Mein Arbeitsplatz: Die Schneiderin
Silva Sergeyevna (75) lebt alleine in Jerewan, Armenien. Mit ihrer kleinen Schneiderwerkstatt bessert sie ihre spärliche Rente auf. Von Stephan Pramme
„Den kleinen Kiosk im Innenhof eines Wohnblocks mitten in Jerewan habe ich von meiner Schwester übernommen. Zehn Jahre lang schneiderte sie hier für die Menschen der Umgebung, bis sie vor einigen Monaten verstarb. Das Nähen hat uns unsere Mutter beigebracht. Nun sitze ich hier auf knapp sieben Quadratmetern und bin meine eigene Chefin. Ich arbeite flexibel, je nachdem, wie viel zu tun ist. Meist fange ich zwischen 12 und 13 Uhr an und bleibe, solange Kunden kommen. Die meisten kommen nach ihrer Arbeit. Das Leben in Jerewan beginnt nicht früh am Morgen, dafür ist abends die ganze Stadt unterwegs. Früher war ich Ingenieurin in der Milchwirtschaft, kam für mein Studium in die Hauptstadt. Hier hab ich auch meinen Mann getroffen.
Leider reicht meine Rente nicht zum Leben. Zum Glück kann ich mir mit den Näharbeiten etwas dazuverdienen. Für die Nachbarn ändere ich Hosen, kürze Röcke oder bessere Mäntel aus. Manche kommen sogar mit dem Wunsch nach einem Hochzeitskleid zu mir. Sie schätzen meine Zuverlässigkeit und Schnelligkeit. Für meine Großnichte Shushan habe ich neulich ein ganzes Kleid genäht. Das mache ich lieber, als Kleider zu kürzen. Sie brachte mir morgens den Stoff und abends konnte sie in dem Kleid schon ausgehen.
Manche Nachbarn kommen auch einfach so vorbei, ohne Änderungswünsche, dann sitzen wir gemütlich zusammen, trinken armenischen Kaffee und essen Waffeln und Cracker dazu. An heißen Sommertagen sorgt die Klimaanlage für etwas Abkühlung und im Frühling hält eine Folie am Eingang den Regen ab. Seit dem Tod meines Mannes lebe ich allein. Zu Hause würde mir die Decke auf den Kopf fallen. So freue ich mich jeden Tag über die Arbeit in meinem Kiosk, der kleinen Nähstube.“