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Die Schwerbehindertenvertreterin Tamara Eils (stehend) und Mitarbeiterin Miriam Stihulka in einem Büro mit einem Spezialstuhl bei Evonik in Hanau. Magazin Mitbestimmung

Inklusion: Zurück ins Leben, zurück in den Job

Ausgabe 04/2021

Der Spezialchemikalienhersteller Evonik will mehr Menschen mit Behinderung die Arbeit ermög­lichen. Management, Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung – alle ziehen an ­einem Strang. Damit ist Evonik Vorbild für die gesamte Branche. Von Fabienne Melzer

Glück im Unglück, das sagt sich schnell, wenn es knüppeldick kommt und am Ende doch besser, als befürchtet. Das könnte auch Miriam Stihulka, Qualifizierungstechnikerin bei Evonik in Hanau, sagen. Vor sechs Jahren erlitt die 37-Jährige einen Schlaganfall. Ihre rechte Seite war zunächst gelähmt und ist bis heute eingeschränkt. Als Chemielaborantin konnte sie nicht mehr arbeiten. Mit ihrer damals einjährigen Tochter stand sie plötzlich vor einer ungewissen Zukunft, das ganze Leben kippte.

Heute, sechs Jahre später, arbeitet sie im Büro in Hanau. Weil sie ihre rechte Seite immer noch nicht wieder richtig bewegen kann, sitzt sie auf einem Schreibtischstuhl mit gespaltenem Sitz und Rückenlehne, sodass sie Fehlhaltungen ausgleichen kann. Sie hat einen Parkplatz in der Nähe des Eingangs, und die Türen auf ihrem Weg ins Büro öffnen sich automatisch. „Sonst wäre ich schon k. o., bevor ich in meinem Büro ankomme“, sagt Miriam Stihulka und lacht. Als ihr Körper ihr vor sechs Jahren so plötzlich den Dienst versagte, stand ihr die Schwerbehindertenvertretung von Evonik zur Seite. Tamara Eils vertritt die Interessen der Menschen mit Einschränkungen am Standort in Hanau. Sie konnte Miriam Stihulka nicht nur signalisieren: Wir finden einen Weg für dich. Sie konnte auch praktisch helfen. „Evonik sorgte dafür, dass Miriam übergangsweise für den Weg zur Arbeit ein Auto mit Automatikschaltung zur Verfügung stand.“ So konnte Miriam Stihulka ihren Alltag neu organisieren, vor allem auch als Alleinerziehende mit einem kleinen Kind.

Pionier der Branche

Der Hersteller von Spezialchemikalien hat Ende 2020 als erstes Unternehmen der Branche vereinbart, die Sozialpartnerschaftsvereinbarung „Inklusion und Teilhabe“ in Deutschland umzusetzen. Darin hatten sich zuvor die IG BCE und der Bundesarbeitgeberverband Chemie auf Rahmenbedingungen verständigt, die Menschen mit Einschränkungen eine gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsplatz ermöglichen sollen. Auf Grundlage der Vereinbarung verständigten sich bei Evonik Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter auf ein gemeinsames Eckpunktepapier Inklusion. Für Arbeitsdirektor Thomas Wessel zeigt das, welchen Stellenwert das Thema hat: „Uns bei Evonik ist es wichtig, Inklusion im betrieblichen Alltag zu fördern und insbesondere eine inklusive Unternehmenskultur zu schaffen und zu stärken.“

Kilian Roth ist Gesamtschwerbehindertenvertreter bei Evonik in Hanau und erinnert sich noch daran, wie Menschen mit Einschränkungen gerade in der Arbeitswelt vielerorts ausgegrenzt wurden. Deshalb ist sein Ziel: „Wir wollen keine eigene Abteilung für Menschen mit Behinderung. Jeder soll nach seinen Fähigkeiten so eingesetzt werden, dass es ein Gewinn für beide Seiten wird.“ Der Betriebsrat fing gleich bei sich selbst an. Das neue Gebäude der Arbeitnehmervertretung in Hanau ist barrierefrei. „Wir werden alle älter, und dann kommen die Barrieren, so oder so“, sagt Kilian Roth. Denn Schwerbehinderung kann jeden treffen. Nur etwa drei bis vier Prozent aller Behinderungen sind angeboren, der Rest ist Folge von Erkrankungen, Unfällen und zunehmendem Alter. Rund zehn Prozent der 50- bis 60-Jährigen bei Evonik leben mit Einschränkungen. In der Produktion gibt es eine Schicht mit 60 Kolleginnen und Kollegen, von denen 15 schwerbehindert sind. „Dank der beantragten Gelder des Integrationsamts konnten durch den Minderleistungsausgleich zwei neue Stellen geschaffen und finanziert werden“, sagt Kilian Roth. Der Arbeitsplatz eines Chemikanten, der erblindet war, wurde für 30.000 Euro umgebaut, und Miriam Stihulka bekam nach ihrem Schlaganfall einen neuen Arbeitsplatz.

Ämter können nicht alles regeln

Zwar werden Unternehmen auch von der öffentlichen Hand unterstützt, wenn sie Arbeitsplätze barrierefrei umbauen. „Aber die Bereitschaft, einen neuen Arbeitsplatz für Miriam zu finden, kann man nicht über Ämter regeln“, sagt Tamara Eils. Die Vereinbarung zur Inklusion erleichtert ihr die Arbeit. „Ich habe etwas Schriftliches und kann Vorgesetzten sagen: Das ist vom Vorstand so gewollt, bitte unterstützen Sie uns“, sagt die Schwerbehindertenvertreterin. Sie hofft, dass sich mit der Vereinbarung auch der Blick auf Menschen mit Einschränkungen ändert. „Wir müssen nicht darauf schauen, was die Beschäftigten nicht können, sondern darauf, was sie können.“ Miriam Stihulka sei nur ein Beispiel dafür, wie viel der Arbeitgeber dabei gewinnen kann.

Vielleicht hatte die 37-Jährige Glück, dass sie in einem großen Unternehmen arbeitet. Nach ihrem Schlaganfall war sie mehrere Wochen in Reha und hörte Geschichten von Leidensgenossen, die in kleinen Betrieben beschäftigt gewesen waren und nun ihre Arbeit verloren hatten. Vielleicht hatte Miriam Stihulka aber auch eine starke Interessenvertretung im Rücken.

Vereinbarung

Mit der Vereinbarung „Betriebliche Teilhabe und Inklusion in der chemischen Industrie“ wollen die IG BCE und der Bundesarbeitgeberverband Chemie die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung im Betrieb verbessern und das Bewusstsein für deren Fähigkeiten schärfen. Petra Reinbold-­Knape, Vorstandsmitglied der IG BCE, sagt: „Wir müssen Barrieren am Arbeitsplatz, aber auch in den Köpfen abbauen.“

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