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Wo Verhandeln allein nicht reicht Böckler Impuls

Arbeitskämpfe: Wo Verhandeln allein nicht reicht

Ausgabe 14/2025

Die Wiederherstellung des realen Lohnniveaus nach einer hohen Inflationswelle kostet viel Zeit und Kraft. Dafür waren auch 2024 viele Streiks nötig. Teils unter schwierigen Bedingungen.

Im vergangenen Jahr zählte das WSI 286 Arbeitskämpfe. Das waren 26 weniger als 2023. Dennoch blieb die Anzahl der Konflikte im langjährigen Vergleich hoch, so die WSI-Forscher Thilo Janssen, Heiner Dribbusch und Thorsten Schulten in ihrer jüngsten Arbeitskampfbilanz. An Streiks teilgenommen haben 2024 nach ihren Berechnungen 912 000 Personen, 55 000 mehr als im Vorjahr. Allerdings lag die Zahl der arbeitskampfbedingt ausgefallenen Arbeitstage mit 946 000 deutlich unter dem Vorjahreswert von rund 1,5 Millionen. Hintergrund: Die Streiks waren 2024 im Schnitt deutlich kürzer als 2023. Vor allem breite Warnstreiks in der Metall- und Elektroindustrie führten zu Arbeitsniederlegungen mit vielen Teilnehmenden, aber überschaubarer Dauer. 

„Das Arbeitskampfjahr 2024 war weiterhin geprägt von dem Versuch der Gewerkschaften, die teils massiven Reallohnverluste während der Inflationskrise auszugleichen“, schreiben die Wissenschaftler. Beschäftigte in Branchen, in denen Tarifverträge mit langen Laufzeiten galten, mussten sich gedulden, bis sie einen Ausgleich für die gestiegenen Lebenshaltungskosten aushandeln konnten. So galt etwa in der Bauwirtschaft noch der Abschluss von 2021. Im vergangenen Jahr kam es dann zur ersten „großen Streikbewegung im Bauhauptgewerbe seit 20 Jahren“. 

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Im Jahr 2024 haben 912000 Personen an Streiks teilgenommen, das sind 55000 mehr als im Vorjahr.
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Nicht in allen Arbeitskämpfen ging es ausschließlich oder in erster Linie ums Geld. Zunehmend schlagen sich im Streikgeschehen auch „Transformationskonflikte“ nieder, wie die Forscher beobachtet haben. Das prominenteste Beispiel dafür sind die Auseinandersetzungen bei VW, wo das Management betriebsbedingte Kündigungen und Standortschließungen angekündigt hatte. Nach Warnstreiks und langen Verhandlungen ist dies vorerst abgewendet.

Oft standen auch die Arbeitsbedingungen im Mittelpunkt. Zum Beispiel Arbeitszeiten, Urlaubstage, Ausgleich für Schicht- und Nachtdienste oder die Reduzierung unbezahlter Wartezeiten im öffentlichen Personennahverkehr. So ging es bei den Berliner Verkehrsbetrieben unter anderem darum, die Mindestwendezeiten heraufzusetzen – also die Erholungszeit, die Bus- oder U-Bahnfahrenden an der Endstation zugestanden wird, bevor sie wieder in die Gegenrichtung starten müssen. 

Mit 946000 lag die Zahl der arbeitskampfbedingt ausgefallenen Arbeitstage deutlich unter dem Vorjahreswert von rund 1,5 Millionen.
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Warnstreiks auf Unternehmensebene sind am häufigsten

Die meisten Arbeitskämpfe fanden 2024 nicht im Rahmen von Flächentarifverhandlungen statt, sondern auf Haus-,‌ Firmen- oder Konzernebene. Das erklären Janssen, Dribbusch und Schulten damit, dass sich in den vergangenen Jahren viele Unternehmen aus Flächentarifverträgen zurückgezogen haben, worauf sich die Gewerkschaften bemühten, Haustarifverträge abzuschließen. Dies gelinge zwar häufig, dennoch hätten diese sogenannten Häuserkämpfe nur einen begrenzten stabilisierenden Effekt für das gesamte Tarifsystem. Sie finden überwiegend in kleinen und mittleren Unternehmen statt und sind mit einem erheblichen Ressourcenaufwand verbunden. Weitere Streiks gehen auf gewerkschaftliche Anstrengungen zurück, auch in bislang tariflosen Betrieben Tarifverträge zu etablieren. 

Auch wenn an den Warnstreiks in der Industrie mehr Beschäftigte teilgenommen haben, fanden die meisten Arbeitsniederlegungen 2024 in Dienstleistungsbranchen beziehungsweise -betrieben statt. So kommt das WSI auf 137 Arbeitskämpfe im Organisationsbereich von Verdi und 72 bei der IG Metall. Bei den allermeisten Streiks handelt es sich übrigens um Warnstreiks. Unbefristete Erzwingungsstreiks mit vorangegangener Urabstimmung, „aus Gewerkschaftssicht die höchste Eskalationsstufe eines Arbeitskampfes“, sind in Deutschland bereits seit längerem die Ausnahme. 

Von 2014 bis 2023 fielen in Deutschland im Durchschnitt jedes Jahr 21 Arbeitstage pro 1000 Beschäftigte durch Streiks aus. Damit liegt Deutschland im internationalen Vergleich im Mittelfeld.
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Oft konnten die Beschäftigten ihre Interessen im vergangenen Jahr mithilfe von Arbeitsniederlegungen zumindest teilweise durchsetzen. Jedoch gelang das nicht immer. So musste etwa der Kampf um einen Tarifvertrag bei der Schrott- und Recyclingfirma SRW Metalfloat im Frühjahr 2024 nach 180 Tagen Streik sowie einer anschließenden Aussperrung erfolglos beendet werden. Die Auseinandersetzungen bei Amazon oder Zalando, die sich beide Tarifverträgen verweigern, ziehen sich seit Jahren hin. Auch hier haben Arbeitsniederlegungen bisher nicht gefruchtet.

Arbeitgeber ziehen öfter vor Gericht

Die Forscher resümieren: „Oft sind es vor allem die Arbeitgeber, die keine kompromissfähigen Angebote vorlegen und damit der Gewerkschaftsseite keine Handlungsalternative lassen.“ Deutlich geworden sei dies zuletzt auch „in der Bauindustrie, wo die Arbeitgeber das Ergebnis einer Schlichtung ablehnten, oder bei den öffentlichen Rundfunkanstalten, wo sich die Arbeitgeber sogar einer Schlichtung verweigerten“. Kritisch sehen Janssen, Dribbusch und Schulten zudem die sich häufenden Versuche von Arbeitgebern, Streiks nicht durch Verhandlungen, sondern durch Anrufung von Gerichten abzuwehren. Dafür beauftragen Unternehmen häufig spezialisierte Großkanzleien, was auf der Seite der Gewerkschaften Ressourcen bindet und den Einsatz des Druckmittels Streik in manchen Fällen riskant macht. Denn durch das im Grundsatz restriktive, in vieler Hinsicht aber nicht detailliert ausbuchstabierte deutsche Streikrecht besteht die Gefahr, dass ein Streik für unzulässig erklärt wird und die Arbeitgeber hohen Schadenersatz fordern. Etwa wenn ein Streik mehrere Ziele gleichzeitig verfolgt, von denen das Gericht ein einzelnes für ungerechtfertigt erachtet.

HSI-Direktor Ernesto Klengel und sein Kollege Laurens Brandt sehen darin eine Gefahr für die Streikfreiheit. Zwar halten sie es für unwahrscheinlich, dass die in den vergangenen Jahren etwa von der FDP formulierten Vorschläge zur weiteren Beschränkung des Streikrechts umgesetzt werden. Aber: „In der Diskussion um das Arbeitskampfrecht werden die vielen juristischen Hürden und Einschränkungen, die für die Durchführung von rechtskonformen Streiks bestehen, nicht hinreichend wahrgenommen. Arbeitgeber nutzen die unterschiedlichen Angriffspunkte in strategischer Weise, um Streiks zu unterbinden und zu erschweren. Letztlich befördert dies eine Tendenz zur Verrechtlichung des Streiks, die die Streikfreiheit einengt. Diese Entwicklung bereitet auch mit Blick auf die allgemein für erforderlich gehaltene Stärkung der Tarifautonomie Sorgen.“

Thilo Janssen, Heiner Dribbusch, Thorsten Schulten: WSI Arbeitskampfbilanz 2024, Arbeitskämpfe zwischen Inflation und Transformation, WSI-Report Nr. 106, September 2025

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