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Magazin Mitbestimmung

: Schlummernde Potenziale

Ausgabe 11/2005

Wo können neue und innovative Dienstleistungsangebote entstehen? Wie können daraus Beschäftigungszuwächse gemacht werden? Was muss getan werden, um die Nachfrage in diesem Bereich zu stärken und die Leistungen exportierbar zu machen?

Von Hans Gabriel und Sabine Groner-Weber Dr. Groner-Weber leitet den Bereich "Politik und Planung" in der ver.di-Bundesvorstandsverwaltung in Berlin. Hans Gabriel ist dort für die Bereiche  Dienstleistungs- und Strukturpolitik verantwortlich. hans.gabriel@verdi.de, sabine.groner-weber@verdi.de   

Die Entwicklung des Dienstleistungssektors in Deutschland scheint auf den ersten Blick weitgehend mit der in anderen Ländern parallel zu laufen: Der Wertschöpfungsbeitrag von Dienstleistungen nimmt auch in der Bundesrepublik zu und umfasst derzeit einen Anteil von rund 70 Prozent des Bruttosozialproduktes.

Der Beitrag zur Beschäftigungsbilanz liegt in ähnlichen Größenordnungen: Drei von vier Erwerbstätigen erzielen schon heute ihren Lebensunterhalt mit Dienstleistungsarbeit; in diesem Bereich entstehen auch die meisten neuen Arbeitsplätze, und zwar in erster Linie in wissensintensiven Bereichen: Bei den Informations- und Kommunikationsdienstleistungen sind zwischen 1998 und 2002 jedes Jahr rund elf Prozent neue Stellen geschaffen worden; auch bei den nicht-technischen Forschungs- und Beratungsdienstleistungen betrug der jährliche Zuwachs stolze sieben Prozent.

Selbst bei den Un- und Angelernten konnten im Dienstleistungsbereich 1,6 Prozent neue Jobs verzeichnet werden. Die Beschäftigung in der Gesamtwirtschaft wuchs im gleichen Zeitraum pro Jahr lediglich um 0,3 Prozent, in der Industrie musste sogar ein Rückgang verzeichnet werden.   

Von Exportdynamik keine Spur 

Andere Unterschiede zur Entwicklung des industriellen Bereiches geben allerdings zu denken: Während im Fertigungssektor Exporterfolge, deren Wert im Übrigen nach aktuellen Schätzungen bereits zu 40 Prozent auf produktintegrierten Dienstleistungen beruht, nahezu als Selbstverständlichkeit erscheinen, zeigen sich bei den direkten Dienstleistungsexporten Schwächen: Der Saldo des Dienstleistungshandels war während der letzten Jahrzehnte durchgehend negativ (siehe Grafik auf Seite 33).

Der Schlussbericht der Enquete-Kommission "Globalisierung der Weltwirtschaft - Herausforderungen und Antworten" verweist darauf, dass sich die deutsche Außenhandelsbilanz für Dienstleistungen zwischen 1991 und 2001 um 266 Prozent verschlechtert hat und dass dieser Befund noch deutlicher ausfällt, wenn man die wissensintensiven Dienstleistungen alleine betrachtet. Von der aus anderen Bereichen gewohnten Exportdynamik und Internationalisierung ist also bislang im Dienstleistungsbereich wenig zu spüren. Bisweilen wird darauf verwiesen, dass das negative Vorzeichen "nur" auf den Tourismus zurückgehe.

Offen bleibt bei diesem Hinweis, weshalb ein reisebedingtes Minus anders zu bewerten sein soll als ein Minus mit anderer Provenienz: Die Gesamtbilanz bleibt negativ, was nichts anderes heißt, als dass bei den Dienstleistungen Wachstums- und Beschäftigungspotenziale brachliegen. Zu Recht betont deshalb die Enquete-Kommission, dass die Frage, wie man die Bilanz im Dienstleistungssektor verbessern könne, weiter aktuell bleibe. Wo können neue und innovative Dienstleistungsangebote entstehen, und wie können daraus Beschäftigungszuwächse gemacht werden? Was muss getan werden, um die Nachfrage in diesem Bereich zu stärken und die Leistungen exportierbar zu machen?    

Vielversprechende Ansätze 

In den vergangenen Jahren sind neue Dienstleistungsarbeitsplätze häufig dort entstanden, wo sich infolge des wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Wandels Strukturen verändert haben und wo Anpassungen erforderlich waren: So hat etwa die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen neue kommerzielle Haushaltsdienstleistungen, aber auch ergänzende öffentliche Dienstleistungen, etwa im Bereich der Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen, nach sich gezogen; es besteht sogar Grund zur Hoffnung, dass diese Entwicklung ausgebaut wird.

Ähnliches konnte bei den Energiedienstleistungen beobachtet werden: Seit knapper werdende Ressourcen und steigende Energiepreise die Einsicht wachsen lassen, dass Energiesparen angesagt ist, wachsen Fragen rund um den effektiven Einsatz von Energie exponentiell an. Sie haben einen Bedarf und in der Folge auch ein Angebot an professioneller Energieberatung und damit eine neue Dienstleistung entstehen lassen.

Aus der Sicht von ver.di ist es ein vielversprechender Weg, neue Herausforderungen, die aus gesellschaftlichem Wandel und wirtschaftlichem Veränderungsdruck resultieren, systematisch zur Erschließung neuer und nachhaltiger Dienstleistungsangebote zu nutzen: So könnte man das Problem der Verkehrszuwächse und der damit einhergehenden ökologischen Belastungen - Stichwort Feinstaubbelastung in Ballungszentren - als Anstoß für die Suche nach ökologisch-innovativen Distributionskonzepten begreifen.

Solche Konzepte sollten darauf zielen, den Schwerlastverkehr in den Innenstädten zu minimieren, was beispielsweise über Verkehrsbeschränkungen in den Kernstädten in Kombination mit verkehrsgünstig gelegenen Güterverteilzentren am Stadtrand angestrebt werden kann. Ergänzt um den Einsatz von Telematik und eine intelligente Verknüpfung von Verkehrsträgern, so dass nicht nur das Verkehrsaufkommen insgesamt reduziert, sondern auch der Lieferkomfort für den Kunden gesteigert werden kann.    

Unzeitgemäße Geringschätzung 

In vergleichbarer Weise kann man die Veränderungen im Gefolge des demografischen Wandels darauf abklopfen, wo zusätzliche oder ganz neue Dienstleistungen gebraucht werden. Klar wie selten ist der Bedarf im Pflegebereich: Unlängst haben Diakonie und Caritas der Politik eine "Pflegelüge" vorgeworfen. Der Diakoniepräsident wird im Tagesspiegel vom 27.8. 2005 mit den Worten zitiert: "Hätten wir nicht so viele Osteuropäer, die hier arbeiten, wäre die ambulante Versorgung in Ballungsräumen überhaupt nicht mehr gewährleistet." Was fehlt, sind Konzepte dafür, wie dieser Bedarf erfolgreich in bezahlte Dienstleistungsnachfrage umgesetzt werden kann.

Das größte Hindernis steckt in der Finanzierbarkeit der Leistungen. Eine verstärkte Steuerfinanzierung der Pflege könnte dem steigenden Bedarf Rechnung tragen, die Lasten gerechter verteilen und den Druck auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mindern. Allerdings stecken hinter den Finanzierungs- auch Bewertungs- und letztendlich Wertefragen: Dienstleistungen werden in der deutschen Industriegesellschaft traditionell gering geschätzt, was sicher damit zu tun hat, dass es sich dabei vielfach um klassische Frauenarbeitsplätze handelt.

Aber darf es denn wirklich sein, dass ein Stundenlohn, den man ohne Murren für die Pflege des Autos bezahlt, als Preis für die Pflege der eigenen Eltern einen Sturm der Entrüstung auslöst?  Der demografische Wandel fördert noch in anderen Bereichen Handlungsbedarfe und Beschäftigungschancen zu Tage: Wenn sich erfreulicherweise die Zeitspanne verlängert, die dem Einzelnen nach dem Eintritt ins Rentenalter bleibt, und wenn gleichzeitig die Zahl derer, die Beiträge in die Rentenkasse einbezahlen, verringert, entstehen Finanzierungsprobleme, die mit den derzeitigen Produktivitätszuwächsen allenfalls teilweise aufgefangen werden können.

Eine Ergänzung der gesetzlichen Rente um betriebliche und auch private Formen der Altersvorsorge ist die logische Konsequenz daraus, und weil nicht jeder mit den unterschiedlichen Wegen der Altersvorsorge vertraut ist, entsteht auch hier eine Nachfrage nach Information und Beratung.

Wo und wie dieser Bedarf zum Tragen kommt, ist noch offen: Möglich, dass sich die Bundesversicherungsanstalt BfA als zweites Standbein neben der Verwaltung der Versichertenkonten auch das Feld der Beratungsdienstleistungen für eine sichere Altersvorsorge erschließt - eine Variante, die vor dem Hintergrund der Fusion von Landesversicherungsanstalten und BfA zur Deutschen Rentenversicherung die dortigen Arbeitsplätze langfristig sichern könnte; möglich aber auch, dass dieses Terrain privaten Finanzdienstleistern überlassen wird.    

Ermutigende Prognose 

Damit sind die Beschäftigungspotenziale des Dienstleistungsbereichs keineswegs erschöpft: Eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung und des Landes NRW - siehe Tabelle - sieht Wachstums- und Beschäftigungspotenziale in den Bereichen Fitness/Wellness (auch hier wieder in besonderem Maße bei der älteren Generation), im Online-Handel, im Facility-Management, im Bereich der Mobilitätsdienstleistungen (sowohl beim Gütertransport als auch bei der Personenbeförderung) und nicht zuletzt bei den Informations- und Telekommunikationsdiensten sowie im Medienbereich:

Hier soll, so die Prognose der Studie, deutschlandweit ein Potenzial von fast 1,2 Millionen Arbeitsplätzen liegen, von denen das Gros höhere Qualifikationen erfordert, während in den Bereichen Haushaltsdienstleistungen und Freizeitangebote auch ein deutliches Potenzial für einfache Dienstleistungen gesehen wird. Freilich: Mehr als an Ideen scheint es an Konzepten und Strategien zu fehlen, wie diese Ideen systematisch in erfolgreiche Dienstleistungsprodukte und vor allem in Beschäftigung umgesetzt werden können.  



ver.di setzt auf Europa 

Was müsste geschehen, damit die Beschäftigungspotenziale innovativer Dienstleistungen sich in Arbeitsplätzen niederschlagen? ver.di sieht Handlungs- und Gestaltungsbedarf vor allem auf folgenden Feldern: 

Wirtschaftsförderungs-, Infrastruktur- und Entwicklungsprogramme konzentrieren und orientieren sich nach wie vor zu einseitig auf den industriellen Bereich. Sie sollten die Wachstums- und Beschäftigungspotenziale von Kultur und Tourismus, von Gesundheitswirtschaft, Logistik oder Bildung mit gleicher Intensität bearbeiten wie die der Fertigungsbereiche. Dabei gilt es, den Fokus stärker auf die den Dienstleistungsbereich prägenden kleinen und mittleren Unternehmen zu richten und sie bei der Ausrichtung auf eine stärkere Internationalisierung in Fragen der Vernetzung, Kooperation und Clusterbildung zu beraten.

Die systematische Dienstleistungsforschung, die bislang ein völlig unterfinanziertes Dasein im Schatten der industriellen Produktionsforschung führt, muss spürbar ausgeweitet werden. Ebenso notwendig ist eine weitere Vertiefung und Differenzierung der Dienstleistungsstatistik.

Dienstleistungsinnovationen, verstanden als Entwicklung von neuen Problemlösungskonzepten oder als Optimierung von Erbringungsprozessen, sollte größere Aufmerksamkeit zuteil werden: Messen oder Tagungen, die innovative Angebote vorstellen und für Transparenz in neuen Märkten sorgen, sind ein Ansatz; die Schaffung von Experimentierfeldern für "Kombinationsdienstleistungen" ein anderer (gemeint sind neue Dienstleistungen, die sich aus bekannten Angeboten zusammensetzen).

Innovative Angebote setzen voraus, dass qualifizierte Arbeitskräfte dafür gewonnen werden können. Dienstleistungsbezogene Fachkompetenzen müssen deshalb durch neue Berufsbilder, anerkannte Bildungsgänge und Bildungszertifikate geschützt und gestärkt werden, nicht allein um sicherzustellen, dass geeignetes und richtig qualifiziertes Personal zur Verfügung steht, sondern auch um Transparenz über Kompetenzen herzustellen und um die Qualität von Dienstleistungen zu sichern.

So richtig es ist, dass der Preis nicht das alleinige Kriterium für eine Beschaffung sein darf, so wirklichkeitsfremd wäre es, zu leugnen, dass Preise maßgeblich in Konsumentscheidungen einfließen. Wer also Beschäftigungspotenziale im Dienstleistungsbereich erschließen will, muss über Strategien nachdenken, wie auf dem Weg der Standardisierung und Rationalisierung bezahlbare Dienstleistungen angeboten werden können, die unter humanen Arbeitsbedingungen erbracht werden. Auch wenn es paradox klingt: Die Steigerung von Dienstleistungsproduktivität, die kurzfristig zu Beschäftigungsverlusten führen kann, dient langfristig der Sicherung von Beschäftigung.

Deutschland zeichnet sich durch ein Nebeneinander von privat und öffentlich finanzierten Dienstleistungen aus. Die Grenze zwischen beiden ist Gegenstand ständiger und notwendiger politischer Auseinandersetzungen. Ungeachtet dieser Notwendigkeit stecken darin erhebliche Planungs- und Investitionsunsicherheiten. Diese nicht unnötig zu vergrößern sollte ein Interesse aller sein, die zu einer positiven Entwicklung des Bereiches beitragen wollen.

Vor allem aber müssen die Möglichkeiten des europäischen Dienstleistungsmarktes gestaltet und genutzt werden - dabei reicht es keineswegs aus, die Zumutungen der Dienstleistungsrichtlinie abzuwehren, vielmehr gilt es, darüber nachzudenken, wie qualitativ gute Dienstleistungen und Dienstleistungs-Know-how exportierbar gemacht werden können. Europäisch organisierte Wertschöpfungsketten können dabei für alle beteiligten Standorte Vorteile bringen.

Systematisch entwickelt, können Dienstleistungsexporte und Dienstleistungsinnovation zu einem der entscheidenden Erfolgsfaktoren werden, wenn es darum geht, in einem globaler werdenden Markt die Exportstärke Deutschlands zu bewahren und zu festigen, qualitativ hochwertige und zeitgemäße Dienstleistungsangebote auf dem Binnenmarkt bereitzustellen und den sozialen Zusammenhalt in europäischer Perspektive zu erneuern.

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