Politik: Die blaue Welle
Die AfD legt in beiden Teilen Deutschlands zu. Dennoch ist der Osten anfälliger für Populisten, zeigt neueste Forschung. Von Guntram Doelfs
Wieder verlassen Menschen Ostsachsen und wandern Richtung Westen ab – wie schon einmal in den Jahren nach der Wende. Dana Dubil beobachtet die Entwicklung mit Sorge. Während damals viele junge Menschen fortgingen, um eine wirtschaftliche Perspektive zu haben, gingen nun vermehrt gebildete junge Frauen „dorthin, wo das Leben kulturell vielfältiger ist.“ Dubil ist geblieben, auch wenn der Ton im gesellschaftlichen Miteinander in den vergangenen zehn Jahren spürbar schärfer geworden ist. Sie arbeitet hier, am südöstlichen Rand Deutschlands als DGB-Regionalgeschäftsführerin. Das Gebiet, für das Dubil zuständig ist, gilt als Herzland der AfD. Es grenzt im Osten an Polen, im Süden an Tschechien. Bis heute ist die Gegend stark ländlich geprägt, es gibt viel Postkartenidylle, aber keine Großstädte. Die Menschen, die hier wohnen, gelten in der Mehrheit als traditionell und konservativ.
Nach der jüngsten Bundestagswahl war bis auf wenige Ausnahmen ganz Ostdeutschland blau. Aber nirgendwo war das Blau so tief wie in diesem abgelegenen Zipfel der Republik. Zuletzt konnte die AfD hier ihren Zweitstimmenanteil auf fast 50 Prozent schrauben. Ganz vorne lag Dana Dubils Heimatwahlkreis Görlitz mit 46,7 Prozent, der Nachbarwahlkreis Bautzen mit 46 Prozent nur knapp dahinter. Beide gehören zu Dubils DGB-Region. Zu DDR-Zeiten wurde die Gegend ironisch das „Tal der Ahnungslosen“ genannt, weil dort keine Westmedien empfangen werden konnten. Hat das Wahlverhalten vielleicht mit der DDR-Vergangenheit zu tun?
Auf den ersten Blick dagegen spricht, dass in Bayern, ein paar hundert Kilometer weiter westlich, Andreas Schmal mit ähnlichen Problemen kämpft. Er ist Geschäftsführer des DGB Niederbayern, ein Amtskollege von Dubil. Die beiden kennen sich. Seine Region ist das westdeutsche Pendant zu Ostsachsen. Im Wahlkreis Deggendorf erreichte die Partei 29,3 Prozent der Zweitstimmen. Nahezu 30 Prozent sind für westdeutsche Verhältnisse sehr viel. Es ist ein Wert, wie ihn die AfD bei den Kommunalwahlen ganz aktuell in der Ruhrgebietsstadt Gelsenkirchen erreichte.
Es ist etwas ins Rollen gekommen. Die AfD ist längst enttabuisiert, der Widerspruch schwindet.“
Niederbayern oder das Ruhrgebiet sind trotzdem noch weit entfernt von den politischen Verhältnissen in Ostsachsen, wo die AfD-Dominanz längst zu einschneidenden Veränderungen auch in der Zivilgesellschaft führt. In diesem Teil der Bundesrepublik geht ohne sie nichts mehr. Sie wird von vielen akzeptiert, auch wenn der Landesverband Sachsen nach Einschätzung des Verfassungsschutzes „gesichert rechtsextremistisch“ ist. Doch auch Andreas Schmal macht sich Sorgen. In seiner Stimme schwingt ein leicht resignierter Unterton mit: „Es ist etwas ins Rollen gekommen. Die AfD ist längst enttabuisiert, der Widerspruch schwindet.“
Andreas Hövermann vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung beobachtet die Entwicklung der Rechtsaußenpartei seit Jahren. „Die AfD dringt in neue Schichten außerhalb ihrer rechtsradikalen Kernwählerschaft vor und profitiert davon, dass sie zunehmend normalisiert wird“, sagt er. Thematisch verbinde alle AfD-Wähler das Thema Migration, mit weitem Abstand gefolgt vom stereotypen Vorwurf des Bürgergeldempfängers als „Sozialschmarotzer“.
Migration als zentrales Thema
Laut Andreas Hövermann besteht die AfD-Wählerschaft aktuell aus zwei nahezu gleich großen Gruppen: aus der Stammwählerschaft und den Neuwählern. Beide unterscheiden sich. In der Stammwählerschaft ist der Bildungsabschluss ein wichtiges Differenzierungsmerkmal, Menschen mit Abitur oder einem Hochschulabschluss sind unterrepräsentiert. Besonders stark ist die mittlere Alterskohorte vertreten sowie Männer. Die andere Gruppe, die Neuwähler, hält „häufiger als die etablierten Stammwähler auch politisch linke
Positionen für wichtig“ – für den Wissenschaftler ein Indiz, dass diese Wähler „zuletzt auch stärker aus der gemäßigten Mitte kamen“. Ihnen sind im Vergleich zu den AfD-Stammwählern auch Themen wie der Mindestlohn, die Schuldenbremse oder Ungleichheit wichtiger. Doch auch hier sei das Interesse „stark überlagert durch das Thema Zuwanderungsbegrenzung“. Außerdem ist auffällig, dass die AfD zuletzt auch besser unter Frauen verfängt: Unter den jüngst zur AfD Gewechselten ist das Geschlechterverhältnis ausgeglichen, während unter Stammwählern der AfD klar Männer dominieren.
Auch die Wählerwanderung ist gut erforscht und zeigt, wie die AfD zunehmend ehemalige Wähler gemäßigterer Kräfte der politischen Mitte für sich gewinnen konnte. Knapp 22 Prozent derer, die sich 2025 neu für die AfD entschieden haben, wählten laut Hövermann zuvor FDP, knapp 21 Prozent sind von der Union gewechselt, rund 18 Prozent von der SPD, und 15 Prozent sind bisherige Nichtwähler. Mit Blick auf die gesamte Wählerschaft kann Hövermann zeigen, dass der überwiegende Teil der AfD-Wähler eher aus der Gruppe der Angestellten kommt, der Arbeiteranteil aber stetig zunimmt.
Abstiegsangst als Triebfeder
Zu den Triebfedern für ein AfD-Wahlvotum zählen außer Reaktionen auf jüngste Krisen wie die Coronapandemie oder hohe Inflationsraten vor allem Benachteiligungsgefühle und Abstiegsängste. Laut Hövermann fällt die Ablehnung von Geflüchteten und Bürgergeldbeziehern bei vielen AfD-Wählern mit dem Gefühl zusammen, von der Gesellschaft „systematisch vernachlässigt und benachteiligt“ zu werden. Wenn diese psychologische Eigenwahrnehmung dann noch auf die Realitäten eines harten wirtschaftlichen Strukturwandels treffen und sicher geglaubte Industriearbeitsplätze plötzlich verschwinden, erscheint die bislang als sicher geglaubte bürgerliche Existenz hochgradig bedroht.
Der Gewerkschafter Andreas Schmal registriert das im Moment bei organisierten Facharbeitern in der niederbayerischen Automobilindustrie. „Die haben im Moment auch am meisten zu verlieren. Und die demokratischen Parteien bieten bisher wenig an, was den Leuten das Gefühl vermittelt: Ich bring euch da durch.“ Manche Menschen reagieren darauf, indem sie sich einigeln, mit dem Beharren auf der vermeintlich guten alten Zeit. Wer weniger gebildet ist, schlecht verdient oder arbeitslos ist, wendet sich häufiger Parteien zu, die die vermeintlich sichere Vergangenheit geschickt instrumentalisieren, die billige fossile Energie versprechen, und dass alles wieder so wird wie früher. Dass sich nichts ändert, wird so zur Alternative: „Die AfD schaffte es zuletzt, sich bei ihrer Klientel als einziger Heilsbringer zu positionieren, indem sie sich glaubhaft von etablierten politischen Kräften abgrenzt“, beschreibt Hövermann die Situation. Damit sehen viele Wähler in der AfD inzwischen mehr eine Chance für einen politischen Wandel als eine rechtsextreme und verfassungsfeindliche Gefahr für die Demokratie, die sie eigentlich darstellt.
Von der sozialen Marktwirtschaft, die ihnen versprochen worden war, haben sie wenig gespürt.“
Im Osten verfängt die Botschaft eher
Im Osten sind diese Effekte aufgrund der kürzeren demokratischen Tradition und den Erfahrungen nach dem Zusammenbruch der DDR ungleich stärker ausgeprägt. Die Parteien konnten nicht ansatzweise so viele loyale Bindungen aufbauen wie im Westen. Mit der Wende brach das gelernte DDR-Gesellschaftssystem zunächst ebenso zusammen wie der abgeschottete Arbeitsmarkt. In vielen Familien gibt es seitdem eigene biografische Erzählungen, die oft nicht zur offiziellen, vom Westen dominierten Geschichtsschreibung passen. Lange bediente die Linkspartei die DDR-Nostalgie, dann wurde die AfD immer stärker, versuchte, sich mit Verweis auf eine Ost-Identität im Bewusstsein zu verankern. Für Dana Dubil ist es vor allem die ostdeutsche Babyboomergeneration, die nun die größten Probleme bereitet. „Diese Generation ist in einer Zeit aufgewachsen, in der der Staat quasi für sie alles gelenkt, entschieden und organisiert hat. Es wurde ihnen fast alles abgenommen“, schildert die Gewerkschafterin. Als Kinder und Jugendliche hätten diese Leute „gelernt, was man alles nicht sagen und tun darf. Aber dass man vorangeht, Verantwortung trägt und seine Meinung auch mal in einer Diskussion verteidigen muss, haben sie nie gelernt und nach der Wende wurde es auch nicht gefördert“, sagt sie. Diese Prägung, so glaubt sie, hätten sie an ihre eigenen Kinder weitergegeben.
Mit der Wende, sagt Dubil, sei zudem nicht nur das Gesellschaftssystem und der Arbeitsmarkt zusammengebrochen, sondern zunehmend auch das soziale Leben. „Quasi über Nacht sind über Jahrzehnte sicher geglaubte Jobs und sicher geglaubte Strukturen weggebrochen. Es war ein wirklich krasser Bruch“ erzählt sie und erinnert daran, dass damals zahlreiche Familien zerbrochen sind, weil viele ihre Heimat verlassen mussten. Den Einwand vieler Westdeutscher, das sei doch nun 35 Jahre her und längst Geschichte, weist die Gewerkschafterin zurück. Bis zur Einführung des Mindestlohnes 2015 „haben wir hier die niedrigsten Entgelte und Löhne Deutschlands gehabt“, erklärt sie. Dazu kam ein extremer Arbeitskräfteüberschuss.
Die Folge: keine Tarifverträge, keine Mitbestimmung, ein Gefühl der Ausbeutung und extremen Unsicherheit bei Beschäftigten, die zu DDR-Zeiten alle Facharbeiter gewesen seien. „Von der sozialen Marktwirtschaft, die ihnen versprochen worden war, haben sie wenig gespürt.“ Stattdessen hätten sie den Kapitalismus in seiner krassen Form erlebt, mit Kosten- und Nutzendenken und mit viel Ellenbogen. Zudem hätten sie Zuwanderung schon früh als Bedrohung für ihre schwache Position auf dem arg umkämpften Arbeitsmarkt wahrgenommen: „Erst waren es die EU-Neubürger aus Polen, später zum Teil Geflüchtete“, sagt Dubil.
Misstrauen breitet sich aus
Bundesweit beobachtet Andreas Hövermann bei AfD-Wählern „eine enorme Enttäuschung, Wut und Misstrauen gegenüber den etablierten demokratischen Parteien“. Für reine Protestwähler hält er AfD-Wähler nicht. Bezogen auf das Thema Zuwanderung, wissen sie genau, wofür die AfD steht. Und sie wollen das.“ Für ihn ist deshalb auch klar, dass die AfD nicht von selbst wieder verschwinden wird. „Die AfD ist gekommen, um zu bleiben.“
Andreas Schmal sagt, es fehle eine „eigene positive Zukunftserzählung, die glaubwürdig von den anderen Parteien getragen und umgesetzt wird“. Auch WSI-Wissenschaftler Hövermann fordert, der Negativrhetorik der AfD positiver entgegenzutreten. „Der Bedarf an Zuversicht in der Bevölkerung ist riesig. Aber die Menschen müssen von den Parteien auch tatsächlich abgeholt werden“, kritisiert er, mit Taten, nicht nur mit Worten.
Daneben braucht es ziviles Engagement und eine Debatte im Alltag. Dana Dubil geht dabei auch unkonventionelle Wege. Die Gewerkschafterin, die mit ihrer Familie in einem Dorf lebt, trat neulich als erste Frau in die örtliche Volleyballmannschaft „Alte Herren“ ein, wo AfD-Fans deutlich in der Mehrzahl sind: „Mein Mann meinte, die Truppe könnte Widerspruch gebrauchen.“
Zum Weiterlesen:
Andreas Hövermann: Die Verdopplung des AfD-Elektorats – Erkenntnisse aus dem WSI-Erwerbspersonenpanel 2020 – 2025. WSI Study Nr. 42, Düsseldorf, 70 Seiten