, dass Verbände es so selten nutzen. Deutlich machte sie es am Beispiel einer Klage um den Bahnhof Bad Godesberg. „Das Gericht stellte am Ende fest, dass der Bahnhof nicht barrierefrei ist“, sagte Bentele. „Das wussten wir aber schon vorher.“ Sie forderte daher, dass sich aus einer Feststellung auch die Verpflichtung zum Handeln ergibt. „Bewusstseinsbildung machen wir schon viel zu lange“, sagte die VdK-Präsidentin.

Der Weg zu einer barrierefreien Gesellschaft scheint noch weit und ist manchmal nicht einfach herzustellen. Das BGG kennen noch immer sehr wenige, viele haben eine falsche Vorstellung von Behinderung und Unternehmen und Einrichtungen tun sich noch schwer mit Barrierefreiheit. Dennoch: Von einer barrierearmen Welt würden alle profitieren. Denn wie die Reaktion des Publikums zeigte, wünschen sich nicht nur Menschen mit Behinderungen verständliche Behördenformulare. Oder wie es VdK-Präsidentin Verena Bentele formulierte: „Teilhabe geht mehr als ein paar Menschen an – nämlich alle.“ 

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