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Magazin Mitbestimmung

: Brüder, zur Sonne!?

Ausgabe 01+02/2012

POSITIONEN Welcher Energiemix taugt für die Zukunft? Sollen energieintensive Betriebe entlastet werden? Macht die Bundesregierung energiepolitisch einen guten Job? Wir haben einen Fragebogen an drei Gewerkschaften verschickt.

Die Fragen stellte KAY MEINERS.

Erhard Ott, ver.di
Als Mitglied des Bundesvorstandes der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), deren Fachbereich Ver- und Entsorgung er leitet, und als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der E.ON AG verlangt Erhard Ott einen forcierten Ausbau der Infrastruktur sowie sozial gerechte Energiepreise. Er will die Ausnahmeregelungen für die große Industrie in Zukunft deutlich einschränken.

Detlef Wetzel, IG Metall
Die IG Metall organisiert unter anderem die Beschäftigten der Auto- und der Stahlindustrie. Detlef Wetzel, der Zweite Vorsitzende der Gewerkschaft, steht zur ökologischen Modernisierung der Wirtschaft. Er fordert einen Masterplan für die Energiewende – und Sonderkonditionen für energieintensive Betriebe.

Michael Vassiliadis, IG BCE
Als Vorsitzender der IG Bergbau, Chemie, Energie war Michael Vassiliadis der einzige Gewerkschaftsvertreter in der Ethik-Kommission für eine sichere Energieversorgung. Er erklärt, die Konstruktion eines vermeintlichen Widerspruches zwischen dem Allgemeininteresse und dem Interesse der Industrie helfe nicht weiter. Die aktuelle Energiepolitik erfüllt ihn eher mit Skepsis als mit Zuversicht.

Im Jahr 1980 brachte das Öko-Institut Freiburg ein Buch mit dem Titel „Energiewende“ heraus. Damals stand der Begriff für die Abkehr von Atomstrom und Erdöl – und für einen Mix aus heimischer Kohle, Gas, Biomasse und ein wenig Wind- und Solarstrom. Wie definiert man heute den Begriff „Energiewende“?

Erhard Ott, ver.di
Energiewende – das bedeutet die Schaffung eines versorgungssicheren, kostengünstigen, umwelt- und klimaverträglichen Energiesystems, das wesentlich auf erneuerbaren Energien, Kraft-Wärme-Kopplung und Energieeffizienz basiert. Dazu gehört auch die Braun- und Steinkohle. Das Mitte 2011 beschlossene Energiepaket und die im Energiekonzept der Bundesregierung gesetzten Ziele sind noch widersprüchlich und unausgegoren, setzen aber erste Akzente, wie die Energiewende realisiert werden kann. Was fehlt, ist aber ein schlüssiges Energiekonzept, das die unterschiedlichen zentralen und dezentralen Elemente zusammenbringt. Eine besondere Herausforderung bildet die zunehmende und beschleunigte Integration der fluktuierenden Wind- und Solarenergie in die Stromversorgung. Aufgabe der Politik ist die Steuerung der entsprechenden Einzelmärkte. Dies muss so geschehen, dass die gesetzten Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien, der Kraft-Wärme-Kopplung, der Energieeffizienz sowie des entsprechenden Ausbaus der Speicher- und Netzsysteme kostenoptimiert und unter Aufrechterhaltung der erreichten Versorgungssicherheit umgesetzt werden.

Detlef Wetzel, IG Metall
Die Energiewende ist weit mehr als die überfällige Abkehr von der unvertretbar gefährlichen Atomtechnik. Mit der Energiewende verbinden wir eine nachhaltige ökologische Modernisierung unserer Industriegesellschaft. Sie ist eine Chance für die gesamte Metall- und Elektroindustrie, wenn sie konsequent umgesetzt wird. Es geht um neue Technologien und Produkte, die Maßstäbe setzen in Sachen CO2-Reduzierung, Ressourceneffizienz und Kreislaufwirtschaft. Das Ziel muss eine Wirtschaftsweise sein, die langfristig die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit sichert, statt sie auszuhöhlen. Die Beschäftigten der Industriebranchen haben mit ihrer Kreativität und ihren Kompetenzen das Potenzial, aktiv mitzuwirken, diese Vision umzusetzen, gleichzeitig industrielle Forschung und Produktion in Deutschland zu stärken und zukunftsfest zu machen.

Michael Vassiliadis, IG BCE
Die Energiewende steht für das vollständige Umschwenken der Bundesregierung in der Energiepolitik – von längeren Laufzeiten der Kernkraftwerke hin zur Stilllegung aller nuklearen Kraftwerke bis 2021/22. Für die IG BCE bedeutet Energiewende vor allem die Chance, unser Land wirtschaftlich und sozial sowie beim Klimaschutz nach vorne zu bringen. Wir unterstützen das Ziel, innerhalb von zehn Jahren zu einer Energieversorgung ohne Kernkraft zu kommen. Wir wollen gleichzeitig eine sichere Energieversorgung aufbauen, die sich wesentlich aus regenerativen Quellen speist und einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leistet. Auf dem Weg in das Zeitalter einer erneuerbaren Energieversorgung sind moderne Kohle- und Gaskraftwerke als Brücke unverzichtbar.

Kritische Stimmen warnen, der Umbau der Energieversorgung befördere neue Verteilungskonflikte: Regenerative Energien verschaffen Land- und Hausbesitzern Vorteile. Steigende Energiepreise bringen Arme in Bedrängnis. Lebensmittel konkurrieren mit Biosprit um Anbaufläche. Wie können die Gewerkschaften für mehr Gerechtigkeit sorgen?

Erhard Ott, ver.di
Die Energiewende beruht wesentlich auf der kontinuierlichen Marktintegration der erneuerbaren Energien in die Energiesysteme. Bei der Stromerzeugung hat das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) zu höheren Verbraucherpreisen geführt. So entstanden Extraprofite, weil die Erzeugungskosten stärker fielen, als die Förderung angepasst werden konnte. ver.di fordert die Energieversorger auf, die erneuerbaren Energien verstärkt in ihr Erzeugungsportfolio aufzunehmen, denn nur sie sind in der Lage, Belastungen und Vorteile aus dem EEG an alle Kundengruppen gleichermaßen weiterzugeben. Die Versorger müssen zudem flächendeckend Energiedienstleistungsangebote bereitstellen, um den Energieverbrauch zu reduzieren. Besonders kommunale Unternehmen und Regionalversorger sind wegen ihrer dezentralen Struktur dazu gut geeignet. Die im EEG angelegte Kostendegression erzielt schon heute eine kostendämpfende Wirkung. Sie muss verstärkt werden, damit die Mehrbelastung in dem Maße reduziert wird, wie die Marktintegration der erneuerbaren Energien voranschreitet.

Detlef Wetzel, IG Metall
Richtig ist, dass die Förderung erneuerbarer Energien ein Geschäftsmodell für Kapitalbesitzer ist. Allerdings ermöglicht die Dezentralität von Wind- und Solarstrom eine breite Bürgerbeteiligung über Genossenschaftsmodelle und stärkt die Kommunen. Klar ist auch, dass der weitere Umbau nicht umsonst sein wird und nicht nur über die Umlage für Stromverbraucher finanziert werden kann, weil das ärmere Haushalte benachteiligt. Der Umbau braucht einen koordinierten Masterplan sowie ein konsequentes Strompreis-Monitoring unter Beteiligung von Verbänden, Gewerkschaften und der Bundesregierung. Dann können Gewerkschaften an einer sozial gerechten Gestaltung der Energiewende mitwirken. Mit diesem Ziel müssen wir auch die Beschäftigten in den neu entstandenen Branchen und Betrieben aktiv unterstützen, um Mitbestimmung und gute Arbeitsbedingungen durchzusetzen.

Michael Vassiliadis, IG BCE
Die Energiewende ist machbar, wenn sie als wirtschaftlich vernünftiger und sozial gerechter Prozess gestaltet wird. Sonst wird sie scheitern. Derzeit gibt es eher Gründe für Skepsis als für Zuversicht. Denn die Bundesregierung geht die Herausforderungen der Energiewende nicht entschlossen an. Umso wichtiger ist es, dass Gewerkschaften eine nachhaltige Entwicklung einfordern, die auch soziale Fragen befriedigend beantwortet. Wir brauchen einen dauerhaften, tragfähigen gesellschaftlichen und politischen Energiekonsens – auch als Grundlage von Akzeptanz und Verlässlichkeit. Beides ist nicht zuletzt Bedingung für langfristige Investitionsentscheidungen, ob es sich dabei um Gebäudesanierung, Windenergieanlagen, fossile Kraftwerke oder Stromnetze handelt.

Sollen Gewerkschaften sich dafür einsetzen, Großunternehmen und energieintensiven Branchen Subventionen oder Sonderkonditionen zu verschaffen, etwa niedrigere Energiepreise und Ausnahmen beim Emissionshandel? Wenn ja, wie bestimmt man den Punkt, an dem die finanzielle Belastung für die Allgemeinheit den Nutzen für
die Beschäftigten überwiegt?

Erhard Ott, ver.di
Die Politik hat insbesondere die große Industrie weitgehend von den Kostenbelastungen, die die Energiewende mit sich bringt, freigestellt, nicht nur von den Umlagen des EEG und dem Emissionshandel, sondern auch, wie jüngst beschlossen und völlig systemwidrig, von der Zahlung von Netzentgelten. Das geht zulasten der übrigen Verbrauchergruppen, insbesondere der Geringverdiener, die einen hohen Anteil ihres Budgets für Energie ausgeben müssen. Eine solche ungerechte Belastung lehnt ver.di ab. Die Ausnahmeregelungen der großen Industrie müssen deutlich eingeschränkt werden, mit dem Ziel, nur noch in begründeten Einzelfällen Ausnahmen zuzulassen, wenn die Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver Betriebe nachweislich gefährdet wäre.

Detlef Wetzel, IG Metall
Es sind Sonderkonditionen notwendig, um die im internationalen Vergleich sehr hohen Strompreise für die energieintensive Industrie auszugleichen. Die Möglichkeit einer Kompensation der Strompreise, die auch durch den Emissionshandel angestiegen sind, ist für unsere energieintensive Industrie im globalen Wettbewerb dringend erforderlich, um internationale Wettbewerbsnachteile auszugleichen. Nicht nur wegen der Arbeitsplätze, auch aus ökologischem Blickwinkel wäre es eine globale Milchmädchenrechnung, wenn Industriebetriebe hier schließen, um andernorts zu schlechteren Standards zu produzieren. Der globale Aluminium- oder Stahlbedarf würde nicht sinken. Die Betriebsräte sind sich ihrer Verantwortung sehr bewusst. Energieeinsparung und Emissionsvermeidung sind Topthemen auf ihrer Agenda. Finanzielle Belastungen der Allgemeinheit sind gerechtfertigt, wenn es neben dem Ausgleich dieser Nachteile um die Weiterentwicklung innovativer, umweltverträglicher Industrien geht, die den unerlässlichen Strukturwandel von Wirtschaft und Gesellschaft stützen.

Michael Vassiliadis, IG BCE
Eine erfolgreiche Energiewende setzt Investition und Innovation voraus. Das geht nur mit der Industrie und ihren Beschäftigten. Die Konstruktion eines vermeintlichen Widerspruchs zwischen Interessen der Allgemeinheit und der Industrie hilft nicht weiter. Die Beschäftigungs- und Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver Branchen sichert entlang der Wertschöpfungsketten und mit vielen Dienstleistungen unseren gesellschaftlichen Wohlstand. Die energieintensiven Unternehmen und Branchen haben Anspruch auf verlässliche Rahmenbedingungen, um weiterhin innovative und für die Energiewende unverzichtbare Güter in Deutschland herstellen zu können. Dazu gehört eine zuverlässige Stromversorgung zu wettbewerbsfähigen Preisen. Wir sind für Effizienzsteigerung, aber gegen Abwanderung energieintensiver Branchen.

Welche energiepolitische Entscheidung der aktuellen Bundesregierung ist besonders kritikwürdig – und warum?

Erhard Ott, ver.di
Die zunehmende Integration von Wind- und Solarstrom erfordert den forcierten Ausbau der Infrastruktur, insbesondere der Speichersysteme und der Stromnetze auf allen Spannungsebenen. Dies bedingt eine ordnungsrechtliche Flankierung. Die Antwort der Bundesregierung auf diese Herausforderung ist gänzlich unbefriedigend. Sie hat bislang lediglich den Abbau von Verwaltungshemmnissen für den Bau neuer Höchstspannungsleitungen in Angriff genommen. Das Grundproblem, dass dringend erforderliche Neuinvestitionen der Netzbetreiber auf der Verteilungsebene durch die restriktive Genehmigungspraxis der Netzentgelte behindert werden, wird ausgeblendet. ver.di fordert eine grundlegende Reform der Anreizregulierungsverordnung, die derzeit einseitig auf Kostensenkungen ausgelegt ist. Sie muss Investitionen ermöglichen, ohne dass die Netzbetreiber finanzielle Nachteile befürchten müssen.

Detlef Wetzel, IG Metall
Kopfschütteln löst bei uns der Umgang der Bundesregierung mit der Solarindustrie aus. Sie wird zum Kostenbuhmann der Energiewende aufgebaut. Vielleicht um davon abzulenken, dass die Regierung kein wirklich schlüssiges Konzept für die Energiewende hat. Außerdem muss Klarheit über die zu erwartenden Belastungen durch die neue Emissionshandelsperiode hergestellt werden, damit Investitionsentscheidungen am Standort Deutschland wieder getroffen werden. Und wir brauchen Klarheit für die Verbraucher. Die Energiewende droht daran zu scheitern, dass die Regierung ihre Aufgaben nicht anpackt. Es braucht dringend mehr Koordination und Zusammenarbeit von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften, um die Themen Kosten, Netzausbau, Netzintegration, Speicherfähigkeit erneuerbarer und die Rolle der fossilen Energieträger nicht zu zerreden, sondern zu lösen. Wir brauchen eine „nationale Plattform Energiewende“.

Michael Vassiliadis, IG BCE
Der Energiewende fehlt eine sorgfältige Steuerung – zum Beispiel durch ein eigenes Energieministerium. Denn dieses Jahrhundertprojekt ist in der Zersplitterung von Zuständigkeiten kaum erfolgreich zu bewältigen. Niemandem ist damit gedient, wenn die jeweiligen Fachministerien die Chancen dieses Projekts beschreiben, aber für die Risiken fühlt sich keiner zuständig. Es mangelt zudem an definierten und akzeptierten Meilensteinen und einer ständigen Überprüfung der Energiewende – von der Versorgungssicherheit bis zu den Stromkosten. Denn der Aufbau einer neuen Infrastruktur für Energie ist weit schwieriger als das einfache Abschalten der Kernkraftwerke. Dazu gehört die Beteiligung aller wesentlichen Akteure in Wirtschaft und Politik, um Fehlentwicklungen rasch und entschlossen entgegenzuwirken.

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