zurück
Ausbeutung auf hoher See Böckler Impuls

Arbeitswelt: Ausbeutung auf hoher See

Ausgabe 20/2025

Während die Reedereien große Privilegien genießen, arbeiten Seeleute oft unter prekären Bedingungen.

Die Arbeitsbedingungen in der Frachtschifffahrt sind oftmals schlecht. Das zeigt eine Analyse des Politikwissenschaftlers Christoph Scherrer von der Universität Kassel in den WSI-Mitteilungen. Der Forscher führt dies auf Lücken im Seearbeitsrecht, die Konkurrenz zwischen den für die Kontrolle zuständigen Häfen sowie die Macht der Reedereien zurück, die viele Privilegien genießen, die anderen Branchen nicht zustehen. Das Lieferkettengesetz könnte dabei helfen, bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen – allerdings wird es auf nationaler und europäischer Ebene gezielt ausgehöhlt. 

Rund 80 Prozent des weltweiten Handelsvolumens werden auf See transportiert. Die Herkunft der Seeleute ist sehr international: Von den 857 000 Schiffsoffizieren stammt die größte Gruppe mit 9,5 Prozent von den Philippinen, die zweitgrößte mit 8,4 Prozent aus Russland und die drittgrößte mit 8,1 Prozent aus China. Bei den etwas über eine Million Beschäftigte zählenden Mannschaften kommen 13,3 Prozent von den Philippinen, 10,5 Prozent aus Russland und 7,6 Prozent aus Indonesien.

Newsletter abonnieren

Alle 14 Tage Böckler Impuls mit Analysen rund um die Themen Arbeit, Wirtschaft und Soziales im Postfach: HIER anmelden!

Infografik: Die Reedereien MSC, Maersk, CMA CGM, Cosco und Hapag Lloyd kommen zusammen auf einen Marktanteil von rund 65 Prozent.
Zur Grafik

Lange Zeit herrschte auf den Weltmeeren weitgehend Rechtlosigkeit. In einem Bericht aus dem Jahr 2000 schrieb eine von internationalen Gewerkschaftsorganisationen initiierte Kommission, dass das Leben auf See für Tausende Seeleute „moderne Sklaverei“ sei und ihr Arbeitsplatz einem „Sklavenschiff“ gleiche. Dieser Bericht sowie Kampagnen von Gewerkschaften und eine Reihe schwerer Seeunfälle führten dazu, dass in den folgenden Jahren ein Seearbeitsrecht mit Kontrollinstrumenten durchgesetzt werden konnte. 

Das Seearbeitsübereinkommen „Maritime Labour Convention“ der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 2006 legte weltweit verbindliche Mindeststandards fest, die Seeleuten auf Handelsschiffen zu menschenwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen verhelfen sollten. Es trat am 20. August 2013 international in Kraft und wurde bis Juni 2025 von 110 Staaten ratifiziert, die zusammen fast 97 Prozent der weltweiten Schiffstonnage repräsentieren. Dazu zählen auch die wichtigsten sogenannten „Billigflaggenstaaten“, die für ihre niedrigeren Arbeitsstandards berüchtigt waren. Deutschland hat die Bestimmungen in nationales Recht umgesetzt, hauptsächlich durch das Seearbeitsgesetz. Das deutsche Gesetz entspricht nicht vollständig den internationalen Vorgaben; insbesondere die Haftung der Reedereien wurde hierzulande abgeschwächt.

Die Einhaltung des Seearbeitsrechts wird mithilfe der Hafenstaatkontrolle überwacht, die inzwischen weit verbreitet ist. Vorgesehen sind regelmäßige Überprüfungen einlaufender Schiffe durch die Hafenbehörden, und zwar unabhängig von ihrer Flagge. Wenn dabei beispielsweise festgestellt wird, dass Beschäftigungsverträge für Seeleute fehlen oder unvollständig sind, kann das Schiff im Hafen festgehalten werden.
 
Trotz der Fortschritte durch internationale Abkommen und bessere Kontrollen ist die Liste der Verstöße gegen das Seearbeitsrecht nach wie vor lang. Auf Basis von Berichten der Internationalen Transportarbeiter-Föderation, von Hafenstaatkontrollen sowie eigenen punktuellen Befragungen nennt Scherrer als wichtige Probleme:

  • Die vorgeschriebenen Arbeits- und Ruhezeiten werden nicht eingehalten.
  • Seeleute werden zu gefährlichen Arbeiten herangezogen. 
  • Schutzausrüstung in passender Größe ist nicht verfügbar. 
  • Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist eingeschränkt. Eine Behandlung an Land wird von den Kapitänen aus Kostengründen oft nicht gestattet. 
  • Die Heuer, der Lohn der Seeleute, wird verspätet oder unregelmäßig ausgezahlt.
  • Die Zahl der von Reedern aufgegebenen Schiffe nimmt zu – laut ILO-Datenbank betraf dies 266 Schiffe im Jahr 2024. Deren Besatzungen erhalten nicht die ihnen zustehende Heuer, werden nicht in den Heimathafen zurückgebracht, einige von ihnen wochen- oder monatelang nicht an Land gelassen.

Laut Scherrers Analyse ist die Macht von Reedereien nach wie vor groß – und zuletzt sogar noch gewachsen. Anfang 2025 hatten die fünf größten Reedereien einen Marktanteil von knapp 65 Prozent. Zudem haben sich die führenden Unternehmen zu Allianzen zusammengeschlossen. Sie tauschen Informationen über Standorte, Schiffszuweisungen, Fahrpläne und Frachtkapazitäten aus. Die Bildung von Allianzen und Konsortien ist möglich, weil es für die Branche weitreichende Ausnahmen vom Kartellrecht der EU gibt. Dies wird damit begründet, dass in der Frachtschifffahrt eine kritische Größe notwendig ist, um Risiken zu streuen und eine bessere Auslastung zu erreichen. Darüber hinaus profitieren Reeder davon, dass die meisten Länder zur sogenannten Tonnagesteuer übergegangen sind. Die Gewinne werden dabei nach der Tonnage, also der Größe der Schiffe, ermittelt. Sie liegen in der Regel deutlich unter den tatsächlichen Gewinnen, was sich steuerlich günstig auswirkt. Daneben gibt es weitere Beihilfen für in EU-Mitgliedsstaaten gelistete Schiffe. „Das wohl größte Privileg ist jedoch die Möglichkeit der Ausflaggung, ohne dass der Firmensitz verlegt werden muss“, schreibt Scherrer. Die Zahl der unter deutscher Flagge fahrenden Schiffe ging von 1064 im Jahr 1990 auf 278 im Jahr 2023 zurück. Um zu verhindern, dass Reedereien gänzlich auf „Billigflaggen“ ausweichen, hat die Bundesregierung ermöglicht, die deutsche Flagge zu führen, ohne die Besatzung nach deutschem Arbeits- und Tarifrecht beschäftigen zu müssen.

Gegenüber den einflussreichen und privilegierten Reedereien sind Seeleute oft im Nachteil – insbesondere diejenigen, die nicht in der EU, dem Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz ansässig sind. Einen Hebel, um die Situation dieser Beschäftigten zu verbessern, sieht der Politikwissenschaftler im deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz und in der europäischen Lieferkettenrichtlinie. Das Lieferkettengesetz verpflichtet Unternehmen, auf die Einhaltung der arbeitsbezogenen Menschenrechte bei ihren unmittelbaren Geschäftspartnern zu achten. Davon wären sowohl Reedereien als auch in Deutschland ansässige Spediteure betroffen. Da die meisten großen deutschen Unternehmen eine Lieferkette haben, die den Seetransport einschließt, stünden auch sie in der Verantwortung. Allerdings sieht es derzeit so aus, als würde die Richtlinie auf EU-Ebene stark abgeschwächt werden. So hat das EU-Parlament kürzlich beschlossen, dass sie für weniger Unternehmen gelten soll. Zudem sollen Konzerne in Zukunft nicht mehr ihre gesamte Lieferkette kontrollieren müssen, sondern nur noch ihre direkten Zulieferer. „Das Beispiel der Frachtschifffahrt macht deutlich, wie dringend wir ein wirksames Lieferkettengesetz benötigen. Ein solches Gesetz hilft dabei, die Einhaltung der Menschenrechte zu überwachen und Missstände zu verhindern. Eine Abschwächung würde zulasten der Menschenrechte in globalen Lieferketten gehen“, sagt Christina Schildmann, Leiterin der Forschungsförderung in der Hans-Böckler-Stiftung.

Christoph Scherrer: Arbeit auf See – trotz Regulierung prekär, WSI-Mitteilungen 6/2025

Impuls-Beitrag als PDF

Zugehörige Themen