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Arbeitsplatz Social Media Magazin Mitbestimmung

Medien: Digitale Drecksarbeit

Ausgabe 02/2023

Videoplattformen wie TikTok gibt es nur, weil Content-Moderatoren sie von illegalen Inhalten frei halten – eine belastende Arbeit. Bei TikTok in Berlin hat die Belegschaft jetzt einen Betriebsrat gegründet. Von Kay Meiners

Den Weg von der Berliner Verdi-Zentrale zum Spreequartier, in dem die Videoplattform TikTok des chinesischen Konzerns ByteDance ihren Sitz hat, kann man in zehn Minuten zu Fuß zurücklegen. Aber ihn wirklich zu gehen, diplomatische Beziehungen zwischen den einander fremden Galaxien aufzunehmen und am Ende einen Betriebsrat zu gründen, war eine Arbeit von zwei Jahren. Denn bei TikTok gelten, wie bei allen Social-Media-Konzernen, Gewerkschaften als uncool; das Management hätte gerne ohne Betriebsrat weitergemacht. Andersherum treiben die Inhalte von TikTok und die Arbeiten, die hier erledigt werden,  Gewerkschaften eher Sorgenfalten auf die Stirn.

TikTok lebt vom Inhalt der User, der vermarktet wird und Werbekunden anzieht: Lipsync-Videos, auf denen zu Popmusik oder Filmszenen die Lippen bewegt werden, Slapstick aus Afrika, Videos ukrainischer Soldaten von der Front, Filme, auf denen Leute möglichst viele rohe Eier essen, oder Propagandavideos, die das angeblich schöne Leben in der nordkoreanischen Diktatur zeigen – erschlossen durch den konsequenten Einsatz von KI. „TikTok ist für viele junge Leute das, was früher Fernsehen war“, sagt Verdi-Sekretär Hikmat El-Hammouri, der sich um die und 500 Köpfe starke Berliner TikTok-Belegschaft kümmert. Das Medium wächst rasant und hat weltweit mehr als eine Milliarde monatlich aktiver Nutzer. Allein in Deutschland sind es 19 Millionen, die meisten weiblich und aus der Altersgruppe 16 bis 24 Jahren.

Bilder mit Schockpotenzial

Weil ein guter Teil des hochgeladenen Materials illegal ist oder gegen Richtlinien verstößt, müssen Content-Moderatoren jedes Video prüfen. „Die Moderatoren kommen mit dem Schrecklichsten in Kontakt, was man sich vorstellen kann“, sagt Verdi-Sekretär Hikmat El-Hammouri, der sich zusammen mit seiner Kollegin Kathleen Eggerling um die Beschäftigten von TikTok kümmert. Er ist überzeugt, dass Content-Moderation in Zukunft eine große Zahl Jobs schaffen wird. Allerdings sei das keine Arbeit, die man bis zur Rente machen könne – „wegen der psychischen Belastungen“.

Es gibt viel zu verbessern in der Branche: Pausenregeln, eine psychologische Betreuung, Mitbestimmung, Betriebsvereinbarungen, die Vernetzung der Beschäftigten unterschiedlicher Unternehmen. Verdi hat dazu im März eine bislang einzigartige Veranstaltung organisiert, den Content Moderators Summit, zusammen mit drei NGOs, die sich um die Moderatoren kümmern: Foxglove aus London, Aspiration aus den USA und Superrr Lab aus Berlin. Das Ziel: die Beschäftigten untereinander ins Gespräch zu bringen und ein Problembewusstsein für das neue Berufsbild zu schaffen.

Längst wird versucht, einen Teil der Arbeit der Moderatoren an Maschinen zu delegieren. Für die Algorithmen, die den frischen Content auf Mediaplattformen wie TikTok sichten, sind Grausamkeiten oder Gesetzesverstöße nur Daten, seelenlos wie sie selbst. Doch die Algorithmen sind nicht gut genug. Sie verstehen nicht, was sie sehen. „Der Algorithmus trifft die Vorauswahl – die Beurteilung müssen Menschen übernehmen“, sagt Hikmat El-Hammouri. Nur ein Mensch könne sagen, was wirklich zu sehen ist: eine Puppe, ein echter Mensch – oder schlimmstenfalls ein Kind, das missbraucht wird.

Eine Frau ist bereit, zu reden

Content-Moderatoren reden in der Regel nicht über ihren Job. Sie haben sich vertraglich zum Schweigen über ihre Arbeitsbedingungen verpflichtet. Eine junge Frau ist dann doch bereit, zu sprechen. Sie gehört dem jungen Berliner Betriebsrat an, wo sich Menschen aus allen Teilen der Welt zusammenfinden. Sie wägt jedes Wort ab und will ihren Namen am Ende nicht gedruckt sehen. Wir einigen uns auf den Decknamen Anna Duszat. Sie kam eher zufällig zu dem Videodienst: über ein Online-Stellenportal. Nach der Bewerbung ging alles schnell,  sie konnte sofort anfangen. „Cool, du bist bei TikTok“, sagten die Freunde, und die Eltern fragten: „Du bekommst Geld dafür, Videos anzuschauen?“ Dass die Realität eine „harte, psychisch belastende Arbeit“ sei, sagt Duszat, sei nicht immer leicht zu vermitteln. Was von ihr erwartet wurde, lernte sie schnell. Duszat sagt: „Ich hatte eine gute Teamleiterin, die mir ungeschminkt gesagt hat, was auf mich zukommt.“ Doch einige Bilder verfolgen sie: „Dinge, die mit Pädophilie zu tun haben, oder Schlachtungen von Tieren, sowas kriege ich nicht wieder aus dem Kopf.“

Die Mitglieder des elfköpfigen Betriebsratsgremiums, das die gesamte Berliner Belegschaft vertritt, müssen lernen, Interessen innerhalb der Belegschaft auszubalancieren und ihre Leute gegenüber dem Management zu vertreten. Ihr Ehrenamt nimmt Duszat ernst: „Die Menschen, die hier arbeiten, haben Rechte. Und sie brauchen einen Anwalt. Das sind jetzt wir.“ Der Grund, sich zu engagieren und zum zweiten Mal in ihrem Leben Mitglied bei Verdi zu werden, waren jedoch nicht die schlimmen Bilder, sondern das Gefühl, die Arbeitsbedingungen nicht mitgestaltenzu können.

„Es ging – noch vor Corona – um die Möglichkeit, von zu Hause aus arbeiten zu können. Und es ging um die niedrige Bezahlung für diese verantwortungsvolle Arbeit“, sagt Duszat. Die Höhe ihres Gehalts darf sie nicht nennen, sie macht aber deutlich, dass es etwas mehr sein könnte. In der Branche gebe es eine Zweiklassengesellschaft, berichtet sie. Auf der einen Seite „die Leute, die direkt bei den großen Konzernen arbeiten, so wie wir. Die sind noch eher gut dran.“ Bei TikTok werden Erholungspausen strikt eingehalten, und es gibt eine psychologische Hotline, die rund um die Uhr zur Verfügung steht.

Aber bei kleineren Unternehmen, in denen outgesourcte Content-Moderatoren für große Konzerne arbeiten, sind die Bedingungen schlechter. Martha Dark, die Direktorin der Londoner NGO Foxglove, fordert mehr Anerkennung für Content-Moderatoren und weist darauf hin, dass ihr Job gesellschaftlich nützlich ist: „Diese Leute schützen auch unsere Demokratie.“

Content-Moderatoren kommen mit dem Schrecklichsten in Kontakt, was man sich vorstellen kann.“

Hikmat El-Hammouri, Verdi-Sekretär

Der lange Weg zum Betriebsrat

Im Juli letzten Jahres kam es zur Initialzündung: Verdi lud ins Gewerkschaftshaus ein, um einen Wahlvorstand für die Betriebsratswahl zu küren, was dann auch rechtssicher über die Bühne ging. Rund 100 der Berliner  Beschäftigten von TikTok kamen. „Der Fall zeigt eines ganz klar: Lasst die Profis ran, dann klappt es“, sagt El-Hammouri –auch mit Blick auf andere Social-Media-Konzerne: „Es ist ein Unterschied, ob man Einzelkämpfer ist oder eine Gewerkschaft an seiner Seite hat.“ TikTok ist für Verdi ein Vorzeigeprojekt: Warum nicht mit China vorangehen, um dann US-Konzerne zu knacken?

Das Management war anfangs nicht glücklich über die Bestrebungen, einen Betriebsrat zu gründen. Seit Verdi an Bord ist, so El-Hammouri, habe das Unternehmen allerdings „eine 180-Grad- Wende vollzogen und sogar mehr gemacht, als gesetzlich vorgeschrieben ist“. Am Ende wurden alle Beschäftigten ausdrücklich zur Wahl  aufgerufen. Aus der Führungsebene heraus gab es Unterstützung für die Wahl – „eine gute Basis für die jetzt beginnende Betriebsratsarbeit“, wie die für TikTok zuständige Verdi-Gewerkschaftssekretärin Kathleen Eggerling erklärt. Bei der Wahl im Herbst gingen von elf Betriebsratssitzen neun an die Verdi-Liste. Nach der Wahl ließ die Post aus China nicht lange auf sich warten. Das Management in Schanghai hatte die Wahl interessiert verfolgt und wünschte Auskünfte zu den Personen im Betriebsrat. Diese wandten sich an El-Hammouri: Was sollen wir schicken? Was ist mit dem Datenschutz? Ist es vertretbar, persönliche Daten an eine Datenkrake wie China zu schicken? El-Hammouri riet, Namen, Funktion und Kontaktdaten zu übermitteln.

Der Gewerkschafter wünscht sich für die Zukunft einen regelmäßigen Austausch mit dem Konzernmanagement. „Dort sitzen die maßgeblichen Personen, die entscheidungsbefugt sind“, sagt er. „TikTok ist nicht so stark auf eine Person zentriert wie Twitter auf Elon Musk, aber zwischen Schanghai und Berlin kommt ganz lange nichts.“ Der Berliner Betriebsrat wiederum hat direkt mit der Konzernzentrale in  Schanghai gar nicht zu tun. Seine wichtigsten Kontaktpersonen beim Management sitzen im irischen Dublin.

Ob man dort mit der deutschen Betriebsverfassung vertraut sei? „Kein Kommentar“, sagt Betriebsratsmitglied Duszat. „Die haben sich aber einen deutschen Anwalt organisiert, der ihnen alles erklärt.“ Auch gebe es schon erste Verhandlungsergebnisse: Die Arbeit von zu Hause sei seit Corona kein Problem mehr, und beim Gehalt habe sich das Management bereiterklärt, eine Prämie von 50 Euro im Monat für die Arbeit im Homeoffice zu bezahlen. Die Kommunikation, sagt sie, laufe „mal besser, mal schwieriger, je nach Thema“. Klingt nach ganz normaler Kärrnerarbeit im Betriebsrat.


Gigant aus China

Noch nie zuvor hat ein Konzern aus China weltweit eine so große Beliebtheit und Reichweite bei Jugendlichen gehabt wie TikTok. Doch seit Jahren gibt es Kritik am mangelnden Datenschutz und am hohen Suchtpotenzial der App – sowie den Verdacht, dass die chinesische Regierung Zugriff auf Userdaten bekommen könnte. Der CEO Shou Zi Chew musste im März vor dem US-Kongress aussagen, weil in den USA ein Verbot der App diskutiert wird. Ein solches Verbot könnte auch Jobs an anderen Standorten gefährden.

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