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Bewährtes Mittel zur Konfliktlösung Böckler Impuls

Streiks: Bewährtes Mittel zur Konfliktlösung

Ausgabe 08/2023

Die Zahl der Streiks in Deutschland hat zugenommen. Im internationalen Vergleich liegt die Bundesrepublik aber immer noch im unteren Mittelfeld. Insgesamt hat hierzulande etwa jeder Sechste schon einmal an einem Streik teilgenommen.

Im Jahr 2022 fanden in Deutschland insgesamt 225 Arbeitskämpfe statt. An den Arbeitsniederlegungen beteiligten sich 930 000 Streikende. Rechnerisch fielen 674 000 Arbeitstage aus. Im Vergleich zum Jahr 2021, in dem 221 Arbeitskämpfe mit 909 000 Streikenden und 596 000 Ausfalltagen registriert wurden, hat das Arbeitskampfgeschehen damit leicht zugenommen. Im längerfristigen Vergleich entsprach das eher einem mittleren Niveau, wie die WSI-Arbeitskampfbilanz 2022 zeigt. „Streiks sind in Deutschland nicht nur ein demokratisches Grundrecht der Beschäftigten, sondern auch ein normales Ins­trument der Konfliktregulierung, ohne das die Tarifautonomie nicht funktionieren würde“, sagt Thorsten Schulten, Leiter des WSI-Tarif­archivs und Mitautor der Studie.

Bei der überwiegenden Zahl der Arbeitskämpfe handelte es sich 2022 um auf einzelne Betriebe begrenzte Auseinandersetzungen. Häufig ging es darum, Unternehmen zum Beitritt zu bestehenden Branchentarifverträgen zu bewegen, nicht selten aber auch darum, überhaupt eine Tarifbindung zu erreichen. Ein prominentes Beispiel ist der dänische Windkraftanlagenhersteller Vestas, der erst nach einem fast viermonatigen Streik zu Tarifverhandlungen bereit war.

Erfahrungen mit Streiks weit verbreitet

Die Zahl der Streikenden und das Arbeitskampfvolumen, also die Anzahl der Ausfalltage, wurden dagegen von den großen branchenweiten Tarifrunden bestimmt. Die umfangreichsten Aktionen fanden in der Metall- und Elektroindustrie statt. Größere Auseinandersetzungen gab es auch an den Unikliniken in Nordrhein-Westfalen, im Sozial- und Erziehungsdienst sowie in den Seehäfen.

So wird die Streikbilanz berechnet

Die WSI-Arbeitskampfbilanz ist eine Schätzung auf der Basis von Gewerkschaftsangaben und Medienberichten. Warnstreiks, insbesondere wenn sie örtlich begrenzt sind, werden nicht von allen Gewerkschaften erfasst. Auch Streiks außerhalb der Tarifauseinandersetzungen, zum Beispiel betriebliche Proteststreiks, werden nur in Ausnahmefällen dokumentiert. Die Zahl der arbeitskampfbedingten Ausfalltage ist ein rechnerischer Wert, in den neben den von den Gewerkschaften gemeldeten personenbezogenen Streiktagen auch die vom WSI geschätzten Arbeitsausfälle durch Warnstreiks ohne Streikgeldzahlungen eingehen.

Erstmals werden in der WSI-Arbeitskampfbilanz auch empirische Befunde zu den Streikerfahrungen der Beschäftigten in Deutschland vorgestellt, die im Rahmen der Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung erhoben wurden. Danach verfügen 17 Prozent der Beschäftigten über eigene Streikerfahrung, etwa die Hälfte dieser Personen hat sich sogar mehrfach an Streiks beteiligt.

Während 22 Prozent der Männer angeben, schon einmal an einem Streik teilgenommen zu haben, sind es bei den Frauen nur 13 Prozent. Dies liege daran, dass sich bisher vor allem in eher männerdominierten Branchen wie der Metall- und Elektroindustrie oder dem Verkehrssektor viele Beschäftigte an Arbeitsniederlegungen beteiligt hätten, heißt es in der Studie. In den vergangenen Jahren hätten Arbeitskämpfe aber zum Beispiel im Sozial- und Gesundheitswesen, wo viele Frauen arbeiten, deutlich zugenommen. Wenig überraschend ist die Streikerfahrung bei Gewerkschaftsmitgliedern mit 49 Prozent deutlich höher als mit 11 Prozent bei Nichtmitgliedern. Zwischen Ost- und Westdeutschland gibt es im Hinblick auf die Streikerfahrung kaum noch Unterschiede.

Deutschland international im Mittelfeld

In der internationalen Streikstatistik, die arbeitskampfbedingte Ausfalltage je 1000 Beschäftigte vergleicht, liegt Deutschland nach wie vor im unteren Mittelfeld. Nach Schätzungen des WSI fielen hierzulande im Zeitraum von 2012 bis 2021 im Jahresdurchschnitt rechnerisch gut 18 Arbeitstage je 1000 Beschäftigte durch Arbeitskämpfe aus. Neuere Daten liegen nicht vor. Spitzenreiter ist Belgien, wo zwischen 2012 und 2021 im Jahresdurchschnitt knapp 96 Ausfalltage je 1000 Beschäftigte zu verzeichnen waren. Dahinter folgen Frankreich und Kanada.

Diesem Trio folgt ein oberes Mittelfeld, zu dem neben Spanien die drei nordeuropäischen Länder Dänemark, Finnland und Norwegen zählen. Hier fielen im Vergleichszeitraum durchschnittlich jeweils rund 50 Arbeitstage je 1000 Beschäftigte aus. Im unteren Mittelfeld liegen die Niederlande, Deutschland, Irland, Polen, Portugal und das Vereinigte Königreich. Mit den USA beginnt dann die Gruppe der Länder, in denen im Jahresdurchschnitt weniger als 10 Arbeitstage durch Arbeitskämpfe ausgefallen sind. In Österreich, der Schweiz sowie der Slowakei stellen Streiks die absolute Ausnahme dar.

Ausblick 2023: Immer mehr Streiks?

Für das Jahr 2023 deuten bereits in den ersten Monaten hohe Warnstreikbeteiligungen bei Post, Bahn und im öffentlichen Dienst darauf hin, dass das Arbeitskampfvolumen noch einmal deutlich zunehmen könnte. Allein am gemeinsamen „Megastreiktag“ von Verdi und EVG im März 2023 bei Bussen und Bahnen haben sich nach Gewerkschaftsangaben mehr als 150 000 Beschäftigte beteiligt. Bei der Deutschen Post wäre es nach einer erfolgreichen Urabstimmung beinahe zu einem unbefristeten Streik gekommen, wenn nicht in letzter Minute ein deutlich verbessertes Arbeitgeberangebot einen Tarifkompromiss ermöglicht hätte. Im öffentlichen Dienst konnte ein sogenannter Erzwingungsstreik nur durch eine Schlichtung abgewendet werden, die schließlich – vorbehaltlich der Zustimmung der Gewerkschaftsmitglieder – zur Grundlage eines Tarifabschlusses wurde. 

„Vor dem Hintergrund historisch hoher Inflationsraten hat sich der Verteilungskonflikt deutlich intensiviert“, erläutert Tarifexperte Schulten. „Hinzu kommt, dass der zunehmende Arbeits- und Fachkräftemangel die Verhandlungsposition der Beschäftigten stärkt und damit auch die Bereitschaft fördert, sich an Arbeitskampfmaßnahmen zu beteiligen.“ Das müsse aber nicht zwangsläufig zu mehr Streiks führen. Vielmehr seien vor allem die Arbeitgeber in der Verantwortung, der aktuellen Arbeitsmarktsituation durch angemessene Angebote Rechnung zu tragen.

Heiner Dribbusch, Marlena Sophie Luth, Thorsten Schulten: WSI-Arbeitskampfbilanz 2022. Streiks als normales Instrument der Konfliktregulierung bei Tarifauseinandersetzungen, WSI-Report Nr. 83, Düsseldorf, April 2023

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