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Magazin Mitbestimmung

Betriebspolitik: Generationenwechsel im Betriebsrat

Ausgabe 01+02/2014

Vielen Betriebsratsgremien droht Überalterung. In den Vertrauensleuten haben die Industriegewerkschaften ein Nachwuchs-Potenzial, das sie mehr aktivieren sollten. Von Jürgen Prott, bis 2008 Industriesoziologe an der Universität Hamburg

Finden sich für die Betriebsratswahlen jetzt im Frühjahr genügend qualifizierte und gewerkschaftlich engagierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereit, für ihren Betriebsrat zu kandidieren? Wer diese Frage amtierenden Interessenvertretern aus der Industrie stellt, stößt auf gebremsten Optimismus. Die meisten von ihnen wollen selbst wieder antreten und sind zugleich sicher, eine ausreichende Zahl potenzieller Mitstreiter an ihrer Seite zu wissen, auch wenn sich die Nachwuchspflege heute schwerer gestaltet als in früheren Zeiten. Diese Erkenntnis verdanken wir einer Befragung von mehreren Dutzend in der IG BCE organisierten Betriebsräten aus immerhin 70 Betrieben. Bisher, so argumentieren vor allem erfahrene Betriebsratsvorsitzende, hätten sich immer noch genügend Kolleginnen und Kollegen bereitgefunden, dieses zwar oft mühsame, aber unter dem Strich doch zufriedenstellende bürgerschaftliche Engagement auf sich zu nehmen. Kein Grund zur Besorgnis also?

Wenn wir die Lage näher betrachten, erkennen wir jedoch zunehmende Schatten auf dem flächendeckenden Bild der betrieblichen Mitbestimmung. So müssen mehr als die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland in ihrem Betrieb auf den Schutz einer gesetzlich legitimierten Interessenvertretung verzichten. Vor allem wenn sie im Osten der Republik in einem kleinen Unternehmen jenseits der Industrie beschäftigt sind, kennen sie Betriebsräte häufig nur vom Hörensagen. Aber auch am anderen Ende der Skala, wo die Gewerkschaften im Betrieb traditionell stark verankert sind, steht nicht alles zum Besten. Wie eine tickende Zeitbombe erscheint manchen die Überalterung sehr vieler Betriebsratsgremien. Experten schätzen, dass bei den diesjährigen Wahlen etwa jedes vierte Betriebsratsmitglied zumeist aus Altersgründen ersetzt werden muss, was den Kolleginnen und Kollegen in den mittelgroßen und großen Betrieben nicht allzu große Kopfschmerzen bereitet. 2018 jedoch, wenn etwa jedes zweite Betriebsratsmitglied seinen Hut nehmen wird, steht vielerorts ein massiver Generationswechsel an, den ohne Qualitätseinbuße nur bewältigen wird, wer mithilfe der Gewerkschaften strategisch plant.

Nun lehren uns Organisationsforschung wie Lebenserfahrung, dass Interessenvertretungsorgane, wenn sie effektiv und einfallsreich funktionieren sollen, ein gutes Mischungsverhältnis benötigen zwischen bewährten und erfahrenen Kräften auf der einen und unverbrauchten, kreativen Personen auf der anderen Seite. In vielen großen Industriebetrieben hat es jedoch den Anschein, als hätten sich an der Spitze der Betriebsräte langjährig eingespielte Teams etabliert, die zwar unbestreitbare Erfolge für sich geltend machen können, aber den nicht exponierten Angehörigen des Gremiums die Luft zum Atmen nehmen.

Wenn sich im Betrieb zudem herumspricht, dass Eitelkeiten, persönliche Animositäten und Machtstreben das Klima solidarischer Kooperation im Betriebsrat vergiften, schreckt das den Nachwuchs ab. Vom „Hauen und Stechen“ oder dem „Schaulaufen der Meister“ ist in unseren Interviews die Rede, in denen sich eine beachtliche Minderheit der befragten Interessenvertreter über blockierte Partizipationschancen beklagte. „Hätte mir vor der Wahl einer gesagt hätte, in welche Schlangengrube ich da hereinkomme“, sagte ein jüngerer Techniker stellvertretend für andere im Intensivinterview, „wäre ich sicher nicht angetreten.“

Gewissenhafte Betriebsräte stoßen in der Belegschaft auf positive Resonanz, weil sie durchsichtig agieren und die Aufgaben auf möglichst viele Schultern verteilen. Das spornt jenen Kreis von Kandidaten an, die nicht ihr persönliches Schäfchen ins Trockene bringen, sondern aus gewerkschaftlicher Überzeugung betriebliche Arbeitnehmerpolitik mitgestalten wollen. Wo es aber amtierenden Betriebsräten schwerfällt, Nachwuchs zu gewinnen (weil schlichte Aushänge am Schwarzen Brett diesen auch nicht anlocken), täten diese Betriebsräte sicher gut daran, selbstkritisch nach Gründen für ihre mangelnde Ausstrahlungskraft zu forschen. Dies sollten sie tun, bevor sie andere für die mangelnde Attraktivität des von ihnen verkörperten Ehrenamtes verantwortlich machen – wie die vermeintlich bindungsunfähige jüngere Generation, die Selbstsucht der Angestellten oder gar die Hinterlist des Managements.

POTENZIAL VERTRAUENSLEUTE Aber auch wenn sich Betriebsräte ehrlich und einvernehmlich bemühen, so viel wie möglich für ihre Wählerinnen und Wähler herauszuholen, auch wenn sie dem Eindruck entgegenwirken, sich an ihren Sesseln festzukrallen, kann es ihnen passieren, die Lücken im Gremium wie auf der Liste der Nachrücker nicht mit qualifiziertem und wertrational motiviertem Nachwuchs schließen zu können. An dieser Stelle kommen die gewerkschaftlichen Vertrauensleute ins Spiel. Ihnen eilt im günstigen Fall der Ruf voraus, „kleine Betriebsräte“ zu sein. Viele von ihnen verstehen ihre Mitarbeit im gewerkschaftlichen Vertrauenskörper als Einübung einer späteren Mitwirkung in der gesetzlichen Interessenvertretung.

Meine Befragung von im Jahr 2012 neu gewählten Vertrauensleuten in der IG Metall und der IG BCE mithilfe einer standardisierten Befragung (bei der IG Metall) sowie einer Serie von Gruppeninterviews (mit Vertretern der IG BCE) förderte eine ganz ähnliche Verhaltensdisposition zutage. Obwohl erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit von den Gewerkschaftskollegen ihrer Abteilung/Arbeitsgruppe ins Vertrauensleute-Ehrenamt berufen, erklärten sich 36,1 Prozent aus der IG BCE und sogar annähernd jeder Zweite (48,2 Prozent) aus der IG Metall einige Monate vor der Betriebsratswahl prinzipiell zu einer Kandidatur bereit. Die erfreuliche Botschaft lautet demnach: Das Interesse ist da.

Der Haken bei dieser Sache ist allerdings, dass die Vertrauensleute als betriebspolitische Infrastruktur der Gewerkschaften schon bessere Zeiten gesehen haben. In den zurückliegenden Jahren schwindet ihre Zahl kontinuierlich, wenn auch zuletzt mit abnehmendem Tempo. Das kann angesichts der Tatsache kaum verwundern, dass die deutschen Gewerkschaften zwischen 2000 und 2011 nicht weniger als 1,6 Millionen Mitglieder verloren haben. Gerade da, wo der potenzielle Betriebsratsnachwuchs in Gestalt von Vertrauensleuten besonders dringend gebraucht wird, in den kleinen und mittleren Unternehmen jenseits der Industrie, müssen wir sie zumeist mit der Lupe suchen. Häufig beklagt sich dort zudem das kleine Häuflein zur gewerkschaftlichen Fahne stehender Betriebsangehöriger darüber, dass der zuständige Gewerkschaftssekretär ihrer „Betreuung“ nicht unbedingt die oberste Priorität einräumt, wie meine Befragungen nahelegen. In einer derartigen Situation subjektiv empfundener Mehrfachbenachteiligung kann schon die Neigung des Betriebsratsvorsitzenden, „die Brocken hinzuschmeißen“, das Ende der gesetzlichen Interessenvertretung auf unabsehbare Zeit einläuten.

Seit einiger Zeit erkennen die von langjährigem Substanzverlust gebeutelten Gewerkschaften ein schwaches Licht am Ende des Tunnels. Sie haben verlorene Anziehungskraft zurückgewonnen. Auch die durchaus vorhandene Bereitschaft vieler neu ins Amt gekommener Vertrauensleute, so bald wie möglich in ihren Betriebsrat nachrücken zu wollen, kann Optimismus begründen. Wenn wir genauer hinsehen, verdunkelt sich aber auch dieses Bild. Wer da aus dem Kreis neu gewählter Vertrauensleute Betriebsratsambitionen hegt, ist im Schnitt in beiden Industriegewerkschaften bereits etwa 45 Jahre alt. Somit verkörpern diese Interessenten nicht unbedingt die in den Gewerkschaften notorisch unterbelichtete Perspektive der jüngeren Generation.

Darüber hinaus zeigen die Befragungsergebnisse, dass Vertrauens-Frauen nach wie vor deutlich seltener in die Betriebsräte streben. Und auch qualifizierte Angestellte aus dem Kreis der gewerkschaftlichen Vertrauensleute halten sich wesentlich stärker zurück, wenn sie auf individuelle Betriebsratspräferenzen angesprochen werden. In ihrer Wahrnehmung etablierter betrieblicher Verhältnisse hat hier und da ein überschaubarer Personenkreis den Betriebsrat über mehrere Perioden hinweg gleichsam okkupiert. Vor allem gewerbliche Arbeitnehmer scheinen bis heute gelegentlich das Wahlamt als Ersatzkarriere zu nutzen. Das aber entspricht häufig gerade nicht der individuellen beruflichen Lebensplanung qualifizierter Angestellter. Sie wollen sich durchaus im Betriebsrat engagieren, aber nicht unbedingt mit ganzer Kraft und auf unabsehbare Zeit. Manche von ihnen sympathisieren mit Teilzeitfreistellung, die ihrem beruflichen Ehrgeiz nicht in die Quere kommt, bezweifeln jedoch, ob sich solche Wunsch-Konstruktionen gegenüber eingeschliffenen Mustern behaupten können.

Im Licht der Befragungen und umfänglicher Analysen lautet ein vorläufiges Fazit: Angesichts wachsender Schwierigkeiten, die altersbedingt aufreißenden Lücken in vielen Betriebsräten mit einer ausreichenden Zahl engagierter Personen zu schließen, sind die Gewerkschaften gut beraten, in ihrer Betriebspolitik der Vertrauensleutearbeit mehr Gewicht zu geben. Neu gewonnene Mitglieder an die Organisation zu binden, etwa durch attraktive Angebote kontinuierlicher ehrenamtlicher Beteiligung, kommt über kurz oder lang auch der Mitbestimmung im Betrieb zugute. Wenn die Gewerkschaften sich erfolgreich bemühen, die Vertrauensleute in der Gewerkschaft wie im Betrieb mit substanzielleren Partizipationsrechten auszustatten, erweitern sie die Chancen, die Arbeit der Betriebsräte in der Zukunft nachhaltig abzusichern. 

MEHR INFORMATIONEN

Jürgen Prott: ZUKUNFT FÜR BETRIEBSRÄTE - PERSPEKTIVEN GEWERKSCHAFTLICHER BETRIEBSPOLITIK. Münster, Westfälisches Dampfboot 2013. 330 Seiten. Die Hans-Böckler-Stiftung förderte das Projekt 

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