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Titelbild Systemrelevant Folge 186 Service aktuell

Systemrelevant Podcast: Die Überstundendebatte

Durch geringere Steuern will die FDP einen Anreiz für Überstunden schaffen. Sebastian Dullien (IMK) erläutert, welche Arbeitnehmendengruppe davon profitiert und welche Gefahren der Vorschlag birgt.

[17.04.2024]

Mehr Überstunden durch einen Steuerrabatt? Christian Lindners Vorschlag soll "Lust auf Überstunden machen". Dem statistischen Bundesamt zufolge haben 2021 4,5 Millionen Menschen in Deutschland Überstunden gemacht – ca. 12 Prozent der Arbeitnehmenden. Im Durchschnitt machen Vollzeit-Arbeitende 3 bezahlte und 2,4 unbezahlte Überstunden – hochgerechnet ergibt sich damit ein Milliardenbetrag an geleisteten Überstunden.

Die meisten unbezahlten Überstunden machen laut einer Statistik des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) Angestellte mit umfassenden Führungsaufgaben und Beamte im höheren Dienst, die meisten bezahlten Überstunden werden dagegen von Werkmeister*innen und Facharbeiter*innen geleistet. Wird aber auf Arbeitnehmende mit einfacher Tätigkeit geschaut, sinkt die Zahl bezahlter Überstunden wieder drastisch. Das zeigt eine bestehende Ungerechtigkeit.

Insgesamt würde nur eine sehr kleine Gruppe von Christian Lindners Reformvorschlag profitieren: diejenigen, die ohne Arbeitszeitkonto arbeiten und für Überstunden bezahlt werden. Alle, die mit Arbeitszeitkonto flexibel Überstunden ausgleichen oder gar nicht erst für ihre Überstunden bezahlt werden, sind von der Reform nicht betroffen. Das würde sich nur durch eine strukturelle Änderung des Arbeitsmarktes weg von Arbeitszeitkonten ändern. Diese jedoch sind sowohl für Arbeitnehmende als auch für Arbeitgebende praktisch und sinnvoll.

Zudem birgt die Reform auch eine gleichstellungspolitische Gefahr: Den Steuerrabatt soll es nur für Vollzeitbeschäftigte ab der 41. Arbeitsstunde geben, viele Frauen arbeiten allerdings in Teilzeit. So könnte in Partnerschaften der Anreiz entstehen, dass der vollzeitarbeitende Vater mehr, die teilzeitarbeitende Mutter dafür aber weniger arbeitet, da es steuerlich begünstigt werden würde. 

Woher kommt dann die hohe Grundunterstützung für den Vorschlag? Das könnte daran liegen, dass nicht beachtet wird, wo das dafür genutzte Steuergeld dann fehlen würde – z. B. in der Kinderbetreuung. Wichtig wäre es deswegen, wenn genauer diskutiert würde, welche Ungerechtigkeiten durch die Reform verstärkt oder gar erst geschaffen werden.
 

Dr. Irene Becker hat in ihrer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie ein angemessen hohes soziokulturelles Existenzminimum berechnet und festgestellt, dass das Niveau der Kindergrundsicherung je nach Alter der Kinder um 6 bis 30 Prozent höher sein müsste als nach der gesetzlichen Bedarfsermittlung.

Beckers Reformvorschlag sieht vor, die Konsumausgaben der gesellschaftlichen Mitte als Bezugspunkt zu nehmen. So wäre es nach Analyse der Armutsexpertin etwa plausibel, soziokulturelle Teilhabe als gerade noch gegeben zu definieren, wenn Haushalte bei den Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Ernährung, Bekleidung und Wohnen nicht mehr als 25 Prozent und bei sonstigen Bedürfnissen nicht mehr als 40 Prozent von der Mitte nach unten abweichen. Damit lebt die Referenzgruppe zwar deutlich unter der gesellschaftlichen Mitte, hätte aber noch mehr Teilhabemöglichkeiten als bei der bisherigen Berechnung, die den Kindern und damit letztlich der gesamten Gesellschaft schadet.

Moderation: Marco Herack

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In Systemrelevant analysieren führende Wissenschaftler:innen der Hans-Böckler-Stiftung gemeinsam mit Moderator Marco Herack, was Politik und Wirtschaft bewegt: makroökonomische Zusammenhänge, ökologische und soziale Herausforderungen und die Bedingungen einer gerechten und mitbestimmten Arbeitswelt – klar verständlich und immer am Puls der politischen Debatten.

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