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'Bundesarbeitsgericht' steht auf dem Schild am Eingang zum höchsten deutschen Arbeitsgericht - PM BAG Entscheidung SAP Pressemitteilungen

Bundesarbeitsgericht entscheidet abschließend: Wichtige BAG-Entscheidung zu Mitbestimmung bei SAP – Fachleute mahnen, weitere Gesetzeslücken zu schließen

28.03.2023

Nach gut sieben Jahren juristischer Auseinandersetzung um die Unternehmensmitbestimmung beim Softwarekonzern SAP hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) abschließend entschieden. Der Beschluss bringt mehr Schutz für Beschäftigen- und Gewerkschaftsrechte in Unternehmen mit der Rechtsform einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE). Das Verfahren ist auch über den konkreten Fall hinaus bedeutend, weil die Umwandlung in eine SE von vielen Unternehmen in unterschiedlicher Weise benutzt wird, um die Mitbestimmung von Beschäftigten im Aufsichtsrat zu schwächen oder sogar ganz zu vermeiden. „Die neue Entscheidung des BAG ist eine Absage an arbeitgebernahe Positionen, die größte Flexibilität der Unternehmen bei Einschränkungen der Arbeitnehmerrechte bei einer SE-Gründung annehmen“, sagt deshalb Dr. Sebastian Sick, Unternehmensrechtler beim Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung. „Beschäftigte und Gewerkschaften gehen gestärkt aus diesem Verfahren vor dem BAG hervor – nicht nur bei SAP“, so Sick, der auch Mitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex ist. Allerdings seien für eine wirklich wirkungsvolle Stabilisierung der Mitbestimmung zusätzlich gesetzliche Initiativen von Bundesregierung und Europäischer Kommission dringend erforderlich, mahnen die Experten des I.M.U.  

Bei dem Verfahren ging es um die überbetriebliche Vertretung von Beschäftigten in den Aufsichtsräten großer Unternehmen durch die Gewerkschaften. Die Präsenz von Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertretern ist ein integraler Teil des deutschen Mitbestimmungsgesetzes und Bestandteil guter und nachhaltiger Corporate Governance; diese steuern einen überbetrieblichen Blickwinkel bei und stärken damit die Kompetenz der Arbeitnehmerseite und des Aufsichtsrates insgesamt. Das hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 1979 und das BAG bereits in seinem Vorlagebeschluss 2020 an den EuGH ausdrücklich bestätigt.

Bei SAP wurde bei der Umwandlung in eine SE ausgehandelt, im Zuge einer längerfristig angestrebten Verkleinerung des Aufsichtsrats von 18 auf 12 Mitglieder das Vorschlagsrecht von Gewerkschaften für die Besetzung von mindestens zwei Aufsichtsratsmandaten abzuschaffen. Die Gewerkschaften IG Metall und ver.di klagten 2016 dagegen. Das Verfahren, das vom I.M.U. begleitet wurde, ging durch die deutschen Instanzen bis zum BAG. Die Erfurter Richterinnen und Richter sprachen sich im August 2020 gegen die Schwächung der Arbeitnehmermitbestimmung bei der Umwandlung des Softwarekonzerns aus. Die durch einen gesonderten Wahlgang gesicherten Sitze für Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertreter im Aufsichtsrat seien ein prägendes Element der Mitbestimmung.

Zugleich beschloss das BAG, wegen des europäischen Bezugs dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Auslegungsfrage vorzulegen, ob das EU-Recht in diesem Punkt das deutsche SE-Recht stützt. Der EuGH bestätigte 2022: Nach deutschem und europäischem Recht können die gesicherten Sitze für die Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat bei der Umwandlung einer deutschen Aktiengesellschaft in eine SE nicht beseitigt werden.

Anhand dieser Linien hat das BAG nun am 23. März 2023 den konkreten Fall der SAP SE entschieden. Quintessenz: Weil bei SAP kein gesonderter Wahlgang für gesicherte Gewerkschaftssitze im Falle der möglichen Verkleinerung des Aufsichtsrats von 18 auf 12 Mitglieder vorgesehen ist, ist die gesamte Regelung in der SE-Beteiligungsvereinbarung zum 12-köpfigen Aufsichtsrat unwirksam. Lediglich die Regelung zum aktuell bestehenden 18-köpfigen Aufsichtsrat, die dem Schutz der gewerkschaftlichen Vertretung gerecht wird, hat Bestand. Damit ist die Verkleinerung des Aufsichtsrats auf 12 Mitglieder nach der aktuellen Vereinbarung bei SAP nicht möglich.

„Es ist sehr wichtig, dass das oberste deutsche Arbeitsgericht hier ganz klare Konsequenzen aufzeigt“, betont Unternehmensrechtler Sick: „Bei Missachtung von Beschäftigten- und Gewerkschaftsrechten droht Unwirksamkeit ganzer Regelungen in Beteiligungsvereinbarungen, auch wenn es um die Europäische Rechtsform SE geht.“ Die hohe Bedeutung über den Einzelfall hinaus erklärt der I.M.U.-Experte so: „Das deutsche System der industriellen Beziehungen baut auf belastbaren Mitbestimmungsrechten der Beschäftigten auf. Aber die nationalen Mitbestimmungsgesetze laufen immer häufiger ins Leere. Oft, weil sie über Konstrukte europäischen Rechts ausgehebelt werden. Die Erosion ist dramatisch und die SE ist mittlerweile ein zentrales Vehikel, um Mitbestimmung zu unterlaufen.“ Eine aktuelle Studie des I.M.U. ergibt: Mindestens 1,4 Millionen Beschäftigte in deutschen Unternehmen können das Recht auf paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat durch betriebliche und überbetriebliche Arbeitnehmervertreter*innen nicht ausüben, weil ihre Arbeitgeber Rechtslücken für eine legale Umgehung ausnutzen. Drei Viertel der Unternehmen mit legaler Mitbestimmungsvermeidung nutzen Lücken mit europarechtlichem Bezug, allein bei mindestens gut 300.000 Beschäftigten werden Mitbestimmungsrechte durch die Umwandlung in eine SE umgangen. „Wichtig ist, dass weitere Tendenzen gestoppt werden, Mitbestimmung durch europäisches Recht auszuhebeln. Im Fall SAP ist das gelungen, weitere Schritte müssen folgen“, erklärt Dr. Daniel Hay, der wissenschaftliche Direktor des I.M.U.

Dass eine starke Mitbestimmung, die auch überbetriebliche Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter umfasst, für das gesamte Unternehmen und auch gesellschaftlich positiv wirkt, belegen verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen. So zeigen mehrere aktuelle Studien von Forschenden der Universitäten Göttingen, Marburg und Duisburg-Essen sowie des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB), dass stark mitbestimmte Unternehmen erfolgreicher durch Krisen wie die Finanz- und Wirtschaftskrise und durch wirtschaftliche Umbruchphasen kommen als Firmen ohne Arbeitnehmermitsprache. Zudem verfolgen sie häufiger eine qualitäts- und innovationsorientierte Strategie, sind im Schnitt rentabler, betreiben seltener aggressive Steuervermeidung und gehen bei Zukäufen weniger Risiken ein.

Ampelkoalition hat Verbesserungen angekündigt – „sie muss aber auch liefern“

Jenseits des aktuellen Prozesserfolgs ist nach Analysen der Hans-Böckler-Stiftung der Bedarf groß, Lücken in den Regelungen zur SE und im deutschen Mitbestimmungsrecht zu schließen. Dabei seien der deutsche und der europäische Gesetzgeber gefragt, betont Hay. Beispielsweise würden immer wieder Firmen in eine SE umgewandelt, kurz bevor sie die deutschen gesetzlichen Schwellenwerte von 500 inländischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für eine Drittelbeteiligung der Beschäftigten im Aufsichtsrat oder von 2.000 für die paritätische Mitbestimmung erreichen. Da dabei das Vorher-Nachher-Prinzip gilt, der Status quo ohne paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat also eingefroren wird, können sich Unternehmen auf diese Weise unwiderruflich aus dem System der Mitbestimmung verabschieden – auch wenn sie später deutlich mehr Beschäftigte haben. Das hat längst drastische Folgen: Bei vier von fünf in Deutschland ansässigen SE mit mehr als 2.000 Beschäftigten fehlt die für deutsche Rechtsformen vorgesehene paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Darunter sind auch DAX-Konzerne wie Zalando oder Vonovia. Das sei ein Kernproblem für die Partizipation, weil das Nachwachsen mitbestimmter Unternehmen so verhindert wird, sagt der wissenschaftliche Direktor des I.M.U.

Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag einige rechtliche Verbesserungen angekündigt, unter anderem mit Blick auf SEs. „Dass die Ampelkoalition die Unternehmensmitbestimmung als wichtigen Faktor für eine erfolgreiche Wirtschaft anerkennt und schützen will, ist ein Fortschritt. Aber die Bundesregierung muss auch liefern“, sagt Jurist Hay. „Darüber hinaus gibt es weitere Lücken in den Gesetzen. Beispielsweise ist es für Unternehmen mit Sitz in Deutschland möglich, Mitbestimmung durch Nutzung einer ausländischen Unternehmensrechtsform zu vermeiden. Hier muss die Bundesregierung ebenfalls aktiv werden. Ein Mitbestimmungserstreckungsgesetz würde klarstellen, dass die Mitbestimmungsgesetze für alle kapitalistisch strukturierten Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten in Deutschland gelten“, erklärt Hay. Zudem müsse sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene für Mindeststandards der Unternehmensmitbestimmung einsetzen.

Weitere Informationen:

Forschungsüberblick zur Wirkung von Mitbestimmung: Was Mitbestimmung bewirkt

Weitere Informationen zum Verfahren bei SAP: Mitbestimmungsportal - Gewerkschaftssitze sind bei Umwandlung in eine SE gesichert

Kontakt:

Dr. Sebastian Sick
I.M.U.-Experte für Unternehmensrecht

Dr. Daniel Hay
Wissenschaftlicher Direktor I.M.U.

Rainer Jung
Leiter Pressestelle
 

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