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Magazin Mitbestimmung

: Wie gerufen

Ausgabe 04/2008

POSTDIENSTE Um den Mindestlohn zu umgehen, gründen die privaten Postdienstleister nicht nur einen eigenen Arbeitgeberverband - die PIN AG finanziert die passende Gewerkschaft mit dazu.

Von Wilfried Voigt, Journalist in Wiesbaden. Der Autor war Spiegel-Korrespondent; 1987 hat er den Wächterpreis der deutschen Presse erhalten.

Der 11. September 2007 schien ein guter Tag für die deutsche Gewerkschaftsbewegung. Drei Gewerkschaften stimmten gemeinsam für die Annahme eines Tarifvertrages, der einen flächendeckenden Mindestlohn für Briefzusteller regelt - die ver.di-Tarifkommission, die Christliche Gewerkschaft Postservice und Telekommunikation sowie die Kommunikations-Gewerkschaft DPVKom im Deutschen Beamtenbund. Die Tarifvereinbarung war wenige Tage zuvor mit dem von der Deutschen Post AG dominierten Arbeitgeberverband Postdienste e.V. ausgehandelt worden.

Danach sollten Briefzusteller von Januar 2008 an einen Anspruch auf einen Mindest-Stundenlohn von acht Euro in Ostdeutschland bis 9,80 Euro im Westen haben. Die Sozialpolitiker der SPD feierten mit den Gewerkschaftern den "Durchbruch". Besonders Franz Müntefering strahlte. Der SPD-Arbeitsminister kündigte an, die Inhalte des Tarifvertrages würden zügig ins Entsendegesetz aufgenommen; so könne verhindert werden, dass ausländische Konkurrenten mit dem Ende des Briefmonopols Anfang 2008 mit Dumpinglöhnen ins deutsche Briefgeschäft drängen.

GERSTERS NEUE BÜHNE_ Doch die Freude währte nicht lange. Die größten privaten Konkurrenten der Deutschen Post AG, die mehrheitlich zum Axel Springer-Verlag gehörende Pin Group AG und der niederländische Zustelldienst TNT, reagierten prompt und mit einem Paukenschlag: Nur einen Tag nach der Annahme des Tarifvertrags betraten sie mit dem neu gegründeten Arbeitgeberverband "Neue Brief- und Zustelldienste" (AGV NBZ) die politische Bühne. Dessen Präsident: Florian Gerster, Sozialdemokrat und bis 2002 Sozialminister in Rheinland-Pfalz, später unter Kanzler Schröder Chef der Bundesagentur für Arbeit.

Die Großbehörde musste Gerster unter unrühmlichen Umständen verlassen, unter anderem, weil er einen rund 1,3 Millionen Euro schweren Beratervertrag ohne Ausschreibung an die Berliner Kommunikationsfirma WMP Euro.Com vergeben hatte, deren Hauptaktionär und Vorsitzender der ehemalige "Bild"-Chefredakteur Hans-Hermann Tiedje ist. Seit dem Verlassen der BA sucht Gerster ein neues Betätigungsfeld - und findet es ausgerechnet im Kampf gegen den Mindestlohn, den seine eigene Partei zu einer ihrer zentralen Forderungen erhoben hatte, und auf Seiten der Pin Group AG, die mit rund 9000 Beschäftigten größter privater Anbieter von Brief- und Zustelldiensten in Deutschland ist.

Jetzt hat Gerster neue Verbündete, zum Beispiel Bundeskanzlerin Angela Merkel. Nachdem "Bild" im Herbst wochenlang gegen die Einführung des Mindestlohns agitiert und dabei die massiven wirtschaftlichen Interessen des Springer Verlages verschwiegen hatte, ließ sich schließlich auch Merkel vor den Karren der privaten Postdienstleister spannen. Die Kanzlerin verlangte von ver.di und der Post AG, sich mit der Konkurrenz auf einen niedrigeren Mindestlohn zu verständigen, obwohl zu dieser Zeit bekannt war, dass etwa 8400 Beschäftigte bei den Privaten zusätzlich zu ihrem Monatslohn auf staatliche Hilfe angewiesen waren.

SIEG DER LOBBYISTEN_ In der Nacht zum 13. November kam es schließlich während einer Sitzung des Koalitionsausschusses zum Eklat. Die Christdemokraten weigerten sich, die Mindestlöhne von acht bis 9,80 Euro zu akzeptieren und sie via Entsendegesetz allgemeinverbindlich zu machen. Mehr als acht Euro wollte die Union nicht zugestehen. Der aus persönlichen Gründen am gleichen Tag zurückgetretene Vizekanzler und Arbeitsminister Franz Müntefering bezeichnete den Vorgang als "blanke Lobby-Politik". Erst nach wochenlangen Querelen kam es doch noch zu einer Einigung.

Gewerkschaften und Sozialdemokraten mussten allerdings Abstriche beim Geltungsbereich des neuen Tarifvertrages hinnehmen. Ursprünglich war vorgesehen, dass auch jene Zusteller den Mindestlohn erhalten, die nur sporadisch Briefe verteilen und ansonsten Zeitungen oder Werbematerial. Dies ging Firmen wie Pin und TNT zu weit. Durch ihren Druck erreichten sie eine relevante Einschränkung. Ende November 2007 verständigten sich ver.di und der AGV darauf, die Mindestlöhne müssten nur jene "Betriebe und selbständigen Betriebsabteilungen" zahlen, die "überwiegend" für Dritte Briefsendungen befördern.

DIE ARBEITGEBER-GEWERKSCHAFT_ Die Gründung eines eigenen Arbeitgeberverbandes genügte Pin & Co aber nicht im Kampf gegen den Mindestlohn. Da ver.di es ablehnte, über Vereinbarungen zu verhandeln, die hinter erreichte Positionen zurückfallen würden, begleitete die Verleger-Lobby wohlwollend die Gründung einer neuen Arbeitnehmerorganisation - der Gewerkschaft der Neuen Brief- und Zustelldienste (GNBZ). Gemanagt wird sie von Arno Doll, nach eigenem Bekunden ehemaliges Mitglied der Gesamtgeschäftsleitung des Handelsriesen Tengelmann. So wurde aus dem pensionierten Topmanager plötzlich ein hauptamtlicher Gewerkschaftsvorstand.

Über die Finanzierung seines Salärs (Doll: "Ein fünfstelliger Betrag.") will er sich nicht näher äußern, auch nicht darüber, wie viele Mitglieder oder wie wenige Mitglieder die neue Gewerkschaft GNBZ hat. Ver.di, so die Befürchtung, lauere nur darauf, etwas in die Hand zu bekommen, um womöglich per Gerichtsbeschluss feststellen zu lassen, es handele sich bei der GNBZ gar nicht um eine reguläre Gewerkschaft, sondern um eine von den Arbeitgebern gepäppelte Interessenvertretung. Als Indiz dafür gilt, dass die GNBZ sich von Beginn an Arno Doll als Hauptamtlichen und ein Büro bei der Kölner Unternehmensberatung Optegra in der Universitätsstraße 71 leisten konnte - ohne bereits über nennenswerte Mitgliedsbeiträge verfügen zu können.

DEMO FÜR NIEDRIGERE LÖHNE_ Als Werbeplattform nutzte die GNBZ eine in der bundesrepublikanischen Gewerkschaftsgeschichte beispiellose Kundgebung, bei der Arbeitnehmer für niedrigere Löhne auf die Straße gingen. Im Oktober demonstrierten etwa 1000 Beschäftigte privater Postdienstleister in Berlin gegen die von ver.di und dem Arbeitgeberverband Postdienste e.V. ausgehandelten Mindestlöhne.

Die Pin-Geschäftsleitung verschickte Einladungen an Journalisten, in denen es hieß: "Gegen die Aufnahme von Postdienstleistungen in das Entsendegesetz protestieren … die Berliner Zustellerinnen und Zusteller der PIN MAIL AG und der TNT POST gemeinsam mit ihren Arbeitgebern." Im Anschluss bestehe die Möglichkeit, "Gespräche mit Betriebsratsmitgliedern wie auch mit Führungskräften der PIN Mail AG zu führen".

Als Kontakt für die Gespräche hatte die Pin AG die Telefonnummern der Agentur wbpr Public Relations GmbH in Berlin angegeben, die laut Selbstdarstellung zu den "führenden deutschen Agenturen für Wirtschaftskommunikation und Public Affairs" gehört. Ihre Vorzüge laut Internetauftritt: "Themen zu Nachrichten machen, Artikel lancieren, Interviews arrangieren". Auf der Referenzliste stehen Kunden wie Degussa, der Pharmariese Pfizer, Schalke 04, aber auch das Verkehrs- und das Wirtschaftsministerium. "Ob medienwirksamer Paukenschlag oder handfeste Krise", wbpr verspricht: "Unser Team macht auch außergewöhnliche Wege für Sie gangbar."

Etwa bei der Demonstration gegen Mindestlohn in Berlin? Dort wurden ver.di und die Post AG als "Mafia" beschimpft. Und holprig intonierte ein "Briefdienstchor": "Herr Müntefering, wir sagen ihm was/wir haben an unsrer Arbeit Spaß/doch neun Euro sind zu viel/wir alle wollen leben hier." Was nach Realsatire klang, war von der GNBZ offenbar ernst gemeint. In einem Thesenpapier sprach die "Gewerkschaft" von "staatlich verordneten Zwangslöhnen" und "Planwirtschaft nach DDR-Vorbild". Wie wichtig die Demonstration gegen den Mindestlohn der Pin-Firmenleitung war, belegt eine E-Mail, die ein Berliner Dispositionsleiter des Unternehmens im Oktober intern verschickte.

Darin wurde den Mitarbeitern mit Entlassung gedroht. Die Pin-Group bestehe aus "vielen, oft kleinen, lokalen Unternehmen". Hier könne "keiner die geforderten 9,80 Euro leisten". Deshalb "drohen Pleiten". Die Empfehlung des Vorgesetzten: "Ihr könnt durch die Teilnahme an der Demo euren Arbeitsplatz sichern! Unsere Firma und unser Betriebsrat freuen sich über jede Unterstützung. Selbst wenn der Termin in die Arbeitszeit fällt, könnt ihr teilnehmen. Einzige Voraussetzung ist die Sicherstellung des Tagesgeschäfts. Ihr werdet trotzdem als anwesend geführt und bekommt die Zeit voll bezahlt."

GEWERKSCHAFTSKARIKATUR_ Wie abhängig die "Gewerkschaft" GNBZ vom Arbeitgeberverband neue Brief- und Postdienste ist, belegt ein weiteres Beispiel. Die Kanzlei Beiten Burkhardt, die den neu gegründeten Arbeitgeberverband beriet, wandte sich an den Münchner Rechtsanwalt Krikor Seebacher. Er sollte, wie er gegenüber dem Fernsehmagazin Report Mainz bestätigte, "die Beratung einer Gewerkschaft beim Abschluss eines Tarifvertrages übernehmen". Jurist Seebacher: "Wenn man von solchen Rechtsanwälten gefragt wird, ob man eine Gewerkschaft vertritt, die ja die natürliche Gegnerschaft darstellt, dann wird man hellhörig"; es sei ihm noch nie untergekommen, "dass der Arbeitgebervertreter den Berater für die Gewerkschaft sucht".

Trotzdem wird GNBZ-Chef Arno Doll nicht müde, die Unabhängigkeit seiner Organisation zu beteuern. Die Gründung der GNBZ sei "das Ergebnis langer Überlegungen von Mitarbeitern aus der Branche, die sich durch ver.di nicht mehr vertreten fühlten". Und Florian Gerster versicherte noch Wochen nach dem Auftauchen der GNBZ, er kenne deren Vertreter gar nicht, nehme jedoch an, "dass die Geschäftsführungen es nicht ungern sehen, dass es diese Gewerkschaft gibt". Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer äußerte sich entsetzt über das Vorgehen des Gerster-Verbandes und der GNBZ: "Das hat mit Gewerkschaft nichts zu tun. Das ist eine Karikatur. Wenn es Schule macht, dass sich Arbeitgeber ihre Gewerkschaften gründen, dann gute Nacht Deutschland."

NACHTRAG_ Michael Sommer sollte schneller als erwartet die Fakten auf dem Tisch haben. Im Laufe des Insolvenz-Verfahrens der Pin AG tauchten Belege auf, nach denen das Unternehmen über 130.000 Euro an die Gewerkschaft GNBZ überwiesen hatte, was Ex-Pin Chef Thiel gegenüber dem Magazin "Focus" einräumte. Kurz zuvor hatte ver.di gegen die GNBZ Strafanzeige erstattet wegen des Verdachts der "Bestechlichkeit im Geschäftsverkehr". Diesen Vorwürfen geht jetzt die Kölner Staatsanwaltschaft nach. Sollten sie sich bewahrheiten, wären die zwischen der GNBZ und den Postkonkurrenten abgeschlossenen Tarifvereinbarungen zum niedrigeren Mindestlohn hinfällig.

Tariffähig ist nämlich nur eine Organisation, die wirtschaftlich und politisch vom Arbeitgeber unabhängig ist.
Damit verbunden dürften die Chancen für den Postmindestlohn wieder steigen. Am 7. März hatte das Berliner Verwaltungsgericht, die Aufnahme des zwischen ver.di und der Deutschen Post AG ausgehandelten Post-Mindestlohns in das Entsendegesetz für rechtswidrig erklärt. Das Entsendegesetz, so die Begründung, erlaube nur Mindestlohnregelungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer ohne Tarifvereinbarung. Dies sei im Briefmarkt aber nicht gegeben, denn die Postkonkurrenten hätten mit der Gewerkschaft GNBZ einen eigenen Tarifvertrag abgeschlossen.

Der sieht einen Mindestlohn von 6,50 Euro (Ost) bis 7,50 Euro (West) vor. Auf Postkonkurrenten, die sich dieser Vereinbarung unterworfen hätten, sei der höhere Post-Mindestlohn nicht anwendbar. Bundesarbeitsminister Scholz legte sofort Berufung gegen das Urteil ein. Der am 1. Januar eingeführte Post-Mindestlohn von acht Euro (Ost) bis 9,80 Euro (West) bleibt deshalb vorläufig gültig. ver.di-Vizechefin Andrea Kocsis kritisierte, das Verwaltungsgericht habe die "Axt an die Mindestlohn-Verordnungen" gelegt.


MEHR INFORMATIONEN

Uli Röhm/Wilfried Voigt: DAS LOHNDUMING-KARTEL: GROßVERLAGE BEKÄMPFEN DEN POST-MINDESTLOHN. VSA 2007, 94 Seiten.

 

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