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Magazin Mitbestimmung

: Brücken, die in die Nachkrisenzeit tragen

Ausgabe 11/2010

INDUSTRIEPOLITIK Die Durststrecke ist geschafft. Doch die Sorge um die Zukunft der industriellen Basis wächst. Ein Plädoyer, den notwendigen Strukturwandel mitzugestalten. Von Astrid Ziegler.

ASTRID ZIEGLER ist Ressortleiterin Industriepolitik beim IG-Metall-Vorstand in Frankfurt/Main.

Die deutsche Wirtschaft erholt sich seit Anfang 2010 überraschend gut. Die Entwicklung zentraler ökonomischer Kennziffern zeigt stetig nach oben. Selbst der Bundeswirtschaftsminister spricht von einem "Aufschwung XL". Die Wirtschaftsforscher sind von der Dynamik überrascht und erhöhen ihre Prognosen von Monat zu Monat. Getrieben ist der überraschend schnelle Aufschwung vornehmlich vom Auslandsgeschäft. Besonders stark ist die Nachfrage dabei in aufstrebenden Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien. Ob dieser Aufschwung nachhaltig ist, bleibt fraglich, weil die wirtschaftliche Entwicklung nach wie vor mit Risiken behaftet ist.

Warum Deutschland die Krise so schnell überwunden hat, wird gewöhnlich durch zwei Faktoren erklärt: Erstens bewährte sich die deutsche Wirtschaftsstruktur. Die viel gescholtene Industrie ist wieder der Motor des Wachstums. Deutsche Investitionsgüter von hoher Qualität sind weltweit gefragt. Zum Glück ist Deutschland nicht Großbritannien oder anderen früheren Industriestaaten gefolgt, die sich von der Produktion verabschiedet und ganz auf Dienstleistungen gesetzt haben. Zweitens konnte sich die deutsche Volkswirtschaft auf einen sozialpartnerschaftlichen Konsens stützen: Im Zusammenspiel von Gewerkschaft, Wirtschaft und Politik wurde die Grundlage dafür geschaffen, dass die deutsche Industrie die Durststrecke durchhielt. Im Aufschwung profitieren die Betriebe davon, dass sie die Belegschaft gehalten haben. Die Produktion konnte sofort wieder hochgefahren und die Aufträge abgearbeitet werden.

Dabei wird gerne übersehen, dass die Weltwirtschaftskrise in Deutschland und weit darüber hinaus dafür gesorgt hat, dass ein bisher aus neoliberaler Sicht ungeliebtes Politikfeld, nämlich die Industriepolitik, wieder salonfähig wurde. Mit Rettungsaktionen (Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung SoFFin, zwei Konjunkturprogramme inklusive Deutschlandfonds), die in der deutschen Wirtschaftsgeschichte beispiellos sind, griff die Bundesregierung nicht nur den Kreditinstituten, sondern auch der Realwirtschaft unter die Arme. Über Entlastungen für Unternehmen und Maßnahmen zur Beschäftigungssicherung sollten diese der Wirtschaft eine Brücke in die Zeit nach der Krise bauen.

Diese Hilfsmaßnahmen zeigten ihre Wirkung. Die im Wesentlichen von der IG Metall initiierte Abwrackprämie beim Kauf eines Neuwagens war dabei die schnellste und wirkungsvollste aller Konjunkturmaßnahmen. Sie wurde sogar ein Exportschlager und war in vielen Ländern Vorbild für staatliche Förderprogramme. Zudem soll - ausgestattet mit 500 Millionen Euro aus dem Konjunkturpaket II - Deutschland zum Leitmarkt für Elektromobilität werden. Im Jahr 2020 sollen eine Million Elektrofahrzeuge auf Deutschlands Straßen fahren. Die Etablierung der "Nationalen Plattform Elektromobilität" im Mai 2010 zielt darauf, die Wettbewerbsfähigkeit durch Innovationen entlang der gesamten Wertschöpfungskette in Deutschland zu erhalten und auszubauen sowie die zentralen Akteure zu vernetzen. Das Elektroauto soll nicht nur in Deutschland entwickelt, sondern auch gebaut werden. Das setzt auch Investitionen in Aus- und Weiterbildung voraus.

REGIONALPOLITISCH UNTERFÜTTERTE INITIATIVEN_ Die Bundesländer kamen unterschiedlich durch die Weltwirtschaftskrise. Insbesondere die stark vom Export abhängigen Standorte mit hohem Industriebesatz in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg oder Bayern leiden zum Teil bis heute unter den Folgen. Deshalb haben auch die Bundesländer Maßnahmen ergriffen, um Standorte und Arbeitsplätze zu sichern und langfristig nachhaltige Alternativen zu entwickeln. Die IG Metall hat die Bezirke eng in die Krisenberatung der Taskforce des Vorstandes eingebunden. Das Expertennetzwerk wird zur Krisenberatung eingesetzt, aber auch zur Entwicklung von Zukunftskonzepten. Und mit "Besser statt billiger"-Strategien wird dem Druck auf die Arbeits- und Entgeltbedingungen und den Flexibilisierungsmaßnahmen entgegengetreten.

In vielen Regionen wurde die Krise als Bedrohung für die eigene Wettbewerbsfähigkeit erfahren. Dadurch stieg auch der Druck in den IG-Metall-Verwaltungsstellen, regionalpolitisch tätig zu werden. In Regionen, die auf bewährte strukturpolitische Netzwerke bauen konnten, wurden innovative Lösungen beschäftigungssichernder Krisenbewältigung entwickelt - wie die Regionen Stuttgart, Nürnberg oder Heilbronn anschaulich belegen. In diesen Regionen wirkte die IG Metall mit eigenständigen Konzepten an der Sicherung der industriellen Basis mit, viele industrie- und regionalpolitische Impulse gingen von ihr aus. In anderen Regionen, zum Beispiel in Bonn-Rhein-Sieg, wurde die Krise genutzt, um die Öffentlichkeit für die Belange des Industriestandorts zu sensibilisieren und zu thematisieren, dass es nicht ausreicht, nur auf internationale Organisationen oder auf einen reinen Forschungs- und Dienstleistungsstandort zu setzen.

Trotz der Widersprüche zwischen dem staatlichen Handeln in der Krise und der politischen Grundüberzeugung vor der Krise, dass es der Markt schon richten wird, haben viele Akteure und staatliche Stellen rasch und unkonventionell gehandelt. Noch ist nicht erkennbar, wie und ob die pragmatische Herangehensweise in eine grundsätzlich andere Wirtschafts- und Industriepolitik überführt werden kann, die auch im derzeitigen Aufschwung Bestand hat. Denn eine Aktivierung des Dialogs zwischen Politik, Wirtschaft und Gewerkschaft in bedeutenden Branchen der deutschen Wirtschaft - wie jüngst vom Bundeswirtschaftsminister im Branchendialog mit der Chemieindustrie wiederbelebt und wie im Dezember 2010 im Maschinenbau geplant - reicht nicht aus.

Doch die Ankündigung des Bundeswirtschaftsministers, den Deutschlandfonds Ende 2010 auslaufen zu lassen, legt die Vermutung nahe, dass er die Rückkehr zur alten Tagesordnung vorbereitet. Die Stimmen mehren sich, dass der Staat nach den wirtschaftspolitischen Rettungsaktionen wieder mehr Zurückhaltung üben und auf direkte Eingriffe in die Märkte verzichten solle. Der Staat solle lediglich die ökonomischen Rahmenbedingungen verbessern, beispielsweise für niedrigere Steuern, Abbau von Bürokratie oder eine neue Gründungsoffensive sorgen. Der Ruf nach einem aktiven Staat scheint schon wieder den neoliberalen Denkmustern zu weichen, die Auslöser der Krise waren.

DER INDUSTRIELLE KERN_ Auch über die Krise hinaus braucht Deutschland eine aktive Industriepolitik, die den industriellen Kern seiner Wirtschaft, die Innovationskraft und die Exporte stärkt. Ohne eine Industriepolitik geht die Bedeutung der Industrie schleichend zurück. Die Investitionsquote im Land sinkt, Unternehmen verlagern Betriebe und Arbeitsplätze ins Ausland. Nicht nur einfache Jobs, auch anspruchsvolle Arbeit in Forschung und Entwicklung wandern ab. Das ist ein gefährlicher Trend, weil der starke Maschinenbau, die Autoindustrie und die chemische Industrie dafür stehen, dass Deutschland die Finanz- und Wirtschaftskrise besser überstanden hat als andere. Die Krise lehrt, dass die industrielle Substanz erhalten werden muss.

Durch die Weltwirtschaftskrise wurden die Karten auf den Weltmärkten neu gemischt. Ob Deutschland nachhaltig gestärkt daraus hervorgeht, ist eine offene Frage. Die Branchen, Regionen und Unternehmen sind heterogener geworden - auch die Metall- und Elektroindustrie. Die Autoindustrie boomt und bereitet sich auf den Übergang zur Elektromobilität vor, der Schiffbau kämpft noch mit den Krisenfolgen - es gibt nicht nur große Unterschiede zwischen den Branchen, sondern auch innerhalb einer Branche. Die Gießerei-, Bergbau- und Textilmaschinenindustrien blicken auf gefüllte Auftragsbücher, gleichzeitig haben die Landmaschinen- und die Industriearmaturenindustrie mit anhaltenden Problemen zu kämpfen. Für andere, die Bahnindustrie zum Beispiel, ist damit zu rechnen, dass die Krise erst 2011 ankommt.

Der Wettbewerbsvorteil der deutschen Industrie besteht darin, in den Wachstumsländern vollständige Systemlösungen zur Produktion anzubieten, nicht nur einzelne Produkte und Maschinen. Diese Fähigkeit, Produkt, Prozess und Netzwerk zu kombinieren, gehört zu den Stärken des Industriestandorts Deutschland. Sie kann und muss ausgebaut werden. Hoch qualifizierte Beschäftigte sorgen dafür, dass diese Trumpfkarte vorhanden ist und im internationalen Wettbewerb ausgespielt werden kann.

Gleichzeitig haben sich die komparativen Vorteile Deutschlands bei forschungsintensiven Waren in den letzten Jahren verringert. Der internationale Wettbewerbsdruck nimmt massiv zu. Wie Deutschland verfolgen die Schwellenländer und andere Industriestaaten auch eine Highroad-Strategie mit einer Forcierung von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten sowie dem Ausbau von Bildungsinvestitionen. Vor allem die Schwellenländer bauen Industrien auf, in denen Deutschland stark ist. Das gilt für die Bahnindustrie, den Schiffbau und die Automobilindustrie. Das gilt auch für die Investitionsgüterindustrie. Deutschland kann sich nicht auf dem Erfolg nach der Krise ausruhen.

GEWINNER UND VERLIERER_ Eine aktive Industriepolitik bedeutet, den Strukturwandel zu gestalten. Das bedeutet aber mehr, als sich nur auf Forschung und Entwicklung sowie auf die Schaffung infrastruktureller Voraussetzungen zu konzentrieren. Es geht auch darum die Zeit zu nutzen, um
- Beschäftigte zu qualifizieren und denjenigen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, bei der Suche nach neuen Arbeitsplätzen zu helfen
- Betriebe bei der Produktionsumstellung zu unterstützen
- Produktionsstandorte aufzubauen und Standorten, die Produktion verlieren, mit regionalpolitischen Instrumenten unter die Arme zu greifen
- mit den Branchenakteuren zukünftige Alternativszenarien zu erarbeiten
- und einen verlässlichen makroökonomischen Rahmen in der Wirtschafts-, Steuer und Handelspolitik zu schaffen.

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