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Bundeskanzler Merz (li.) und  Wirtschaftsministerin Reiche (re.) gehen nebeneinander über einen Gang  im Bundestag Magazin Mitbestimmung

Politik: Gefährliche Debatte

Ausgabe 06/2025

Die Regierung verzettelt sich in Diskussionen um Bürgergeld, Gesundheitskosten und Rente. Die wahren Probleme könnte sie damit verschlimmern. Von Fabienne Melzer

So mancher Wirtschaftsexperte traut zurzeit seinen Ohren kaum. Völlig diagnosefrei nennt Achim Truger, Mitglied im Sachverständigenrat Wirtschaft, die derzeitige Debatte um den Sozialstaat. Auch Sebastian Dullien, Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung, schlägt vor, erst einmal die Probleme der deutschen Wirtschaft zu analysieren, bevor man Therapievorschläge macht.

In den Ohren der Bundesregierung verhallt die Kritik bislang ungehört. Bundeskanzler Friedrich Merz hatte die Debatte im Spätsommer angeschoben. „Wir können uns unseren Sozialstaat nicht mehr leisten“, sagte er und kündigte Reformen in allen Bereichen an. Wirtschaftsministerin Katharina Reiche, eigentlich nicht für Sozialpolitik zuständig, legte kürzlich nach und forderte wiederholt eine längere Lebensarbeitszeit. Außerdem stellte sie die Lohnfortzahlung ab dem ersten Krankheitstag infrage.

IMK-Direktor Dullien vermisst in der Debatte nicht nur echte Problemlösungen, er hält sie auch für gefährlich. Nach drei Jahren wirtschaftlicher Stagnation sieht das IMK Anzeichen für einen Aufschwung. Für 2026 prognostiziert das Institut ein Wirtschaftswachstum von 1,4 Prozent. Wichtig dafür sei auch der private Konsum, der langsam wieder anziehe. Der könne nun aber kaputtgeredet werden. „Wenn in dieser Situation alles im Sozialsystem auf den Prüfstand kommt, wenn die Renten gekürzt werden sollen oder bei der Gesundheit mehr zugezahlt werden soll, wächst die Gefahr, dass die Menschen aus Angst eben nichts konsumieren, und das würde den Aufschwung gefährden“, sagt Dullien.

Zumal die Debatte um den Sozialstaat auch mit unsachlichen Mitteln geführt wird. So verweist die Politik beim Bürgergeld darauf, dass die Ausgaben zwischen 2014 und 2024 um rund vier Milliarden gestiegen seien. Doch absolute Zahlen sagen, für sich genommen, wenig bis gar nichts. Das IMK hat die Sozialausgaben daher ins Verhältnis zur Wirtschaftsleistung gesetzt. Hier zeigt sich ein deutlich differenzierteres Bild: Die Ausgaben für die Rentenversicherung sanken in den vergangenen 20 Jahren relativ zur Wirtschaftsleistung von 10,4 auf 9,4 Prozent. Die Ausgaben für Sozialhilfe, Arbeitslosen- und Bürgergeld blieben im gleichen Zeitraum unverändert.

Verändert hat sich vor allem die Wirtschaftsleistung. Bis 2019 entwickelten sich Bruttoinlandsprodukt und Sozialausgaben parallel. Dann brach zuerst das Wachstum ein. Die Gründe sind eigentlich bekannt. Externe Schocks wie Corona- und Energiekrise erschütterten die deutsche Wirtschaft, die nun geopolitisch zwischen die Konkurrenten China und USA gerät. „Auf der einen Seite überschwemmt China den Weltmarkt massiv subventionierten Produkten, die auch dank unserer Hilfe technisch inzwischen konkurrenzfähig sind“, sagt Truger. „Und auf der anderen Seite haben wir einen US-Präsidenten mit einer völlig unvorhersehbaren Zollpolitik.“ Wie Einsparungen bei Gesundheit, Rente oder Bürgergeld die deutsche Wirtschaft aus dieser Zange befreien sollen, ist Truger ein Rätsel.

In der Analyse komme Wirtschaftsministerin Reiche zwar zu ähnlichen Ergebnissen, stellt IMK-Direktor Dullien fest: „Aber als Lösungsvorschlag kommt dann die Rente mit 70. Die Erhöhung des Rentenalters greift aber erst in vielen Jahren und hat mit den Problemen der Wirtschaft heute überhaupt nichts zu tun.“ Es käme vielmehr darauf an, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. 

Das hält Enzo Weber, Forschungsbereichsleiter des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, auch aus Sicht des Arbeitsmarktes für notwendig. Denn dort macht sich die Krise inzwischen bemerkbar. So sei die Zahl der neu ausgeschriebenen Stellen auf einen historischen Tiefstand gesunken, ebenso die Neugründungen von Betrieben in der Industrie. Unterm Strich fallen, laut Weber, zurzeit in dieser Branche rund 10 000 Stellen pro Monat weg. Die Beschäftigung bleibe im Moment stabil, weil die Bereiche Pflege, Gesundheit und Erziehung weiter zulegen. „Das sind enorm wichtige Jobs, aber sie machen die Verluste in der Industrie nicht ungeschehen“, sagt Weber, der auch Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Hans-Böckler-Stiftung ist. Die Erneuerungskrise mache vor allem für Berufsanfänger den Einstieg zurzeit enorm schwierig.

Im Hinblick auf die Bevölkerungsentwicklung rät Weber, die Hebel jetzt in Richtung industrielle Erneuerung umzulegen. „Die demografische Schrumpfung kümmert sich nicht um unsere Industriekrise“, warnt der Wirtschaftswissenschaftler. In den kommenden 15 Jahren wird Deutschland aus Alterungsgründen sieben Millionen Arbeitskräfte verlieren. Laut IAB werde 2026 die Zahl der Arbeitskräfte erstmals sinken. Für den Umbau der Wirtschaft brauche das Land aber technisch gute Leute. Deshalb müsse jetzt alles dafür getan werden, Beschäftigte weiterzuentwickeln und die Arbeitsmarktchancen für Berufseinsteiger zu verbessern. „Wir sind ja nicht mit zu vielen jungen Menschen gesegnet“, sagt Weber.

Politik muss Hürden aus dem Weg räumen und Unterstützung anbieten, damit die Menschen selbst entscheiden können.

ENZO WEBER, Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)

Auch andere Beschäftigungspotenziale müssten gehoben werden. Dazu gehöre etwa eine bessere Gleichstellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, weniger Blockade durch Minijobs und weniger Aussortieren älterer Beschäftigter. Das gelinge aber nicht mit abstrakten Debatten über Arbeitszeiten. „Aufgabe von Politik ist es nicht, den Leuten Ansagen zu machen, wie lange sie arbeiten sollen“, sagt Weber. „Politik muss Hürden aus dem Weg räumen und Unterstützung anbieten, damit die Menschen selbst entscheiden können.“ Arbeitsmarktpolitisch müsse sie dafür gute Pakete schnüren, gute Beratung, gute Vermittlung und gezielte Qualifizierung anbieten, damit Beschäftigte in neue Bereiche wechseln können. Schließlich gebe es auch Branchen, die wachsen. Deutschland müsse keineswegs zum Industriemuseum werden, wenn die Politik jetzt alle Hebel in Richtung wirtschaftliche Erneuerung umlege.

Einen wichtigen Hebel sehen IMK-Direktor Dullien und Ökonom Truger in der Stärkung der Binnennachfrage. Hier habe die Regierung mit der Reform der Schuldenbremse und dem Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaschutz im Prinzip gute Voraussetzungen geschaffen. Ein Problem sieht Dullien allerdings darin, dass ein relevanter Teil des Geldes nicht in zusätzliche Infrastruktur fließe, was einen nachhaltigeren Wachstumseffekt bringe als zusätzlicher Staatskonsum oder Steuersenkungen. Auch der Sachverständigenrat kritisierte die Verwendung der Mittel etwa für die Mütterrente. Ursprünglich berechneten die Wirtschaftsexperten bis 2030 fünf Prozentpunkte mehr Wachstum durch das Sondervermögen. Nach aktuellem Stand würde es aber nicht einmal zwei Prozentpunkte bringen.

Anzeichen für eine Weichenstellung in die richtige Richtung sehen die Ökonomen auch bei den Energiepreisen. Hier komme es aber nicht nur darauf an, Unternehmen mit einem Industrietriestrompreis zu entlasten. Gleichzeitig müsse auch der Ausbau der Netze und der erneuerbaren Energien vorangetrieben werden, um dauerhaft bezahlbare Energie zu liefern.

  • Halb-Portrait IMK-Direktor Sebastian Dullien
    IMK-Direktor Sebastian Dullien: „Eine Erhöhung des Rentenalters hat nichts mit den aktuellen Problemen der Wirtschaft zu tun.“
  • Prof. Achim Truger , Wirtschaftswissenschaftler und Professor fuer Soziooekonomie und Mitglied Sachverstaendigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Wirtschaftsweise waehrend der Bundespressekonferenz zum Thema Vorstellung des Jahresgutachtens 2025 2026
    Wirtschaftsweiser Achim Truger: „Öffentliche Haushalte dürfen nicht absaufen.“
  • Portrait IAB-Experte Enzo Weber auf einer Konferenz
    IAB-Experte Enzo Weber: „Deutschland muss nicht zum Industriemuseum werden.“

Zu einer Diagnose gehört für Dullien, die Schwächen der Schlüsselindustrien zu analysieren und sie politisch anzugehen. „Wenn die anderen Blöcke der Welt eine so aggressive Handels- und Industriepolitik machen, muss die Europäische Union auf eine Industriepolitik für den europäischen Markt umstellen“, sagt Dullien. „Dazu müsste man aber auch in Deutschland umdenken, und das sehe ich im Wirtschaftsministerium zurzeit überhaupt nicht.“

Eine europäische Industriepolitik hält Truger auch aus Gründen der Resilienz für wichtig: „Wenn wir uns einig sind, dass die Stahl- und Grundstoffindustrie für Europa wesentliche Branchen sind, bei denen wir uns nicht vollständig von außereuropäischen Produzenten abhängig machen können, dann müssen wir auch bereit sein, das in irgendeiner Form am Leben zu erhalten.“ Neben Förderprogrammen und Subventionen könne auch staatliche Beschaffung eine Rolle spielen.

Gleichzeitig dürften aber auch die öffentlichen Haushalte nicht absaufen. Bund, Länder und Kommunen stünden vor riesigen Konsolidierungsaufgaben, weil die Schuldenbremse für den Kernhaushalt weiter gilt. Das könne den Impuls abwürgen, der durch die Fiskalpakete kommt. Truger würde sich daher wünschen, dass das derzeit viel beschworene Wir in Sachen Verteidigungsfähigkeit um ein solidarisches Wir erweitert wird. In diesem solidarischen Wir würden hohe Einkommen und Vermögen einen entsprechenden Beitrag leisten, die anstehenden Aufgaben zu finanzieren.

Doch bis auf Weiteres rechnet Dullien eher damit, dass die Debatte um den Sozialstaat weitergeht, mindestens so lange, bis die Wirtschaft wieder wächst. Schließlich lasse sich der Sozialstaat vor allem in der Krise schleifen. Nicht ohne Grund erinnert die Debatte an die Agenda 2010. Auch damals wollte die Regierung die schwächelnde deutsche Wirtschaft mit Sozialstaatsreformen wieder aufpäppeln. Der Aufschwung kam nach der Agenda 2010 allerdings von außen, als die Exporte wieder anzogen. Schon damals warnten Ökonomen, unter ihnen auch Truger, davor, sich zu sehr davon abhängig zu machen. Die geopolitischen Verschiebungen lassen den Exportmotor nun stottern. 

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