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Magazin Mitbestimmung

: Wunsch und Wirklichkeit

Ausgabe 04/2009

BERATUNG Spezielle Seminare sollen Betriebsräten helfen, besser mit Belastungen umzugehen. Doch noch tut sich die Zielgruppe schwer mit dem Blick in die Psyche.

Von STEFAN SCHEYTT, Journalist in Rottenburg am Neckar/Foto: Karsten Schöne

Ein Kreis von 15 Stühlen, auf jeder Stuhllehne klebt ein Blatt. "Wir sind EIN Betriebsrat", steht dort. 15 Frauen und Männer umrunden den Stuhlkreis, sie sehen das Blatt mit dem frommen Einheitswunsch, und sie sehen die anderen Blätter, die auf den Sitzflächen kleben und die die Wirklichkeit in deutschen Betriebs und Personalräten nicht als heile, sondern als eine konfliktträchtige Welt beschreiben: "Im Gremium gibt es Hardliner + Weichspüler"; "Wir sind Angehörige verschiedener Cliquen"; "Wir sind Gewerkschafter + Nichtgewerkschafter"; "Wir sind Aktive + Passive". Dann nehmen sie Platz und reden über das, was ihnen in Interessenvertretungen bei Unternehmen und Verwaltungen täglich begegnet.

Das große Thema in den Gremien, so berichten sie einhellig, sei Macht. Oft scheinen Beziehungskonflikte die anderen Probleme, für die das Gremium eigentlich da ist, zu überlagern. Die Berater erleben offenen Streit ebenso wie versteckte Manöver. Sie spüren tiefe Gräben zwischen autoritären Betriebsratschefs und kleinlauten Gremiumsmitgliedern. Zwischen Akademikern und Gewerblichen, Frauen und Männern, Migranten und Deutschen. Zwischen Duckmäusern und Betonköpfen, alten Hasen und naiven Neulingen. Zwischen Freigestellten, die im Dienstwagen und im Flugzeug als CoManager von Standort zu Standort reisen, und Nichtfreigestellten, die im Blaumann und mit öligen Fingern zur Sitzung kommen. "In diesen Gremien stößt man auf Konfliktlinien, wie es sie stärker kaum noch gibt", sagt einer aus der Runde.

IM SOZIOLOGISCHEN BEGRIFFSHIMMEL_ Die 15 Damen und Herren mit den intimen Einblicken sind keine Betriebsräte wie sonst, sondern sie sind selbst Berater, die meisten von ihnen gewerkschaftsnah. Mit 40 weiteren Kollegen, Gewerkschaftern und Vertretern von Bildungseinrichtungen sind sie Teilnehmer einer Tagung, die Erhard Tietel organisiert hat, Organisationspsychologe an der Akademie für Arbeit und Politik der Universität Bremen. Tietel arbeitet selbst als Berater. Er bietet Einzel und Gruppencoachings an, dazu Kurse mit Namen wie "Als Team sind wir unschlagbar!".

Die zwei Tage in Hannover offenbaren nicht nur, wie anspruchsvoll Betriebsratsarbeit heute ist - und wie groß die Gefahr des Absturzes in die Niederungen des internen Kleinkriegs. Die Tagung mit dem gedrechselten Titel "Reflexive Beratungsformen in arbeitspolitischen Kontexten: betriebliche Interessenvertretungen und Gewerkschaften" zeigt auch, wie selbstbezogen und akademisch Berater mitunter sein können.

So akademisch, dass im Laufe der Tagung Teilnehmer das Abheben in den "soziologischen Begriffshimmel" kritisieren und beklagen, dass sie der "verschlüsselten Sprache" mancher Kollegen nicht mehr folgen können. So wie während dieses Treffens dürfen die Berater jedenfalls kaum reden, wenn sie von ihren Kunden verstanden werden wollen.

Dass der Beratungsbedarf von Betriebs und Personalräten steigt, bezweifelt indes niemand. "Die Herausforderungen sind immens", meint Erhard Tietel. "Von Betriebsräten wird heute erwartet, dass sie Arbeitsrechtler, Betriebswirte und Tarifexperten sind, dazu Arbeitsmediziner, Umweltschützer, EDV und Datenschutzexperten, Konfliktlöser, Projektmanager, Organisationsentwickler, Verhandlungsexperten …" Doch damit nicht genug: Vor allem in großen Unternehmen, so berichtet er, seien Betriebsräte wahren "Zerreißproben" ausgesetzt, hin und hergerissen zwischen den Erwartungen der Arbeitnehmer, der Gewerkschaften und des Managements.

In manchen Betriebsratsvorsitzenden erkennt Erhard Tietel sogar "paradoxe Führungskräfte". Das ist seine Chiffre für eine Wirklichkeit, in der Betriebsräte als einzige Instanz den Betrieb noch als Ganzes wahrnehmen - in all seinen ökonomischen, sozialen, kulturellen und persönlichen Dimensionen. Dass daraus ein enormer Professio­nalisierungsdruck erwächst, liegt auf der Hand.

ANGST VOR PSYCHOSPIELCHEN_ Wie sie ihre fachlichen Wissenslücken schließen können, wissen Betriebsräte längst: Gewerkschaftsseminare und externe Berater sollen helfen, sie auf den geforderten Stand im jeweiligen Sachgebiet zu bringen. Mit dem reflexiven Ansatz tun sie sich jedoch schwer. Wie die Berater in Hannover berichten, haftet diesem Ansatz immer noch der Geruch an, es gehe dabei um "PsychoSpielchen", man werde dabei auf die Couch gelegt und gewissermaßen ausgezogen; auch steht der Verdacht im Raum, die Beraterbranche preise die Beratungsform vor allem deshalb als "neu" und "hilfreich" an, weil sie das eigene Geschäft beleben wolle.

Solche Vorurteile erklären, warum die reflexive Beratung - obwohl sie schon seit Jahrzehnten bekannt ist und auch von Führungskräften auf der Arbeitgeberseite nachgefragt wird - in Gewerkschafts und Betriebsratskreisen erst seit wenigen Jahren Akzeptanz findet. Die Beratungsform versteht sich als Ergänzung zur klassischen Fachberatung. Geliefert werden "weiche" Fortbildungs und Beratungsinhalte wie Teambildung, Supervision und Coaching. "Betriebsratsarbeit ist heute zu einem hohen Anteil Beziehungsarbeit", meint Erhard Tietel. "Zur professionellen Interessenvertretung benötigen Betriebsräte soziale und persönliche Fähigkeiten, die von Fachberatern allein nicht mehr entwickelt werden können." Gefragt, so sagt er, seien heute zusätzlich "psychosoziale und interaktive Kompetenzen wie Selbstreflexion, Kommunikationsvermögen, Kooperations und Teamfähigkeit und konstruktives Konfliktverhalten." Also genau das, woran es offensichtlich mangelt, wenn Betriebsräte so zerstritten und fraktioniert sind, wie das Berater manchmal erleben.

GESUCHT: ENTSCHLEUNIGUNG_ Fast ein geflügeltes Wort auf der Tagung ist der Satz, in schwierigen Situationen könne reflexive Beratung helfen, die Handlungsfähigkeit des Betriebsrats wieder herzustellen. Ein Teilnehmer erklärt: "Um etwas erreichen zu können, muss ein Betriebsrat erst mal viele interne Fragen klären: Sind wir überhaupt ein Gremium mit übereinstimmenden Zielen? Wie müssen wir miteinander kommunizieren, damit wir ans Ziel kommen? Wie können wir trotz Differenzen eine gemeinsame Strategie entwickeln? Und wer spielt welche Rolle im Gremium? Erst wenn man sich solchen Fragen stellt, kann man überzeugend nach außen agieren."

Zu diesem Zweck drückt Erhard Tietel seinen Kunden schon mal einen Stift in die Hand und lässt sie den Betriebsrat als "Volksstamm auf einer Südsee­insel" malen: Wer ist der Häuptling, wer der Kronprinz und der Medizinmann? Wer tut was und steht mit der Angel am Strand? Und wer liegt nur faul in der Sonne? Bei einem der Workshops sitzt Heiko Hillwig mit einer Gruppe Kollegen am Tisch und malt mit einem Filzstift auf die papierne Tischdecke. Hillwig war früher einmal Trainer bei VW Coaching, heute ist er Fachreferent des Betriebsrats im Kasseler VWWerk. Er malt eine Gerade als Zeitachse, die in eine Schleife ausbricht und wieder in die Gerade mündet. Er zeigt darauf und sagt: "Wir nennen das Entschleunigungskurve oder Selbstversicherungsschleife. In dieser Kurve steckt Zeit für Reflexionsarbeit unseres Betriebsrats." Ohne solche Inseln zum Nachdenken, so erklärt er, laufe man Gefahr, ein "Getriebener des Alltags" zu sein und nur noch blinden Aktionismus zu betreiben.

Entschleunigung durch Reflexion, angeleitet von einem reflexiven Berater - dieser Gedanke taucht während der Tagung noch mehrfach und in verschiedenen grafischen Variationen auf. Zum Beispiel bei IGMetallMann Hans Herzer, der das Modell eines deutschen Wissenschaftlers am MIT in Massachusetts präsentiert: Dort ist die Entschleunigungszone ein Tal, in dem "soziales Träumen" möglich ist, von dem aus "das Neue in die Welt kommt" und wo ChangeManagement durch und mit dem Betriebsrat seine ersten Impulse erhält. So jedenfalls die Theorie.

Die Wirklichkeit mit übervollen EMailKonten, Terminkalendern und den ständig klingelnden Mobiltelefonen ist oft schwierig genug. Hier genau liegt der Denkfehler, würden Berater nun vielleicht sagen. Sie würden einwenden, dass es ohne Pause gar nicht mehr möglich ist, die verbleibende Zeit produktiv zu nutzen. Aber sie werden noch viel Geduld brauchen, bis ihre Botschaft überall angekommen ist, und immer wieder wird die Realität dazwischenfunken und den schönen Traum von der Südseeinsel irgendwo im blauen Meer stören. "Es mag ja interessant sein, was man durch reflexive Arbeit lernt und erfährt", sagt ein Teilnehmer, "aber es ist auch weit weg von dem, was im Betrieb wirklich los ist. Eine Art Jenseits. Ich sehe nicht, wie das zu einer neuen Strategie führen könnte."

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