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Wie fühlt es sich an, wenn man zum ersten Mal fürs Parlament kandidiert und Wahlkampf macht? Wir befragten sechs aktive DGB-Gewerkschafter/innen aus vier Parteien. Magazin Mitbestimmung

Von GUNNAR HINCK, CARMEN MOLITOR, JEANNETTE GODDAR: Gewerkschafter in den Bundestag!

Ausgabe 08/2017

Portrait Wie fühlt es sich an, wenn man mit gewerkschaftlichem Stallgeruch zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl kandidiert? Das Magazin Mitbestimmung stellt drei weitere Kandidaten vor.

Von GUNNAR HINCK, CARMEN MOLITOR, JEANNETTE GODDAR

Ver.dianer und SPD-Kandidat Uwe Schmidt: Für Häfen und Arbeitnehmerinteressen in den Bundestag

Uwe Schmidt ist Betriebsratsvorsitzender in Bremerhaven und SPD-Kandidat. Seine Aufgabe im Bundestag sieht er als Lobbyist für die Häfen und für die Arbeitnehmerinteressen. Er hat als Hafenarbeiter alles gemacht: Autos, Bananen, Säcke, Fisch.„Ich stand bis hier im eiskalten Kabeljau“, sagt Uwe Schmidt und deutet mit der Handkante die Gürtellinie an.

„Machen“ heißt in der Sprache der Hafenarbeiter das Löschen der Schiffsladungen. Viel Handarbeit war das in Bremen und Bremerhaven: Bevor sich die Container durchsetzten, mussten die schweren Bananenkisten auf die Förderanlage gewuchtet werden. „Danach wusstest du, was du getan hast“, sagt Uwe Schmidt.

Jetzt kandidiert der 51-­Jährige direkt in einem Wahlkreis, der Bremerhaven und die Hälfte von Bremen umfasst – bisher eine sichere Bank für die SPD. Ein Arbeiter will für die SPD in den Bundestag? Witze über seinen Minderheitenstatus in der ehemaligen Arbeiterpartei SPD, die nun von Leuten aus dem öffentlichen Dienst dominiert wird, hat Schmidt schon häufig gehört. Alle sind für ihn Arbeitnehmer. Doch während er seinen Wagen an Containern und Parkplätzen mit fabrikneuen Exportautos vorbeisteuert, benennt der Hafenarbeiter spezifische Erfahrungen: „Ich weiß, was ein Lohn von 9,22 Euro bedeutet – und was solche Löhne mit den Menschen machen.“ Mit einem Schmunzeln sagt er: „Ich bin eher lösungsorientiert: Ein Schiff muss bearbeitet werden, wenn es reinkommt. In einer Verwaltung neigt man manchmal dazu, stattdessen immer neue Problembeschreibungen zu finden.“

Uwe Schmidt ist seit 2012 Betriebsratsvorsitzender des Gesamt­hafenbetriebs Bremerhaven (GHB) und seitdem freigestellt. 2012 gewannen er und seine Mitstreiter die Betriebsratswahl – als Verdianer gegen die offizielle ver.di­-Liste. Der amtierende Betriebsrat war kriti­siert worden, dass er zu wenig gegen Entlassungen getan habe. Die Lokalpresse nannte Schmidt und seine Kollegen die „GHB-­Rebellen“.

Die Gesamthafenbetriebe sind eine Besonderheit der deutschen Seehäfen. Sie werden gemeinsam von ver.di und den Arbeitgeberver­bänden getragen, bei ihnen sind die Hafenarbeiter angestellt. Der GHB wiederum verleiht seine Arbeiter an die einzelnen Mitgliedsun­ternehmen, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

Im Zuge der Wirtschaftskrise 2008, als der Überseehafen von har­ten Umschlagseinbußen betroffen war, ist Uwe Schmidt in die SPD eingetreten. „Die Politik ist die entscheidende Schaltstelle. Man braucht sie, um seine Interessen zu vertreten.“ Seine Aufgabe im Bun­destag sieht er als Lobbyist in Sachen Arbeitnehmerinteressen und Häfen. „Die Gewerkschaften machen nicht genug Lobbyarbeit für die Häfen, und der Bund stiehlt sich aus der Verantwortung“, sagt der GBR. „Dabei haben die Überseehäfen nationale Bedeutung und müs­sen konkurrenzfähig bleiben.“ Schmidt will, dass der Bund mehr in­vestiert und mehr Unterhalt beisteuert. Dafür möchte er Mitglied des Verkehrsausschusses werden: „Dort wird über die Piepen entschieden“, sagt er – und schmunzelt.

Text: Gunnar Hinck – Foto: Jörg Sarbach

 

IG-BCE-Gewerkschafterin Nicole Specker will sich im Bundestag für Mitbestimmungs-Themen einsetzen

Nicole Specker will wieder nach Berlin. Angela Merkel hatte sie vergangenes Jahr dort schon einmal empfangen. Ausgerechnet Specker, die noch nie ein Parteiamt innehatte und derzeit darum kämpft, für die SPD in den Bundestag einzuziehen, war schon mal ganz offiziell bei der Bundeskanzlerin eingeladen: als Karnevalsprinzessin von Uerdingen.

Man kann es ungerecht finden, dass die politisch und gewerkschaftlich engagierte Frau vielen Menschen in ihrem Wahlkreis 110 (Krefeld I/Neuss II ) vor allem als „unsere Karnevalsprinzessin, die bei Frau Merkel war“ bekannt wurde. Nicole Specker sieht das locker. Sie lacht, als sie von dem Besuch erzählt – und weist darauf hin, dass sie als Karnevalsprinzessin mitten in der Flüchtlingskrise ein politisches Motto wählte: „Uerdingen ist jeck und tolerant, wir feiern mit allen Jecken Hand in Hand.“

Man kommt mit Nicole Specker schnell ins Gespräch: Sie wirkt offen, hu­morvoll und unkompliziert. „Ich kann sehr gut auf andere zugehen und kriege schnell einen Draht zu allen möglichen Menschen“, erzählt sie. „Mitten im Le­ben“ – ihr Wahlkampfmotto – wolle sie auch als Politikerin bleiben. „Das ist es, was mich auszeichnet: wirklich nahe bei den Menschen zu sein, ihre Sorgen und Nöte aus eigener Erfahrung zu kennen.“ Specker wuchs in Krefeld in ein­fachen Verhältnissen auf. Ihr Vater, ein Kraftfahrer, Gewerkschafter und Sozial­demokrat, weckte ihr Interesse an Politik. Als Specker 1988 eine Ausbildung als Chemielaborwerkerin bei der Bayer AG begann, war es für sie deshalb klar, dass sie IG-­BCE-­Mitglied wurde. Bald darauf trat sie auch in die SPD ein. Einige Jahre arbeitete sie als Gewerkschaftssekretärin bei der Chemiegewerkschaft, heu­te ist sie kaufmännische Angestellte beim Betriebsrat der Covestro Deutschland AG, einer Bayer­-Tochter, und Vorsitzende der IG ­BCE­-Ortsgruppe Krefeld­-Uerdingen. Über eine parteipolitische Karriere hatte sie nie nachgedacht.

Gerade das gefiel der örtlichen SPD, die für die Bundestagswahl auf der Suche nach einem unverbrauchten Gesicht mit Basisnähe war. Vor gut einem Jahr fragten die Genossen, ob sie ihre Bundestagskandidatin werden wolle. „Mein erster Impuls war: Das ist eine Nummer zu groß“, räumt Specker freimütig ein. Aber sie kam ins Grübeln: Denn als Gewerkschafterin und ehrenamtliche Rich­terin am Sozialgericht hatte sie schon viel mitbekommen von den Problemen der Menschen, die am finanziellen Limit leben, und sich darüber geärgert. „Da dachte ich: Vielleicht ist es gut, nicht nur auf der Straße zu fahren, sondern mit daran zu arbeiten, wo die Leitplanken gesetzt werden.“

Fair bezahlte Arbeitsverhältnisse, Zugänge zur Bildung für alle, auskömmliche Rente auch für Frauen: „Diese drei Themen treiben mich wirklich an“, betont Nicole Specker. „Da muss es echt gerechter zugehen!“ Auch für Mitbe­stimmungsthemen wie den Schutz von Wahlvorständen vor Repressionen der Arbeitgeber und einen besseren Zugang von Gewerkschaften in die Betriebe wolle sie sich einsetzen: „Ich bin froh, dass die SPD den Schulterschluss mit den Gewerkschaften wieder gesucht hat. Das ist der richtige Ansatz!“

Es ist längst nicht ausgemacht, ob Nicole Specker es in den Bundestag schafft. Ihr Wahlkreis ist traditionell „kohlrabenschwarz“, sagt sie. Auch ein Einzug über die Liste ist nicht sicher: Bei der letzten Bundestagswahl haben es alle SPD-­Kandidaten bis zum Platz 29 in den Bundestag geschafft. Specker steht auf Platz 28. Sie hänge sich voll in den Wahlkampf rein und denke nicht über eine Niederlage nach, sagt die verheiratete Mutter eines 17­-jährigen Sohnes. „Ich habe einen tollen Job, eine tolle Familie, ein tolles soziales Umfeld. Ich habe in dem Punkt nichts zu verlieren außer einer Wahl.“ Trotzdem säße sie am 26. Septem­ber lieber im Flieger nach Berlin als im Chempark Krefeld­-Uerdingen im Be­triebsratsbüro.

Text: Carmen Molitor – Foto: Jürgen Seidel

 

Warum Martin Heilig, aktiver GEWler und Grüner in Bayern, auch ohne große Chancen Bundestagswahlkampf macht

Als Martin Heilig in eine Partei eintrat, war die CSU in Bayern mit weit über 50 Prozent der Stimmen noch mächtiger als heute. Der 18-­jährige Azubi zum Baukaufmann ging zu den Grünen. Angetrieben, erzählt er, von dem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit und einer intakten Umwelt, zwei „Herzblut“­Themen, damals wie heute.

Das war 1993. Inzwischen ist viel passiert: Martin Heilig holte sein Abitur nach, absolvierte ein preisgekröntes Studium, wurde vierfacher Vater. Als er seine Arbeit als Handelslehrer aufnahm, tat er das ganz bewusst an einer Schule, an der Schüler über den zweiten Bildungsweg zum Abitur kommen.

Als Nächstes trat er in die GEW ein. Auch hier stand das Streben nach Gerechtigkeit im Fokus, gleich zweifach: Erstens wollte er sich dagegen einsetzen, dass angestellte Lehrer schlechter gestellt sind als verbeamtete (er gehört zu Letzteren). Und zweitens hatte er erkannt, wie weit Schüler von gleichen Chancen entfernt sind. Die „Auslese nach Herkunft“ sei „krass“, erklärt er. Kommt ein bayerischer Viertklässler aus einer Akademikerfamilie, wird er mit einer 2,4­-fach höheren Wahrscheinlichkeit auf das Gymnasium empfohlen als sein Mitschüler aus dem nichtakademischen Haushalt. „Das ist bundesweit Negativrekord“, so Heilig.

Sein Einsatz in der GEW – der Chancengleichheit ebenso ein Kernanliegen ist wie die gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit – machte ihn zum Kreisvorsitzenden Unterfranken; bei den Grünen ist er Vorsitzender des Kreisverbandes Würzburg.

Zurzeit müssen die gewerkschaftlichen Umtriebe zurückstehen. Martin Heilig ist im Bundestagswahlkampf (Slogan: Bildung ist uns HEILIG), wenn auch ohne viel Aussicht, ins Parlament einzuziehen. 2013 holte er als Direktkandidat in Würzburg zehn Prozent; das ist für Bayern viel, aber für den Einzug zu wenig. Über die Landesliste, auf der er auf Platz 20 steht, dürfte er es auch kaum schaffen. Warum tut er sich das an? „Weil ich mit Leidenschaft für meine Themen kämpfe“, sagt er. Ein weiteres davon ist der Kampf für eine grünere Wirtschaft, den er mit Verve führt: gegen einen Verbrennungsmotor, der „doch fast schon Geschichte ist“, für Elektromobilität, Windkraft, Pedelecs. Da, sagt der 42­Jährige, „entstehen richtig Arbeitsplätze.“

Im Sinne der Menschen ohne Arbeitsplätze tritt Heilig für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein. Ein Ende bereiten will er damit vor allem der Stigmatisierung von Arbeitslosen und der damit verbundenen „unglaublichen Sozialbürokratie“. Ein entsprechendes Finanzmodell rechnete er in seiner Diplomarbeit vor. Dafür erhielt er den Deutschen Studienpreis und so viel Renommee, dass er noch heute zu Vorträgen eingeladen wird. Nicht als Grüner und auch nicht als Mitglied der Gewerkschaften – die dem Grundeinkommen ja skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Stören tut Heilig das nicht: „Ich bin weder nur Gewerkschafter noch nur Politiker, sondern, wie alle anderen Menschen, eine Persönlichkeit, in der für vieles Platz ist.“

Text: Jeannette Goddar – Foto: Josef Schmid

Aufmacherfoto: picture alliance/Daniel Kalker

 

WEITERE INFORMATIONEN

Diese Gewerkschafter wollen in den Bundestag (Teil 1)

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