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HBS Böckler Impuls

Soziale Sicherung: Erwerbsminderung: Reform nötig

Ausgabe 15/2013

Wer wegen gesundheitlicher Probleme nicht mehr arbeiten kann, dem droht Einkommensarmut. Experten fordern mehr Prävention und eine bessere soziale Absicherung bei Erwerbsminderung.

Dass die Erwerbsminderungsrente in Politik und Wissenschaft eher als Randthema gilt, halten Felix Welti und Henning Groskreutz für bedenklich: Es bestehe die Gefahr, dass eine Kernaufgabe sozialer Sicherung vernachlässigt wird. Handlungsbedarf und Handlungsoptionen in diesem Bereich haben die Rechtswissenschaftler von der Universität Kassel mit Förderung der Hans-Böckler-Stiftung untersucht. Sie kommen zu dem Schluss, dass erhebliche Reformen notwendig sind, um die Situation Erwerbsgeminderter substanziell zu verbessern. Unter anderem empfehlen sie, das Betriebliche Eingliederungsmanagement auszubauen und Rentenabschläge abzuschaffen.

Voll erwerbsgemindert sind laut Sozialgesetzbuch Menschen, die wegen Krankheit oder Behinderung außerstande sind, unter den „üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes“ mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Wer zwischen drei und sechs Stunden arbeiten kann, gilt als teilweise erwerbsgemindert. Ende 2011 bezogen 1,6 Millionen Männer und Frauen eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, schreiben Welti und Groskreutz. Etwa 118.000 von ihnen mussten ihre Rente aufstocken, um das Existenzminimum zu erreichen. Weitere 290.000 Personen hatten keine Ansprüche auf Erwerbsminderungsrente erworben und erhielten ausschließlich Grundsicherung vom Träger der Sozialhilfe.

Im Schnitt belief sich die monatliche Rente im Jahr 2011 auf 471 Euro bei teilweiser und 710 Euro bei voller Erwerbsminderung. Bei Neuzugängen mit voller Erwerbsminderung waren es 634 Euro. Die materielle Sicherung sei damit unzureichend, urteilen die Juristen. Es gebe ein erhöhtes Risiko von Einkommensarmut. Als eine der Ursachen gelte die zunehmende Verbreitung von atypischer Beschäftigung und Niedriglöhnen. Zudem seien gerade Geringqualifizierte, die überdurchschnittlich häufig mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen haben, oft schlecht bezahlt oder arbeitslos. Private Vorsorge sei da wenig hilfreich: Die gefährdeten Arbeitnehmer wären kaum in der Lage, die entsprechenden Mittel aufzubringen – insbesondere, wenn sie bereits chronisch krank sind.

Abschläge abschaffen: Für „systemwidrig“ halten die Wissenschaftler die Abschläge, von denen im Jahr 2011 mit 96,3 Prozent fast alle neuen Erwerbsminderungsrentner betroffen waren. Diese Abzüge sollen eigentlich einen freiwilligen vorzeitigen Renteneintritt unattraktiv machen. Das Problem: Niemand entscheide sich freiwillig für volle Erwerbsminderung. Zudem hätten „Frühverrentete“ im Schnitt eine geringere Lebenserwartung, sodass die Summe der Rentenleistungen niedriger ausfalle. Daher plädieren Welti und Groskreutz dafür, auf Abschläge künftig ganz zu verzichten. Um Härtefällen besser gerecht zu werden, empfehlen sie außerdem, die Anwartschaftszeit zu verkürzen: Statt nach drei Jahren mit Pflichtbeiträgen sollten Beschäftigte bereits nach zwölf Monaten Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente haben.

Rehabilitation vor Rente: Noch wichtiger als die ausreichende Absicherung von Betroffenen sei die Vermeidung von Erwerbsminderung, so die Autoren. Dabei sehen sie zum einen die Rentenversicherung in der Pflicht: Das Budget für Rehabilitationsleistungen, das bislang gedeckelt ist, sollte sich am tatsächlichen Bedarf orientieren. Zum anderen gelte es, das Betriebliche Eingliederungsmanagement weiterzuentwickeln. Damit sich Betriebsräte zusammen mit Schwerbehindertenvertretungen wirkungsvoll für Verbesserungen auf betrieblicher Ebene einsetzen können, schlagen die Rechtswissenschaftler vor, ein umfassendes Mitbestimmungsrecht für Fragen der Rehabilitation und Prävention in den Mitbestimmungskatalog aufzunehmen.

Darüber hinaus regen sie an, über eine Stärkung der Arbeitgeberverantwortung betriebswirtschaftliche Anreize für Prävention zu schaffen: Der Arbeitgeberanteil an den Rentenbeiträgen könnte sich am Arbeitsschutzniveau, der Quote der Erwerbsminderungsfälle und älteren Beschäftigten und den betrieblichen Reintegrationserfolgen orientieren. So würden die Kosten für ungünstige Arbeitsbedingungen nach dem Verursacherprinzip erhoben, schreiben Welti und Groskreutz. Ihr Fazit: „Nicht niedrige Rentenhöhen, sondern ein offener inklusiver Arbeitsmarkt mit nachhaltiger Unterstützung zur Teilhabe würde die Rentenversicherung effektiv entlasten.“

  • Erwerbsgeminderte bekommen im Schnitt immer weniger Rente. Die Folge: ein erhöhtes Risiko von Einkommensarmut. Zur Grafik

Felix Welti, Henning Groskreutz: Soziales Recht zum Ausgleich von Erwerbsminderung: Reformoptionen für Prävention, Rehabilitation und soziale Sicherung bei Erwerbsminderung, Arbeitspapier 295 der Hans-Böckler-Stiftung, im Erscheinen

zum Projekt "Soziales Recht zum Ausgleich von Erwerbsminderung"

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