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Magazin Mitbestimmung

Von ANNETTE JENSEN: Talente im eigenen Unternehmen besser fördern

Ausgabe 06/2018

Wissen Sieben Männer ohne Abitur, die bei VW in der Produktion gearbeitet haben, studieren jetzt in Hannover Mechatronik und Ingenieurinformatik. Blick auf ein Modellprojekt, das Schule machen könnte.

Von ANNETTE JENSEN

Plötzlich hatte er diesen Flyer in der Hand: „VW Nutzfahrzeuge – Studieren ohne Abitur“. Eike Scheel fühlte sich sofort angesprochen. Seit er seine Ausbildung als Zerspanungsmechaniker vor zehn Jahren abgeschlossen hatte, überlegte er oft: Das soll jetzt das Ende der Fahnenstange sein?

Nach der Arbeit hatte er sich zum Industriemeister weitergebildet – eine Veränderung seines Alltags brachte das nicht; schließlich haben viele bei VW eine solche Qualifikation. Das Angebot, an der Hochschule Hannover Mechatronik/Ingenieurinformatik zu studieren, kam Eike Scheel deshalb sehr gelegen. 800 Euro monatlich schießt VW zum Lebensunterhalt zu. Wer will, kann zusätzlich in den Semesterferien auch im Werk arbeiten oder einen Studienkredit bekommen.

Zunächst durchliefen rund 30 Interessierte ein mehrstufiges Auswahlverfahren. „Drei Monate lang hat man sehr gebangt, bis endlich der Bescheid kam“, berichtet der gelernte Kfz-Mechaniker Harun Aktas, Vater von zwei Kindern. Sieben Männer zwischen 24 und 36 Jahren schafften es schließlich. „Das ist so aufregend, wir stoßen in Bereiche vor, die neu sind. Industrie 4.0 ist auf dem Vormarsch, da darf VW nicht den Anschluss verlieren“, meint Pascal Höhle.

Bevor sie im Herbst 2017 im Hörsaal ankamen, durchliefen sie eine intensive, von VW organisierte Vorbereitungsphase mit einem zweiwöchigen Mathekurs und mehreren Samstagen, an denen eine Maschinenbaustudentin Grundlagenstoff mit den angehenden Studenten büffelte. Inzwischen sind sie im zweiten Semester und beschäftigen sich mit Thermodynamik, Physik und Projektmanagement, Algorithmen und Datenstrukturen.

Der Mann, der das Programm entwickelt hat, ist ohne Zweifel ein Überzeugungstäter. „Das kann es nicht nur bei VW geben – das funktioniert in vielen Betrieben“, lautet die Botschaft, die Volker Schulz unbedingt loswerden will und deshalb mehrfach wiederholt. Er selbst hat nach einer Ausbildung zum Betriebsschlosser und Industriekaufmann das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt und danach studiert.

Heute arbeitet er in der VW-Akademie in Hannover, wo er für die Betreuung der dual Studierenden zuständig ist. Schulz kennt das Gefühl, als 28-Jähriger zwischen 19-Jährigen über den Campus zu laufen und sich fremd zu fühlen, wenn sich die Kommilitonen über einen ZEIT-Artikel unterhalten – und er nicht einmal wusste, was „Die ZEIT“ ist. Und er weiß, wie wichtig es ist, in dieser Situation vertraute und solidarische Menschen in der Nähe zu wissen.

Deshalb hat er dafür gesorgt, dass die sieben Auserwählten erst einmal zusammen zum Team-Building-Workshop in den Harz gefahren sind. Und wenn er mitkriegt, dass einer „seiner Jungs“ Unterstützung braucht, ruft er den Mathe-Crack unter den dual Studierenden bei VW an.

Schulz ist fest überzeugt, dass das Modell auf andere Unternehmen übertragbar ist – wenn es nur gewollt wird. Die Kosten jedenfalls sind überschaubar. Die Studierenden erhalten ein Stipendium, das sie zurückzahlen müssen, wenn sie später kein Abschlusszeugnis vorweisen können. Dazu kamen der Aufwand für die Reise in den Harz und der Lohn für die Dozenten der Vorbereitungskurse. Die Online-Selbstlernkurse der Offenen Hochschule Niedersachsen und der Hochschulbesuch kosten das Unternehmen nichts.

Der Vorteil der Investition in engagierte und fitte Leute aus dem eigenen Betrieb sei ganz klar, so Schulz: Sie kennen die Praxis aus eigener Erfahrung und beziehen das Wissen der Kollegen aus der Produktion von Anfang an in ihre Suche nach technischen Lösungen ein. Wer Tipps und Ratschläge von Schulz möchte, wie sich so ein Programm aufs eigene Unternehmen übertragen lässt, rennt bei dem 58-Jährigen offene Türen ein.

Im eigenen Haus dagegen ist man zögerlich, eine zweite Gruppe an den Start zu schicken: Nicht nur sollen bis 2022 im Werk 3,5 Prozent der Stellen abgebaut werden. „Die Personalabteilung guckt immer nur auf die besten Zeugnisnoten und nicht darauf, ob Leute hier reinpassen“, fasst Betriebsrat Walter Deterding seine Erfahrung zusammen.

Lange war er stellvertretender Sprecher des Bildungsausschusses und hat in den Gremien Schulz´ Idee immer wieder auf die Tagesordnung gebracht. Schließlich unterstützte der Leiter der Produktionsplanung das Projekt, das jetzt über seinen Etat abgewickelt wird. Damit die frischgebackenen Akademiker später nicht gleich von anderen VW-Abteilungen abgeworben werden, hat er vertraglich abgesichert, dass sie nach dem Examen in seinem Bereich unterkommen.

Hoher Krankenstand am Band

Der Frust vieler Leute am Band sei groß, der Krankenstand liege bei sieben Prozent, berichtet Deterding. Alle unter 50-Jährigen hätten einen Facharbeiterbrief, viele machten in ihrer Freizeit noch einen Industriemeister. Doch anschließend landen sie wieder dort, wo sie vorher gearbeitet haben. Deterding ist überzeugt: Vor allem Standesdünkel seien der Grund, warum in den planenden Abteilungen nur Leute von außen eingestellt würden, statt eigene Arbeiter zu unterstützen, die notwendigen Qualifikationen zu erwerben.

„Dabei lebt eine Fabrik davon, dass die Leute sich kennen und auch informell miteinander reden.“ Und wer tagein, tagaus mit der Infrastruktur und den Materialien arbeitet, weiß um die Tücken. Tatsächlich aber erlebt „die Mannschaft“ immer wieder, dass Jungakademiker praxisferne Entscheidungen treffen.

Pascal Höhle kann gleich ein Beispiel anführen: Ein Ingenieur hatte eine Kamera zur Kontrolle von Schweißnähten an einer Heckklappe entwickelt, dabei aber weder bedacht, dass sowohl Linse als auch Blech dreckig werden. Deshalb musste ein Kollege bei jedem Werkstück erst einmal mit einem Putzlappen darüber gehen, damit das System auch funktionierte.

Im Sommer kommen die sieben Studierenden zum ersten Mal zu einer Praxiseinheit zurück ins Werk. Betreut werden sie von Mentoren, die im Intranet erfahren haben, dass sie zu einem Kennenlerntermin zu erscheinen hätten.

Wer immer die Informatikerin Vivien Sura und ihren Kollegen Jan Gericke aus der Abteilung Automatisierung und Digitalisierung im Bereich Fabrikplanung für diese Aufgabe ausgewählt hat, hat sicher einen guten Griff getan. „Wir werden sie bei allem mitlaufen lassen“, sagt die 25-Jährige, die vor drei Jahren ihr duales Studium abgeschlossen hat. In ein paar Wochen wird nebenan eine neue Montagelinie aufgebaut – Sura wird überprüfen, ob die Lieferungen den in ihrer Abteilung entwickelten Anforderungen entsprechen.

„Wir haben ein großes Potenzial bei den Leuten in der Montage – bitte mit Vollgas rein bei uns “, so drückt Gericke seine große Offenheit für das Studierendenprogramm aus. Auch der 36-Jährige hat erst nach einer KFZ-Elektriker-Ausbildung Abitur gemacht und danach studiert. Für ihn ist völlig klar, dass er bei Neuerungen erst einmal mit Kollegen aus der Praxis redet und sie fragt, was sie brauchen und was ihnen die Arbeit erleichtern würde.

Als sich einer der Mentees bei der Abteilungsbesichtigung für einen Leichtbauroboter interessierte, der bei Überkopfarbeiten eingesetzt werden soll und noch für die konkrete Anwendung programmiert werden muss, hat Gericke ihn gleich ermutigt, sich näher damit zu beschäftigen. Sein Lernprogramm für die Praxiswochen sind ganz klar: Gucken, was jemand braucht – und dann „Intensivbetankung“.

Martin Grotjahn, Dekan für die dualen Maschinenbaustudiengänge an der Hochschule Hannover, hat das Lernprogramm und die Prüfungsordnung an den VW-Bedarf angepasst; das Angebot ist nun auch für dual Studierende aus anderen Firmen offen. „Hochmotiviert“ sei die Gruppe, bestätigt er. Zugleich falle einigen die Umstellung vom jahrelangen Arbeitsalltag aufs tägliche Lernen nicht leicht.

Dazu gehöre auch, dass die Männer auf ihrem bisherigen Berufsweg nie die Erfahrung gemacht haben, an die eigenen Grenzen zu stoßen – sie das nun aber häufig erlebten. Andere dual Studierende, die meist direkt vom Gymnasium kommen und bei denen die großen Unternehmen stark auf die Noten achten, könnten strukturierter arbeiten, hätten ein höheres Abstraktionsvermögen und bessere sprachliche Fähigkeiten.

Etwa ein Zehntel aller angehenden Akademiker an der Hochschule Hannover absolvieren ein duales Studium – nur 3,5 Prozent von ihnen haben die Zugangsberechtigung über eine Ausbildung und eine dreijährige Berufstätigkeit erlangt. Das VW-Modellprojekt sei prinzipiell auch auf andere Unternehmen übertragbar, bestätigt der Professor.

Seine Hochschule hat auch schon dafür geworben – doch die Resonanz blieb äußerst gering. „Viele Unternehmen haben noch nicht verstanden, dass die Digitalisierung eine andere Mitarbeiterentwicklung erfordert und mehr akademisches Wissen gebraucht wird“, so Grotjahn.

Auch in den Kultusministerien gibt es keinerlei Problembewusstsein: Geld für propädeutische Kurse bekommen die Hochschulen allenfalls für Modellversuche. Kleinere Unternehmen aber haben weder die finanziellen Mittel noch die kritische Masse, um studierwilligen Beschäftigten Vorbereitungskurse anzubieten. Zugleich seien aber auch die hohen VW-Löhne für viele Leute in der Produktion eine Entwicklungsbremse, so Grotjahn. Wer einen Meister gemacht habe, könne ja in ein anderes Unternehmen wechseln, wo die Aufgaben anspruchsvoller und herausfordernder seien – aber da verdiene er dann weniger. „Und so bleibt viel Potenzial verschüttet“, lautet seine Bilanz.

Aufmacherfoto: Rolf Schulten

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