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Magazin Mitbestimmung

150 Jahre NGG: Die älteste Gewerkschaft feiert Geburtstag

Ausgabe 12/2015

Weil die Arbeit der Zigarrenmacher sehr monoton war, bezahlten sie häufig Vorleser aus ihren Reihen, die aus politischen Schriften, Zeitungen oder schöner Literatur vorlasen. Das hatte Folgen, wie ein Buch zum Jubiläum erzählt. Von Johannes Schulten

 Kleine Gewerkschaften sind häufig zu unkonventionellen Maßnahmen gezwungen, um Erfolge zu erzielen. So schon der Allgemeine Deutsche Cigarrenarbeiterverein (ADCAV): Die Organisation war keine drei Jahre alt, da stand der erste Streik ins Haus. Die Berliner Zigarrenfabrikanten hatten 1868 eine neue Fabrikordnung eingeführt. Kündigungsfristen sollten abgeschafft, unangekündigte Leibesvisitationen eingeführt werden. Die materielle Absicherung der Streikenden erwies sich als Problem, denn in der Streikkasse der jungen Gewerkschaft herrschte Ebbe. Also gründete ADCAV-Vorsitzender Friedrich Wilhelm Fritsche kurzerhand eine Genossenschaftsfabrik: In der Allgemeinen Deutschen Zigarrenarbeiter-Compagnie konnten viele der Streikenden den Arbeitskampf „überwintern“. Drei Monaten hielten sie ihren Streik aufrecht und hatten am Ende Erfolg. 

Der zu Weihnachten 1865 gegründete ADCAV gilt heute nicht nur als erster überregionaler Zusammenschluss regionaler Arbeitervereine und damit als erste deutsche Gewerkschaft. Er ist auch eine Vorläuferorganisation der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), die in diesen Tagen ihr 150. Jubiläum feiert.

Kreativ im Umgang mit übermächtigen Unternehmen waren auch andere Vorläufergewerkschaften der NGG. Etwa der kleine Berliner Konditor-Gehilfen-Verein. Der hatte 1892 Ärger mit der Firma „Theodor Hildebrand und Sohn“, die drei organisierte „Pfefferküchler“ entlassen hatte. Für einen Streik war der Verein zu schwach. Also nutzten die Konditor-Gehilfen ihr intimes Wissen über den sehr laxen Umgang mit Hygienestandards im Unternehmen, um ihren Arbeitgeber unter Druck zu setzen. Bei Hildebrand war es nämlich Praxis, die beliebten Pfefferkuchen mit zu Boden gefallenem Backmehl zu versetzen. Die Konditor-Gehilfen machten die Sauerei öffentlich und sorgten so für den Berliner „Fußmehlskandal“. Heute würde man das wohl „Leverage Campaign“ oder „strategische Öffentlichkeitsarbeit“ nennen. 

Viele solcher Geschichten finden sich im gerade im Hamburger VSA-Verlag erschienenen NGG-Jubiläumsband: „Vom Vorleser zum Mindestlohn: Die Geschichte der NGG 1865 bis 2015“. Der Titel ist einer interessanten Gegebenheit geschuldet: Weil die Arbeit der Zigarrenmacher sehr monoton war, bezahlten sie häufig Vorleser aus ihren Reihen, die aus politischen Schriften, Zeitungen oder schöner Literatur vorlasen. Ein Nebeneffekt dieser frühen Form gewerkschaftlicher Bildungsarbeit: Viele Abgeordnete des späteren Reichstags kamen aus dem Tabakarbeitermilieu.

FRÜH FÜR MINDESTLOHN GEKÄMPFT

Gegründet wurde die NGG nach dem Zweiten Weltkrieg. Ende Mai 1949 vereinigten sich die Gewerkschaften der drei Westzonen in München zur „IG Nahrung Genuß Gaststätten“. Bereits 1946 hatte sich in der sowjetischen Besatzungszone in Leipzig die „Industriegewerkschaft Nahrung-Genußmittel-Gaststättengewerbe“ gegründet. 1958 schloss sie sich mit der Gewerkschaft Handel zur IG Handel, Nahrung, Genuss (HNG) zusammen.

HNG-Mitglieder hatten in den ersten Jahren der DDR mit Problemen bei der Planerfüllung zu kämpfen. Vor allem im Einzelhandel beschwerten sich viele Gewerkschafter über die mangelnde Versorgung mit Waren. Die NGG in Westdeutschland wiederum beteiligte sich an den Protesten gegen die Wiederbewaffnung, kämpfte erfolgreich für die 40-Stunden-Woche in der Milchindustrie und engagierte sich in Unternehmungen der Gemeinwirtschaft wie der „Neuen Heimat“. Die Krise dieser Genossenschaften in den 80er Jahren ging auch an der NGG nicht spurlos vorbei.

In den 90er Jahren, nach der Wiedervereinigung mit der HNG, wurde die Lage nicht einfacher: Die Deindustrialisierung in den ostdeutschen Ländern traf die Gewerkschaftsbewegung hart. Die NGG setzte auf Offensive: Im Brauereistreik in Baden-Württemberg 1991 konnten acht Prozent Lohnerhöhung erkämpft werden. Auch der „Frauenstreik“ in der ostdeutschen Süßwarenindustrie war erfolgreich. In einem Stufenplan wurde 1995 die Anpassung der Entgelte an das West-Niveau festgeschrieben. 

Trotzdem: Die Bedeutungszunahme gewerkschaftsfeindlicher Unternehmen wie McDonald’s, der Niedergang alter Betriebe, etwa im Brauereisektor, und eine generelle Tarifflucht hatten Folgen. Durch die Vereinigung mit der HNG noch auf 431 211 Mitglieder gewachsen, sank die Mitgliederzahl bis 2007 auf 355 863. Wahrscheinlich liegt hier ein Grund, warum die NGG bereits 1999 die Notwendigkeit eines gesetzlichen Mindestlohns erkannte und dafür mobilisierte. Mehr als 16 Jahre später sollte dieses Ziel erreicht werden.

Mehr Informationen

Beate Schreiber/Hans-Christian Bresgott/Daniel König/Constanze Seifert: VOM VORLESER ZUM MINDESTLOHN. Die Geschichte der NGG 1865 bis 2015. Hamburg, VSA 2015. 208 Seiten, 19,80 Euro

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