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Podium Tariftagung 2021 Service aktuell

Tarifrechtliche Tagung: Vorsprung für Organisierte

Vorteile für Gewerkschaftsmitglieder und digitale Zugangsrechte für Gewerkschaften im Betrieb: Bei der Tarifrechtlichen Tagung des HSI ging es um die Stärkung der Tarifautonomie.

Von Joachim F. Tornau

Die Tarifbindung in Deutschland geht seit Jahren zurück. Nur die Hälfte der Beschäftigten arbeitet heute noch in Betrieben, für die ein Tarifvertrag gilt. Vor 20 Jahren waren es mehr als zwei Drittel. Eigentlich hatte sich die schwarz-rote Koalition in Berlin deshalb vorgenommen, die Tarifautonomie zu stärken. Doch passiert ist nichts. Entsprechend fiel die Bilanz von Johanna Wenckebach, wissenschaftliche Direktorin des Hugo-Sinzheimer-Instituts (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung zur Eröffnung der Tarifrechtlichen Tagung 2021 aus: „Die Bundesregierung hat dieses Ziel des Koalitionsvertrags nicht erreicht.“

Zusätzliche Leistungen nur für Gewerkschaftsmitglieder

Die Online-Konferenz, zu der sich mehr als 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmer angemeldet hatten, stand unter dem Titel „Stärkung der Tarifautonomie durch Recht“ und führte gleich im ersten Themenblock vor, wie eine solche gesetzgeberische Stärkung aussehen könnte. Der Göttinger Arbeitsrechtsprofessor Olaf Deinert stellte einen Gesetzentwurf für sogenannte Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen vor, den er zusammen mit neun weiteren namhaften Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftlern erarbeitet hat. Hinter dem sperrigen Begriff verbirgt sich eine einfache Idee: Die Möglichkeit, in Tarifverträgen zusätzliche Leistungen nur für Gewerkschaftsmitglieder zu vereinbaren und damit den Beitritt zur Gewerkschaft attraktiver zu machen. Schließlich machen organisierte Beschäftigte mit ihrem Engagement und ihren Beiträgen erfolgreiche Tarifautonomie erst möglich – von den finanziellen Verbesserungen in Tarifverträgen profitieren bislang aber meistens alle Beschäftigten im gleichen Umfang. Das ist möglich, indem der Arbeitgeber einfach auch in den Arbeitsverträgen von Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern auf die geltenden Tarifverträge Bezug nimmt.

Anders als die bisherige Rechtsprechung wollen die Professorinnen und Professoren auch Regelungen erlauben, die Vorteile für Gewerkschaftsmitglieder uneinholbar festschreiben: Gewährt ein Arbeitgeber die zusätzliche Leistung auch Nicht-Mitgliedern, muss er den gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten entsprechend mehr zahlen. „Wir sind überzeugt, dass Spannenklauseln verfassungsrechtlich zulässig wären“, sagte Deinert. „Es geht nicht um Vorenthalten von Leistungen für Außenseiter, sondern um die Sicherung bestimmter Vorteile für Organisierte.“ Damit aus dem Anreiz zum Beitritt kein faktischer Zwang wird, dürften die Vorteile ein angemessenes Maß natürlich nicht überschreiten, erklärte der Arbeitsrechtler und schlug als Orientierungswert das Zweifache des Mitgliedsbeitrags vor.

Praktikerinnen und Praktiker aus den Gewerkschaften lobten den Vorschlag als wichtigen Debattenbeitrag. Überwiegende Unterstützung fand die Stoßrichtung, Spannenklauseln zu legalisieren. Es wurden aber auch Bedenken angemeldet. So wies IG-Metall-Justiziar Roman Romanowski auf den zu erwartenden Widerstand aus den Arbeitgeberverbänden hin: „Die wollen nicht der Steigbügelhalter für starke Gewerkschaften sein.“ Vor allem aber stieß auf Ablehnung, dass der Gesetzentwurf einen Auskunftsanspruch der Unternehmen hinsichtlich der gewerkschaftlichen Mitgliederstärke im Betrieb vorsieht. „Das geht aus meiner Sicht gar nicht“, sagte Verdi-Justiziarin Martina Trümner. „Eine solche Offenlegung bedeutet immer eine Schwächung der Gewerkschaft.“

Forderung nach digitalen Zugangsrechten

Engagiert diskutiert wurde anschließend auch das zweite Thema der Konferenz: die Notwendigkeit digitaler Zugangsrechte für Gewerkschaften zum Betrieb. Dass es immer schwieriger wird, alle Beschäftigten leibhaftig zu erreichen, ist spätestens mit der sprunghaft angestiegenen Homeoffice-Nutzung während der Corona-Pandemie unübersehbar geworden. Doch auch vorher schon sind mit der Plattform-Ökonomie Unternehmen entstanden, Lieferdienste zum Beispiel, die gar keinen physischen Betrieb mehr haben. Der Bremer Arbeitsrechtsprofessor Wolfgang Däubler, der derzeit für das HSI ein Rechtsgutachten zu diesem Thema schreibt, gab einen Überblick, inwieweit sich für Gewerkschaften ein Anspruch auf Mailversand an alle Beschäftigten oder auf Präsenz im Intranet des Unternehmens bereits heute rechtlich begründen lasse. Sein Fazit: Statt allein auf eine gesetzliche Regelung zu hoffen sollte man auch auf die Weiterentwicklung der Rechtsprechung setzen.

Eben das versucht gerade die IG BCE. „Wir haben ein Unternehmen auf Herausgabe aller Mailadressen verklagt, hilfsweise auf die Zurverfügungstellung eines Verteilers“, berichtete Isabel Eder, Leiterin der Abteilung Mitbestimmung der Gewerkschaft. Außerdem fordere man, als Gewerkschaft im Intranet verlinkt zu werden – „an prominenter Stelle“. Für Micha Heilmann, Leiter der Rechtsabteilung der Gewerkschaft NGG, ist eine klare gesetzliche Regelung dennoch unverzichtbar. Denn: „Man muss digitale Zugangsrechte schnell durchsetzen können.“ Für jahrelange Rechtsstreits seien die technologischen Veränderungen zu rasant, die Apps etwa von Lieferdiensten zu kurzlebig.

Dass die Gewerkschaften den Gesetzgeber nicht aus der Verantwortung entlassen werden, machte in seinem Schlusswort auch Reiner Hoffmann noch einmal deutlich. „Die Stärkung der Tarifbindung muss eines der zentralen Themen für die kommende Legislatur sein“, betonte der DGB-Vorsitzende. In den vergangenen vier Jahren sei das an CDU und CSU gescheitert. „Diesen Stillstand müssen wir mit der nächsten Bundesregierung überwinden.“

WEITERE INFORMATIONEN

Dokumentation der Tarifrechtlichen Tagung

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