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Magazin Mitbestimmung

: Die Krise ist nicht an allem schuld

Ausgabe 01+02/2010

SOZIALSTAAT Die Debatte um Milliardenlöcher in den Sozialversicherungen verstellt den Blick auf Probleme und Fehlentscheidungen in der Zeit vor dem Finanzmarkt-Crash. Von Annelie Buntenbach

ANNELIE BUNTENBACH ist Mitglied im geschäftsführenden DGB-Bundesvorstand

Die sozialen Sicherungssysteme in der Krise - das wäre eine doppeldeutige Botschaft, zeigt sich doch gerade die soziale Sicherung als starkes Bollwerk gegen die Krise. Dennoch dürfen die zuletzt noch beruhigend niedrigen Arbeitslosenquoten den Blick für die Realität nicht verschleiern. Für eine Zustandsbeschreibung und die Beurteilung der Zukunftsperspektiven muss man ganz genau hinschauen. Selbst dann, wenn die Wirtschaftskrise überstanden scheint - die Folgen des Desasters an den internationalen Finanzmärkten werden wir noch lange spüren. Und vermutlich gerade dann, wenn das Ende der Krise verkündet wird, kommt es zum Schwur: Wer trägt die Kosten und Folgekosten von Rettungsschirmen, Konjunkturpaketen, Steuer- und Beitragsausfällen? Je nachdem wie sich die Wirtschaft und der Arbeitsmarkt entwickeln, könnte die Stunde der Wahrheit nach der Landtagswahl in NRW im Mai, spätestens aber nach den Wahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg im Jahr 2011 kommen. Bis dahin, spätestens bis zum Herbst 2011 gilt es, die Weichen zu stellen.

Um den Zustand und die Perspektiven sozialer Sicherung angemessen zu beschreiben, muss man aber mehr in den Blick nehmen als die Krise und deren Bewältigung. Strukturprobleme der sozialen Sicherungssysteme gehen in erster Linie auf politische Entscheidungen zurück, oft genug auf Fehlentscheidungen. Deshalb sollte man nicht alles und jede Forderung mit der Krise begründen. Was, wenn die Krise überstanden ist, in den Sozialsystemen jedoch eine Schneise der Verwüstung angerichtet hat? Die Ursache hat sich politisch schnell verflüchtigt, die öffentliche Debatte gewendet und die Solidarsysteme werden - einmal mehr - selbst zum Problem erklärt. Wir müssen also vorbeugen.

Apropos Prävention - ein schillernder Begriff, der in erster Linie Sonntagsreden schmückt. Prävention wirkt leider erst deutlich zeitverzögert, als dass sich damit die schnelllebige Tagespolitik leicht beeinflussen ließe. Allen schönen Worten über Nachhaltigkeit zum Trotz wird die Frage, wie man Arbeitslosigkeit, Krankheit und sozialen Abstieg vermeiden kann, noch immer nachrangig behandelt. Schlimmer noch: Das Wort von der "Vorsorge" wurde missbraucht, um in die sozialen Sicherungssysteme einzugreifen. Das Leitbild des vorsorgenden Sozialstaats wurde in den letzten Jahren - politisch - immer mehr zur Privatsache erklärt: Eigenverantwortung und eine staatliche geprüfte Grundsicherung waren und sind Instrumente zum Abbau solidarischer Sicherung. Im Ergebnis müssen wir heute eine deutliche Tendenz in Richtung Bedürftigkeitsstaat erkennen. Dieser Trend wurde lange vor der Wirtschafts- und Finanzkrise eingeleitet. Die Krise aber könnte und sollte eine Chance sein, hier Bilanz zu ziehen und die Richtung zu ändern.

Die sozialen Sicherungssysteme stehen in vielfältigen Abhängigkeiten und sind zugleich ein Mittel zur Umverteilung. Nicht zuletzt weil sich die Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt negativ entwickelt haben, konnte die angeblich zu hohe Belastung der Unternehmen durch Sozialabgaben die Debatte so sehr beherrschen, dass die Sozialversicherungen dazu missbraucht wurden, um die Arbeitgeber zu entlasten. Die hartnäckig hohe Langzeitarbeitslosigkeit, die Ausweitung des Niedriglohnsektors, die Prekarisierung und das Lohndumping, die Bildungsmisere und nicht zuletzt die in den Unternehmen verursachten arbeitsbedingten Erkrankungen gehören - neben der noch immer negativ zu Buche schlagenden Fehlfinanzierung der deutschen Einheit - zu den Hauptgründen für die strukturelle Schwäche der Sozialversicherungen und deren Anfälligkeit für Umverteilungen zugunsten der Arbeitgeber.

Die Gewerkschaften stehen vor der Herausforderung, den Verteilungskampf auch in den Sozialversicherungen offensiver aufzunehmen. Die Mehrbelastungen der Arbeitnehmer bei Gesundheit, Alterssicherung oder Pflege gehen nicht allein zulasten hart erkämpfter Lohnerhöhungen. Es geht auch um das solidarische Gesellschaftsbild in einer vom Strukturwandel geprägten Zeit. Die gesellschaftliche Individualisierung hat ihr Spiegelbild in der Prekarisierung des Arbeitsmarktes. Wie tief diese Gesellschaft gespalten ist, zeigt sich ebenso bei Arbeitslosen wie bei Krankenversicherten erster und zweiter Klasse. Und das Anwachsen der Armut kann schnell dazu führen, dass die bedürftigkeitsgeprüften Grundsicherungssysteme - perspektivisch vor allem die Grundsicherung im Alter - aus allen Nähten platzen und die sozialen Sicherungssysteme Stück für Stück dadurch ersetzt werden sollen. Das auf Privatisierung der sozialen Sicherung orientierte FDP-Bürgergeld gibt darauf einen ersten Vorgeschmack. Was dabei allzu oft übersehen wird: Ein steigender Teil der Lasten wird aus dem Solidarsystem auf die ohnehin finanziell gebeutelten Kommunen verlagert. Die Folge: Weniger Mittel für die öffentliche und soziale Infrastruktur in den Städten und Gemeinden. Ein solch systematisch organisierter Sozialabbau und staatlich verwaltete Armut stehen jedoch im eklatanten Widerspruch zu unserem solidarischen und freiheitlichen Gesellschaftsbild.

Das Kernproblem ist, dass inzwischen weder ein Arbeitsplatz noch die Existenz der Sozialversicherungen ein wirklicher Garant für soziale Sicherheit sind. Durch die Hartz-Reformen wurde dem Lohndumping Tür und Tor geöffnet, weil Arbeitslose praktisch jeden noch so schlecht bezahlten Job annehmen müssen. 1,3 Millionen Arbeitnehmer müssen zusätzlich zum Job ALG II beantragen, weil die Löhne nicht zum Leben reichen. Jeder sechste Beschäftigte ist akut von Armut bedroht. Dazu kommt, dass die Arbeitslosenversicherung selbst zu  wenig Schutz bietet. Bereits vor Ausbruch der Wirtschaftskrise rutschte fast jeder dritte Beschäftigte bei Jobverlust direkt in das Bedürftigkeitssystem ab. Ein gefährlicher Trend, der sich - zumindest mit Blick auf die Zukunft - im Alter verfestigen könnte, weil auf Lohnarmut und Langzeitarbeitslosigkeit unweigerlich Altersarmut folgt und - ohne einen politischen Wandel - immer mehr Menschen auf die Grundsicherung im Alter angewiesen sein werden.

Eine solche Gefahr droht durch die Koalitionspläne auch in der gesetzlichen Krankenversicherung. So würde eine Einführung von einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen (Kopfpauschalen) mit einem sogenannten sozialen Ausgleich dazu führen, dass die Finanzierung der Gesundheitsversorgung bei einer großen Zahl von Geringverdienern einer staatlichen Bedürftigkeitsprüfung unterzogen werden muss und den Betroffenen lediglich eine steuerfinanzierte Grundversorgung gewährleistet wird. Zudem führen Kopfpauschalen dazu, dass untere und mittlere Einkommensbezieher einen immer größeren Teil der Gesundheitskosten privat bestreiten müssen - entweder über Leistungseinschränkungen, Zuzahlungen oder Zusatzversicherungen.

Fazit: Obwohl die soziale Sicherheit immer weiter abnimmt, steigen die Belastungen der Beschäftigten. Durch die schleichende Umwandlung von solidarisch organisierter und beitragsfinanzierter sozialer Sicherung in bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherungsleistungen steigt auch die Gefahr staatlicher Abhängigkeiten. Gleichzeitig werden die finanziellen Handlungsspielräume des Staates durch einen wachsenden Grundsicherungsbedarf eingeengt.

Wir müssen die Wirtschaftskrise jetzt nutzen, um das Blatt zu wenden. Für eine gewerkschaftliche Gegenoffensive bieten sich drei Ansatzpunkte an: erstens die Stabilisierung des Arbeitsmarktes und die Eindämmung des Niedriglohnsektors, zweitens die Ausweitung der solidarischen Finanzierungsgrundlagen von sozialer Sicherheit und drittens der Ausbau nachhaltiger Prävention inklusive einer Debatte um die Kosten unterlassener Vorsorge in den Betrieben. Diese Aufzählung beschreibt keine logische Reihenfolge, sondern muss parallel betrachtet werden.

In der öffentlichen Auseinandersetzung geht es vorrangig um die Finanzierung der Sozialversicherungen. Der DGB fordert, dass der sogenannte Schutzschirm für die Arbeitslosenversicherung generell zu einer staatlichen Defizithaftung umgewandelt wird und alle gesamtgesellschaftlichen Aufgaben aus Steuermitteln finanziert werden. So können Spielräume geschaffen werden, um den Menschen im Fall von Arbeitslosigkeit mehr soziale Sicherheit zu gewährleisten. Der DGB schlägt dazu ein Überbrückungsgeld vor, das vor einem schnellen Absturz in Hartz IV schützen soll. Dafür sollte auch die Rahmenfrist beim Arbeitslosengeld verlängert werden.

Neben der Stärkung des Versicherungsgedankens sollten auch alle Formen von abgesicherter Flexibilität wie z.?B. Altersteilzeit und Arbeitszeitverkürzung ausgeweitet werden. Gleichzeitig muss der Arbeitsmarkt - als Basis der sozialen Sicherungssysteme - grundlegend in Ordnung gebracht werden: Die Zumutbarkeitskriterien für Arbeitslose müssen entschärft werden, die Leiharbeit mit der Umsetzung des Grundsatzes "equal pay" reguliert werden. Lohndumping darf nicht länger öffentlich subventioniert werden. Nicht zuletzt brauchen wir gesetzliche Mindestlöhne von wenigstens 7,50 Euro pro Stunde. Solange der Arbeitsmarkt nicht wirksam nach unten abgesichert wird, wird sich der Druck auf die Sozialversicherungen weiter erhöhen.

In der gesetzlichen Rentenversicherung hat dies zu etlichen sogenannten Reformen geführt, sodass die Rentenleistungen inzwischen um bis zu 25 Prozent gekürzt worden sind. In der Krise ist die Rentenversicherung weitgehend stabil, immun ist sie aber auch nicht. Und weitere, wenn auch nicht derart gravierende Krisen werden folgen und das Leistungsniveau möglicherweise noch weiter drücken. Deshalb müssen wir weiterdenken. Der DGB will die gesetzliche Rente zur Erwerbstätigenversicherung weiterentwickeln. Dazu müssen Geringverdiener, Langzeitarbeitslose und Erwerbsgeminderte besser abgesichert werden. Das bedeutet eine Anhebung des Steueranteils, der gerechtfertigt und nachhaltig ist, weil so Altersarmut ungeahnten Ausmaßes samt der entsprechenden Zukunftskosten vermieden wird. Der Unterschied: Den Menschen wird die staatliche Bedürftigkeitsprüfung erspart.

Die Ausweitung der solidarischen Finanzierung brauchen wir auch in der gesetzlichen Krankenversicherung. Doch wir dürfen nicht bei Modelldiskussionen stehen bleiben. Die Bürgerversicherung ist eine Option, die unter der Koalition von Union und FDP denkbar schlechte Chancen auf Realisierung besitzt. Dennoch ist sie der einzig sinnvolle Gegenentwurf gegen die weitere Privatisierung und Zerschlagung des Solidarsystems, wie es mit der Kopfpauschale angelegt ist. Es muss das Ziel sein, die solidarische Finanzierung auszuweiten. Schritte in diese Richtung sind auch unter den Bedingungen des Gesundheitsfonds machbar und nötig.

Der dritte zentrale Ansatzpunkt für eine Trendwende ist der Betrieb selbst. Gelingt es zum Beispiel, Arbeitslosigkeit durch Qualifizierung und arbeitsbedingte Erkrankungen durch gesundheitliche Prävention und praktizierten Arbeitsschutz zu vermeiden, lassen sich etliche Milliarden Euro an Belastungen für die Sozialversicherungen sparen. Eine solche indirekte Entlastung kommt vorwiegend den Versicherten zugute, die allein in der Krankenversicherung schon heute eine Mehrbelastung von 15 Milliarden Euro zu tragen haben. Wenn hingegen der Arbeitgeberbeitrag bei sieben Prozent festgeschrieben wird, wie es die CDU und die FDP beabsichtigen, werden die Versicherten nicht nur noch mehr zur Kasse gebeten. Es steht auch zu befürchten, dass die Ausgabendynamik im Gesundheitswesen noch zunimmt und der betriebliche Gesundheitsschutz entsprechend an Bedeutung verliert. Angesichts der gesamtwirtschaftlichen Kosten von 44 Milliarden Euro durch arbeitsbedingte Erkrankungen wäre dies eine fatale Weichenstellung.

Dagegen ließe sich der Druck auf die Sozialversicherungen durch einen Ausbau der Prävention - wenn auch nur langsam, so doch deutlich und vor allem nachhaltig - reduzieren. Hier handelt es sich nicht um Peanuts: Schließlich wird allein die gesetzliche Krankenversicherung durch arbeitsbedingte Erkrankungen mit 17 Milliarden Euro, die gesetzliche Rentenversicherung mit 15 Milliarden Euro belastet. Da das betriebswirtschaftliche oder gar renditeorientierte Denken in den Unternehmen nicht immer mit volkswirtschaftlichen oder gar gesellschaftlichen Zielen kongruent ist, braucht es politischen Druck für positive Veränderungen. Denkbar wäre ein von den Arbeitgebern finanzierter Fonds zur Gesundheitsförderung der Beschäftigten, um die Prävention zu stärken und die Externalisierung betrieblicher Kosten zu stoppen.

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