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Filmemacher und FotografJonas Walter Service aktuell

Grimme-Preis für Böckler-Altstipendiat: „Ich mache Filme, keine Pamphlete“

Böckler-Altstipendiat Jonas Walter über seinen Kinofilm „Tamara“, den Grimme-Preis – und sein eigenes Leben.

[24.04.2024]

Das Gespräch führte Kay Meiners

Ihr Abschlussfilm „Tamara“ ist mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden. Wie haben Sie von der Nominierung erfahren?

Durch die Nachricht eines Redakteurs: Es war ein sonniger Wintertag, und ich mit einem Freund zum Wandern am Stechlinsee. Später wurde ich wie die anderen Nominierten eingeladen. Ich fuhr hin und merkte, dass die Jury sehr interessiert war. Einige Zeit später kam der Anruf. Toll, dass es dann wirklich geklappt hat. Unser kleines studentisches Projekt, in einer Reihe mit Böhmermann & Co.

Sie haben als Fotograf angefangen. Ein Kinofilm von 93 Minuten ist schon eine Hausnummer.

Ja, eine Riesenarbeit – mit einem Team, das noch nie zusammengearbeitet hat. Ein Kinofilm als Abschlussfilm an einer Hochschule ist nicht selbstverständlich. Man muss alles geben, alles anwenden, was man gelernt hat. In kurzer Zeit. Geschrieben habe ich 2019, und gedreht haben wir 2021. Das ist wahnsinnig schnell. Das Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung hat mir das möglich gemacht. Das ZDF und die Landesfilmförderung haben den Film finanziert.

Zur Person

Jonas Ludwig Walter, geboren 1984 in Potsdam-Babelsberg, ist Fotograf, Filmregisseur und war Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung. Walter hat an der Ostkreuzschule für Fotografie und Gestaltung Fotografie studiert. Von 2013 bis 2022 studierte er Film- und Fernsehregie an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf und war 2015 und 2016 Gaststudent an der Kunsthochschule Havanna. Als freier Fotograf arbeitet er unter anderem für den Stern, die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, die NZZ und chrismon und drehte Werbefilme für Verdi und den Taschen-Verlag.

Die Geschichte, die in „Tamara" erzählt wird, ist sehr nahe an Ihrer eigenen – bis zum Unfalltod des Vaters, von dem bekannt wird, dass er nicht der leibliche Vater ist.

Ja. An dem Tag, an dem ich die Zusage der Filmhochschule im Briefkasten hatte, kam mein Vater bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Ich erinnere mich an ein Bild: Ich stehe am Sarg meines Vaters. Darin ist eine verkohlte Leiche, tiefgefroren, in einem Plastiksack, der mit Edding beschriftet ist. Ich wusste damals schon, dass ich dieses Bild irgendwann drehen würde. Am nächsten Tag legte ich mich auf der Autobahn an die Stelle, wo mein Vater starb. Auch Tamara macht das im Film.

Waren diese Szenen nicht unglaublich schmerzhaft?

Die Szenen rund um den Unfalltod waren beim Drehen kein Schock mehr. Damit hatte ich mich sieben Jahre auseinandergesetzt. Der Dreh war an anderen Stellen herausfordernder: Neu und viel schmerzhafter war es, die Beziehungen in einem Milieu zu rekonstruieren, das so nah an meinem war – die Alltagsdialoge und die Wohnung, die aussieht wie die Wohnung meiner Eltern. Ich dachte, ich nehme für den Film meine eigene Geschichte, da kenne ich mich aus. Das war gnadenlos naiv.

Ihre Eltern haben Sie angelogen, ebenso wie die Eltern von Tamara, der Hauptfigur im Film.  Ihr Vater war nicht ihr biologischer Vater.

Mein Vater war mein Vater, er hat mich sozusagen mit der Geburt adoptiert. Nur genetisch war er es nicht. Meine Eltern haben eine Geschichte erzählt, die funktioniert hat und stimmig war. Meine Mutter hat zu mir gesagt: Ich wollte einen Vater für Dich, der auch da ist, und keinen, der weg ist. Das finde ich sehr stark! Jede Erzählung schafft auch ihre eigene Wahrheit. Deshalb ist es so wichtig, wer was und wie erzählt.

Tamara, die Hauptfigur im Film, ist eine Frau um die 30. Sie sagt zu ihrer Mutter über die DDR: „Ich kenne dieses Land nicht, aber ich komme auch daher“. Das trifft auch für Sie zu.

Ich war fünf Jahre, als die DDR aufhörte zu existieren. Ich erinnere mich nur an Bagger, die die Mauer einrissen – und an Sowjetsoldaten mit großen Mützen. Ich habe nichts von dem Staat mitbekommen und auch nichts verstanden. Aber ich habe gespürt, wie verunsichert meine Eltern waren, und dass es Existenz- und Deutungskämpfe gab. Sie dauern teilweise bis heute an. Gleichzeitig wurde meine ästhetische Prägung noch von der Kultur der DDR bestimmt, den Büchern und Schallplatten, aber auch von dem Bildungskanon, gewissen Verhaltensweisen.

Dann kam der Westen in den Osten, begleitet von neuen Erzählungen. Wie haben Sie die neuen Schulbücher erlebt?

Die stringente Geschichte, die ich in der Schule lernte, von Adenauer über die 68er, RAF, die Grünen, bis zur Wiedervereinigung, mit der DDR als Randerscheinung, passte nicht mit dem zusammen, was ich zu Hause hörte, mit meiner eigenen Familiengeschichte. Das war ja nicht irgendein „Drüben“, sondern unser Leben. Die Bilder im Geschichtsbuch passten nicht zu denen im Familienalbum.

Privates und Politisches mischen sich in „Tamara“. Würden Sie sagen, es ist ein gesellschaftskritischer Film?

Unbedingt. Nicht nur das Private ist politisch, sondern das Politische ist auch privat. Gerade die Ostbiografien sind beeinflusst von den politischen Umständen. Das wollte ich erzählen. Sie sind ein Beispiel, dass es mehrere Erzählungen einer Geschichte gibt und wie konkret abstrakte politische Entscheidungen sind. Ich wünsche mir eine Geschichtserzählung, die Widersprüche und Gleichzeitigkeiten aushält und ins Zentrum stellt. Die Gleichzeitigkeit unserer Geschichte, die verschiedenen Erzählungen, sind die Stärke, weil sie immer neue Perspektiven und also auch Möglichkeiten aufmachen, die Gesellschaft zu gestalten. Damit meine ich natürlich nicht nur Ost und West, sondern auch andere Blickwinkel, zum Beispiel migrantische.

Ihr Blick auf die Gegenwart ist recht düster, und das Bild wird garniert mit Szenen, die man kapitalismuskritisch lesen kann. Da wird im Supermarkt geklaut, weil es „sowieso eingepreist ist.“

Kapitalismuskritik finde ich nicht zwingend düster. Die Szene, in der der Vater ein Überraschungsei klaut und sagt, das sei doch kalkuliert, ist ein schöner Moment zwischen den Figuren der Familie. Und er erzählt in einem kleinen Spaß, ganz beiläufig, wie diese Figur meint, den Kapitalismus begriffen zu haben. So etwas liebe ich.

Ich bin links und möchte auch linke Perspektiven einbringen – aber nicht mit Pamphleten, das können die Gewerkschaften besser. Ich arbeite mit konkreten Figuren und dramaturgischen Mitteln des Films. In „Tamara“ erzähle ich von universell menschlichen Problemen, vor dem gesellschaftlichen Hintergrund des heutigen Ostdeutschlands.

  • Foto aus dem Film Tamara

In dem Film wird viel gestritten und ebenso viel geschwiegen.

Wenn jemand seine Geschichte nicht erzählen kann, wenn sie oder er nicht gehört wird und immer wieder von anderen interpretiert wird, vermauert man sich. Es gab nach 1989 eine unglaubliche Interpretationswut gegenüber ostdeutschen Biografien: „Du warst entweder im Widerstand oder mit Schuld an der Stasi.“ Statt mit ihren Biografien gesehen und akzeptiert zu werden, wurden viele Menschen auf allen Ebenen delegitimiert. Und jetzt kommt die Tochter an und stellt Fragen, in demselben Wortlaut, den sie eben gelernt hat. Klar, dass das schwierig wird.

Die Menschen haben in einer Diktatur gelebt. Das zu sagen, ist kein persönlicher Vorwurf, oder?

Alles im Osten musste abgewertet werden, um den Systemwechsel zu vollziehen. Es gab wenig Verständnis dafür, dass diese Menschen ein normales Leben gelebt haben. Dann hieß es: Naja, die Toskana ist schon schöner als die Ostsee. Aber da konntet ihr ja nicht hin. Da haben manche reagiert, indem sie sagten: Lass mich in Ruhe, ich erzähle gar nichts mehr.

Schweigen ist auch keine Lösung.

Es ist vor allem schlecht für den Zusammenhalt. Man muss miteinander reden, auch wenn es schwer ist. In der Gesellschaft wie im Privaten geht es um Teilhabe, darum, dass auch andere Erfahrungen gesehen werden. Man könnte auch sagen: Mitbestimmung. Ich mochte, dass Tamara nun im Privaten von ihrer Mutter einfordert, was diese selbst politisch eingefordert und nicht bekommen hat.

Im Film gelingt die Verständigung der Tochter Tamara mit der Mutter Barbara nicht.

Sie gehen ihren Weg miteinander – wer weiß wohin. Nach 1989 ist es die Mutter, die die Vergangenheit nicht einfach abstreifen kann und nicht alles wegwerfen mag. Nach dem Tod des Vaters ist es Tamara, die versucht, das Elternhaus vor dem Verkauf und Erinnerungsstücke zu retten, während die Mutter die Kleider in den Container wirft, um zu begreifen, dass ihr Mann tot ist. Tamara erlebt jetzt das, was ihre Mutter erlebt hat. Alles ändert sich. Es geht im Grunde zu schnell, und Menschen brauchen Zeit, um mit neuen Umständen umzugehen. Wieder spiegelt sich im Privaten das Gesellschaftliche.

  • Bild aus dem Film Tamara

Im Film betreibt ein Jugendfreund Tamaras im früheren Kulturhaus einen amerikanischen Linedance-Club, er macht auch Immobiliengeschäfte.

Der Betreiber des Clubs verkörpert für mich eine Art Mensch, die in jeder Gesellschaft zurechtkommt. Er zitiert Engels, hat sich der Hilfe von Neonazis bedient, wenn es seinen Geschäften nutzte. Heute ist er Bauunternehmer. Ein Opportunist. Auch die gibt es ja überall.

Hand aufs Herz, welcher Figur im Film gehört Ihre Sympathie? Der Mutter, der Sie eine Stimme geben, oder Tamara, die mehr wissen will?

Das ist das zentrale Dilemma: Ich selbst bin aufgewachsen mit der Idee, meine Eltern beschützen zu wollen. Es gibt also eine Grundloyalität zur Mutter, auch im Film. Aber in Tamara steckt mehr von mir – sie verkörpert meine Generation. Es ist unsere Aufgabe, die zurechtgelebte Geschichte einzureißen. Sie ist die Hauptfigur, aber ich habe sie bewusst nicht als „die Gute“ angelegt. Sie hat auch Eigenarten, die nicht nur positiv sind.

Gestatten Sie zum Schluss eine sehr private Frage: Wie geht ihre Mutter mit dem Film um?

Während ich geschrieben habe, haben wir viel gesprochen. Viele Sätze stammen von ihr. Irgendwann sagte sie zu mir: „Junge, frag Dich nicht, wie es mir gefällt: Sonst kann der Film ja nicht gut werden.“ Das war sehr mutig! Ich sehe den Film auch als Geschenk an Frauen wie sie – eines, was sicher nicht leicht ist, anzunehmen.

  • Filmplakat Tamara

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