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Magazin Mitbestimmung

: Wer sind die Unorganisierten?

Ausgabe 04/2008

MITBESTIMMUNG Unabhängige Listen gewinnen bei den Betriebsratswahlen an Terrain - auf Kosten der DGB-Gewerkschaften. Bisher fehlt eine Analyse dieses Trends.

Von WOLFRAM WASSERMANN. Der Autor ist freier wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kasseler Büro für Sozialforschung.

"Zwei Jahrzehnte lang hat die Siemens AG die arbeitgebernahe Betriebsräte-Organisation AUB und deren langjährigen Vorsitzenden Wilhelm Schelsky heimlich finanziert, um im Konzern ein Gegengewicht zur IG Metall zu schaffen", resümiert die Süddeutsche Zeitung am 5. März 2008 den Stand der Ermittlungen. Danach hat die Konzernspitze Schelsky über fingierte Rechnungen gut 50 Millionen Euro zukommen lassen, die AUB agierte als Kampftruppe gegen die IG Metall und errang mit teuren Wahlkämpfen 150 Betriebsratssitze, so die SZ. Wegen der "mutmaßlichen Manipulation von Betriebsratswahlen" plant die Staatsanwaltschaft, Anklage zu erheben - gegen Siemensvorstand Feldmayer und Schelsky, der seit über einem Jahr in U-Haft sitzt.

Das Gerichtsverfahren verspricht interessante Einblicke, wie Konkurrenzorganisationen systematisch von Arbeitgeberseite aufgebaut werden. Bei Siemens handelt es sich um einen krassen Einzelfall im Kontext von korrupten "Netzwerken, die längst ein Eigenleben führen" (Leyendecker). Andererseits ist das Phänomen der gelben Gewerkschaften und Betriebsräte, die vom Arbeitgeber (heimlich und indirekt) gefördert werden, nicht neu. Und darüber sollte auf keinen Fall vergessen werden: Die Schwächen und Misserfolge der DGB-Gewerkschaften in den Angestelltenmilieus haben strukturelle Gründe, den Trend zur spürbaren Distanzierung untermauern nicht zuletzt die Ergebnisse der Betriebsratswahlen 2006.

WENIGER DGB-VERTRETER_ Lange war die Situation in den Betrieben dadurch gekennzeichnet, dass zwar der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Beschäftigten sank, das Organisationsniveau der Betriebsratsmitglieder aber weitgehend stabil blieb. Nicht zuletzt deshalb gelten Betriebsräte als die Bindeglieder zwischen gewerkschaftlicher Politik und betrieblicher Mitbestimmung. Die Betriebsratswahlen der vergangenen Jahre zeigen aber, dass auch in dieser Kerngruppe der betrieblichen Interessenvertreter das gewerkschaftliche Organisationsniveau abgenommen hat.

Zwischen 1998 und 2006 sank es beispielsweise im Bereich der IG Metall von rund 79 auf rund 73 Prozent aller Mandatsträger. Damit ist der Organisationsgrad der Betriebsräte sogar stärker gesunken als das Organisationsniveau der Arbeitnehmer, das im gleichen Zeitraum von 43 auf rund 40 Prozent zurückging. In den DGB-Gewerkschaften verweist man auf die offensichtlichen Misserfolge von Konkurrenzorganisationen wie dem Christlichen Gewerkschaftsbund (CGB) oder anderen Splittergruppen. Als die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) vor ein paar Jahren durch Fusion mit ver.di von der Landkarte verschwand, schien es vorübergehend keine organisierten Gegner mehr zu geben.

Tatsächlich droht Konkurrenz mittlerweile von anderer Seite, wie die Ergebnisse der Betriebsratswahlen 2006 deutlich machen. So ist der Anteil der "Unorganisierten", wie sie im Jargon der Wahlstatistik genannt werden, in den Betriebsräten im Bereich der IG Metall in den vergangenen zwei Wahlperioden um ein Viertel gewachsen: von rund 20 Prozent auf heute 26 Prozent. Im Jahr 1990 hatte der Anteil der "Unorganisierten" noch bei 16 Prozent gelegen. Der Prozess hat sich also beschleunigt. Bei den Angestellten, deren Anteil an den Betriebsratsmandaten von Wahl zu Wahl steigt, war die Zahl der gewerkschaftlich nicht Organisierten im Jahr 2006 mit 39 Prozent besonders hoch.

Auch in den Betriebsratsspitzen ist - gewissermaßen auf hohem Niveau - eine spürbare Distanzierung gegenüber der IG Metall zu beobachten: Zwischen 1994 und 2006 sank der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Betriebsratsvorsitzenden um fünf Prozentpunkte. Mittlerweile wird jedes siebte Betriebsratsgremium nicht mehr von einem IG-Metaller geführt. Man muss annehmen, dass in diesen Betriebsräten die Mehrheit der Mandatsträger aus Personen besteht, die keine Mitglieder einer DGB-Gewerkschaft sind. Im Jahr 2006 waren das immerhin rund 2000 Betriebsratsgremien.

Wahrscheinlich ist die Zahl der Betriebsräte ohne gewerkschaftliche Mehrheiten tatsächlich aber deutlich höher, denn viele dieser Fälle finden nicht den Weg in die gewerkschaftliche Wahlstatistik. Auch bei der IG BCE ist mit einem Wert von 22 Prozent gewerkschaftlich nicht organisierter Mandatsträger die Welt nicht mehr in Ordnung. Beim Pharmakonzern Schering machte die Kandidatur eines AUB-Kandidaten Schlagzeilen, der 2006 ein Aufsichtsratsmandat gewann.

Bei ver.di ist der Anteil der Nicht-DGB-Gewerkschafter besonders hoch: Bei den Betriebsratswahlen 2006 registrierte die Wahlstatistik über 35 Prozent "Unorganisierte". Insbesondere im Einzelhandel und bei privaten Dienstleistern scheinen antigewerkschaftliche Gruppen bei den letzten Wahlen erhebliche Erfolge erzielt zu haben. Unter fantasievollen Namen wie "Die Aldianer", "Die Unabhängigen" oder "Wir für Euch" wurden der AUB nahe stehende Kandidaten gewählt, wie das arbeitgebernahe iw berichtet (Horst Niedenhoff: Betriebsratswahlen 1975?-?2006, Seite?38).

In der Bauwirtschaft, mithin im Bereich der IG BAU, weist die Wahlstatistik mittlerweile sogar 44 Prozent der Betriebsratsmitglieder als nicht gewerkschaftlich organisiert aus. Der Anteil der nicht in einer DGB-Gewerkschaft organisierten Mandatsträger steigt offensichtlich immer rascher. Ein Teil von ihnen scheint sich längst regionalen und teilweise sogar überregionalen Verbänden angeschlossen zu haben, die sich als moderne Alternative zur klassischen Einheitsgewerkschaft, gewissermaßen als Gewerkschaft der Gewerkschaftsgegner verstehen. Wie viele der "Unorganisierten" mittlerweile organisiert sind, ist bisher unbekannt.

GEWERKSCHAFTSFERNE MILIEUS_ Die negativen Aspekte für die Betriebsarbeit der Gewerkschaften liegen auf der Hand. Dort, wo sich neue, gewerkschaftsfernere Milieus in den Belegschaften bilden, wo auf der grünen Wiese neue Betriebe mit gewerkschaftlich unbeleckten Belegschaften entstehen, werden zunehmend mehr Arbeitnehmer ohne Gewerkschaftsbuch in die Betriebsräte gewählt. Arbeitnehmer ohne gewerkschaftliche Bindung wählen "Unorganisierte". Und wo sich - umgekehrt - immer weniger Betriebsratsmitglieder als Basisfunktionäre ihrer Gewerkschaft begreifen, leidet auch die Mitgliederwerbung. Betriebsräte ohne gewerkschaftliche Bindung organisieren keine Arbeitnehmer für die Gewerkschaften.

Das verminderte Organisationsniveau in den Betriebsräten kann aber in gewisser Weise auch als notwendige Begleiterscheinung eines Wandels verstanden werden, der die Praxis der Mitbestimmung erfasst. Mit den Frauen und durch Angestellte kommt mit jeder Wahl gewissermaßen frisches Blut in die Betriebsräte. Solche neuen, engagierten Betriebsratsmitglieder sind einerseits zu Hoffnungsträgern in Sachen Mitbestimmung geworden, gegenüber den gewerkschaftlichen Facharbeitereliten bleiben viele von ihnen zunächst auf Distanz.

Doch mit der Zeit gelingt es vielfach den gewerkschaftlichen Listen, diese neuen Kandidaten durch Annäherungsprozesse im Verlauf einer Wahlperiode auch in die Gewerkschaft zu holen. Von daher ist das Organisationsniveau der Betriebsräte zum Ende einer Wahlperiode stets höher als zu deren Beginn, allerdings kann dieser Mechanismus die anhaltende Senkung des Organisationsniveaus in den Betriebsräten nicht ausgleichen.

Es liegt nahe, einen Zusammenhang zwischen der anhaltenden Erosion der Gewerkschaftsmitgliedschaft in den Belegschaften und dem faktischen Anwachsen einer Gruppe von "Unabhängigen" in den Betriebsräten zu vermuten. Die Hintergründe sind bekannt: Die traditionell eher gewerkschaftsfernen Angestellten bilden in einigen Industriebranchen bereits die Mehrheit der Arbeitnehmer. Darüber hinaus wirkt sich der Trend zur Verkleinerung der Betriebe negativ auf die gewerkschaftliche Bindung aus. Und in neu- und ausgegründeten Betrieben des privaten Dienstleistungsgewerbes blieb den Gewerkschaften oftmals nur die Rolle von Zaungästen.

Schließlich wirkt sich auch eine gewisse Unbeweglichkeit der Gewerkschaften in der Anpassung an den strukturellen Wandel der Wirtschaft negativ aus. Zwei Beispiele: Bei der schnell expandierenden Leiharbeit lässt sich beobachten, dass Fachgewerkschaften innerhalb eines Unternehmens nicht kooperieren, sondern konkurrieren, was deutschen Arbeitnehmern letztlich unbegreiflich bleibt. Obwohl eine effektive Interessenvertretung der Leiharbeitnehmer nur über Verbundaktionen der Gewerkschaften des Dienstleistungs- und des Produktionsgewerbes zu erreichen wäre, fremdeln die betroffenen Einzelgewerkschaften hier nach wie vor untereinander. 600?000 Leiharbeiter suchen hier gewissermaßen noch ihre Gewerkschaft.

Und in branchenübergreifenden Unternehmen, wie etwa dem Facility Management, das Dienstleistungsbranchen aus mehreren gewerkschaftlichen Organisationsbereichen zusammengeführt hat, wird für manchen an der Gewerkschaft interessierten Arbeitnehmer die Suche nach der zuständigen Gewerkschaft mitunter zu einer frustrierenden Odyssee. Wo die beteiligten Gewerkschaften nicht gut miteinander können, können unter Umständen auch keine übergreifenden Betriebsratsstrukturen aufgebaut werden.

TYPOLOGIE DER "UNABHÄNGIGEN" FEHLT_ Die Bezeichnung der nichtgewerkschaftlichen Betriebsratsgruppen als "Unorganisierte" verschleiert die Tatsache, dass es sich mittlerweile in vielen Fällen eben nicht nur um enttäuschte Einzelkämpfer auf lokaler Ebene handelt. Hinter dem Etikett "unorganisiert" verbergen sich höchst unterschiedlich motivierte Gruppen.

- In den Großbetrieben hat es stets einen relativ festen Anteil so genannter "unabhängiger" Kandidaten gegeben, die aus verschiedenen persönlichen oder politischen Motiven - von Rechts wie von Links, von Schwarz wie von Grün - den Protest gegen die offizielle Gewerkschaftsliste artikulierten. Dies wird sicher auch in Zukunft so bleiben.

- Aus den eher gewerkschaftsfernen Arbeitnehmermilieus werden neue Mandatsträger in die Betriebsräte gewählt, besonders häufig sind hier Angestellte und Frauen zu finden. Sie stellen ein Potenzial zur Verjüngung und Erneuerung der Betriebsräte dar, wenn sie von den Gewerkschaften entsprechend aufgeschlossen behandelt und integriert werden.

- Problematisch ist die Gruppe der Kandidaten, die als "Unabhängige" auftreten, faktisch aber antigewerkschaftliche Positionen verfolgen, wie dies die zahlreichen zur AUB gehörenden Organisationen mit beträchtlichem Erfolg betrieben haben. Wo es solchen Gruppierungen gelingt, überregionale und branchenübergreifende Netzwerke zu knüpfen, kann dies auf mittlere Sicht die Federführung der DGB-Gewerkschaften in der betrieblichen Mitbestimmung gefährden.

Über die Verbreitung solcher Gruppen ist bisher kaum etwas bekannt: Die gewerkschaftliche Wahlstatistik weist sie nicht gesondert aus. Genauso fehlt eine Analyse der Motivlage: Was macht die Idee "unabhängiger Betriebsratsarbeit" bei Siemens-Ingenieuren wie bei Aldi-Verkäuferinnen eigentlich attraktiv? Die Antworten sind bedeutsam für die künftige Integrationsfähigkeit der gewerkschaftlichen Betriebsarbeit gegenüber unterschiedlichen Arbeitnehmermilieus.

 

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