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Magazin Mitbestimmung

: Der vertagte Konflikt

Ausgabe 07/2006

Die Beschlusslage ist klar: Der DGB steht hinter dem Ausstieg aus der Kernenergie bis zum Jahr 2020. Doch hinter den Kulissen ist das Meinungsspektrum viel breiter - genauso wie bei den Politikern der Großen Koalition.



Von Kay Meiners
Der Autor ist Redakteur des Magazins Mitbestimmung.



Im Oktober 2005 sorgte ein fünf Seiten langes gemeinsames Positionspapier der beiden Gewerkschaften IG BCE und ver.di sowie der vier großen Energieversorger EnBW, E.on, RWE und Vattenfall Europe für öffentliches Aufsehen. Das Papier trug den Titel "Mehr Realismus in der Energie- und Umweltpolitik erforderlich" Was konnte mit "mehr Realismus" gemeint sein? In dem Memorandum hieß es, angesichts "der international gestiegenen Energiepreise" müsse sich die deutsche Energiepolitik "alle vorhandenen Versorgungsoptionen offen halten", und weiter: "Einzelne Energieträger" dürften nicht "aus ideologischen Gründen aufgegeben werden." Welche Energieträger waren damit gemeint? Die subventionierte Steinkohle oder die Kernenergie?

Auch die Passagen, in denen die Kernenergie explizit erwähnt wurde, ließen die Öffentlichkeit aufhorchen. Da war vom "kostenstabilisierenden Beitrag" der Kernenergie die Rede sowie von ihrem Beitrag zum "Klimaschutz". Das Atom, so hieß es außerdem, könne "die Zeitachse zur Erreichung der Wirtschaftlichkeit neuer Energieoptionen" entscheidend erweitern. Der Einsatz von Kernenergie solle daher "allein auf den Sicherheitsnachweis der Anlagen abstellen".

Die Verfasser warben in verklausulierter Form für längere Restlaufzeiten; außerdem forderten sie, den Schacht Konrad, ein stillgelegtes Eisenerz-Bergwerk im Stadtgebiet von Salzgitter, als Endlager für schwach- und mittelradioaktive Elemente zügig in Betrieb zu nehmen und die Erkundung des Salzstockes Gorleben zu Ende zu führen - nicht mehr, nicht weniger. Für so manchen bei ver.di war das offenbar schon zu viel - der Gewerkschaftschef Frank Bsirske musste massiv Kritik einstecken.

Dissidenten innerhalb der Gewerkschaft, so das "Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di", dem auch etliche Betriebsräte angehören, erklärten, mit den Unterschriften unter das Papier machten sich die Gewerkschaften "zu Komplizen der Atom- und Energiekonzerne". Ihre Ideen sehen anders aus: "Atomkraftwerke müssen sofort abgeschaltet werden." Auch einen ordnungspolitischen Vorschlag haben sie parat: die "Überführung der Energiekonzerne EnBW, E.on, RWE und Vattenfall Europe in Gemeineigentum" - unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten, Energieverbraucher und Umweltschützer.

"Die IG BCE ist längst ein verlängerter Arm der Konzerne", erklärt Stephan Kimmerle, Mitglied des Netzwerkes und Autor von "Solidarität", einer Zeitung der Sozialistischen Alternative (SAV), "die haben die Standortpolitik so sehr verinnerlicht, dass es deren Hauptanliegen ist, deutschen Konzernen Wettbewerbsvorteile zu verschaffen." Natürlich findet Kimmerle es richtig, dass die Gewerkschaften jeden einzelnen Arbeitsplatz verteidigen - aber er erklärt, sie müssten sich viel stärker für die Konversion und für eine umweltfreundliche Energieversorgung einsetzen, nicht für die Interessen der Konzerne.

Der Einfluss solcher Gruppen mag begrenzt sein - es lässt sich aber schwer leugnen, dass sie wenigstens mittelbar auf Teile der Gewerkschaft ausstrahlen, und sei es nur als Druck von der Basis. Der Vorsitzende des Arbeitskreises Energie der EnBW-Betriebsräte, Dietrich Herd, stellte sich hinter den Chef der Gewerkschaft ver.di. Ganz anders Niedersachsens ver.di-Chef Wolfgang Denia: "Wir halten am Atomausstieg fest", erklärte er gegenüber der taz - und zu Gorleben erklärte er, dieses sei "als Endlager ungeeignet". Das gemeinsame Papier der zwei Gewerkschaften und der Energieversorger erweis sich als intern so umstritten, dass man es auf der Webseite der Gewerkschaft heute nicht mehr herunterladen kann.

Auch die Grünen und Teile der SPD zeigten sich überrascht und verstimmt: Der energiepolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion in Niedersachsen, Klaus-Peter Dehde, erklärte: "Ich bin entsetzt darüber, dass sich Gewerkschaften vor den Karren der Atomlobby spannen lassen." Der SPD-Energieexperte Hermann Scheer trat nach drei Jahrzehnten Mitgliedschaft aus Protest aus der Gewerkschaft ver.di aus. Frank Bsirske, der Vorsitzende der Gewerkschaft ver.di musste gegensteuern. So erklärte er im Oktober 2005: "ver.di hat sich immer für einen geregelten Atomausstieg ausgesprochen. Daran ändert sich nichts." Er verwies auf frühere Beschlüsse der Vorgängergewerkschaft ÖTV aus den Jahren 1988 und 1996.

Der Atomstreit zwang die Gewerkschaften in einen Spagat

Das war zwar korrekt. Bsirske verschwieg aber zugleich die massiven, emotional geführten Auseinandersetzungen um die Kernenergie, die bis heute nachwirken. Erst vor ihrem Hintergrund aber lässt sich die aktuelle Aufgeregtheit erklären. Wie schwierig es für die Gewerkschaften werden würde, zeigte sich exemplarisch im Jahr 1976, als es rund um die Baustelle des Atomkraftwerks Brokdorf zu Ausschreitungen kam.

Nachdem die Polizei mit großer Härte gegen Atomkraftgegner vorgegangen war, sandten Gewerkschaftsgruppen der ÖTV und der GEW Grußadressen an die Bürgerinitiative Umweltschutz Unterelbe (BUU), die den Protest organisierte - zugleich plante die lokale ÖTV-Gruppe eine Gegenkundgebung, auf der Mitarbeiter der Norddeutschen Kraftwerke AG (NWK) für die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen demonstrieren wollten. Organisator war der ÖTV-Bezirksvorsitzende Hans Schwalbach, der zugleich im Aufsichtsrat der NWK saß.

In den folgenden Konflikten um die friedliche Nutzung der Atomenergie offenbarte sich die Zerrissenheit der Gewerkschaften. Ihnen fiel die schwierige Aufgabe zu, sich ideologisch verständigen und sich gegenüber den neu entstandenen Bewegungen und Bürgerinitiativen positionieren zu müssen. Der Konflikt zwang sie in einen bis heute schwierigen Spagat hinein: Denn im Atomstreit hatte sich ein möglicher Zielkonflikt zwischen Klientelpolitik und Allgemeinwohlpolitik manifestiert. Wie wiegt man die Umweltverträglichkeit und das Sicherheitsrisiko von Atomkraftwerken, von Kohlekraftwerken objektiv gegeneinander ab, wenn man Beschäftigte einer der beiden Branchen organisiert?

In gewisser Weise entschied die Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 die innergewerkschaftliche Debatte - sie verschaffte den Kritikern auch innerhalb der Gewerkschaften endgültig die Mehrheit. Als 1957 das Garchinger Atom-Ei, der erste nukleare Forschungsreaktor in Deutschland, seinen Betrieb aufgenommen hatte, hatte sich der DGB für eine friedliche Nutzung der Kernenergie ausgesprochen, die später allerdings, wie es in einem Kongressbeschluss von 1978 hieß, auf das "zur Sicherung unserer Energieversorgung notwendige Maß" beschränkt sein sollte. Doch im Jahr 1986, auf dem 13. DGB-Bundeskongress im Hamburg, stimmten die Delegierten bei nur einer Gegenstimme nunmehr für eine Energiepolitik, die es ermöglichen sollte, "so rasch wie möglich auf den Einsatz von Kernenergie zu verzichten".

Dem Votum waren umfangreiche Gutachten vorangegangen. Zusätzlich sollte eine im Juni 1986 eingesetzte ÖTV-Kommission die Rahmenbedingungen für einen Ausstieg und die Auswirkungen auf die Beschäftigung untersuchen. Die Gutachter kamen damals zu dem Schluss, die Folgen für die Arbeitsplätze seien "im Bereich der Elektrizitätswirtschaft nur als gering anzusehen". Damals wurde mit 6000 direkt in Kernkraftwerken beschäftigten Personen gerechnet und mit 30 000 weiteren Arbeitnehmern, die "auf verschiedenen Stufen des Brennstoffkreislaufs sowie in der Kraftwerkswartung etc." eingesetzt waren.

Insgesamt waren 36 000 Arbeitsplätze betroffen. Doch, so erklärten die Gutachter, werde dies durch Investitionen in fossile und regenerative Ersatzkapazitäten sowie in die "Herstellung von energiesparenden Geräten und Materialien" mehr als wettgemacht. Alle Plausibilitätsüberlegungen, heißt es, wiesen - was die primären Beschäftigungseffekte angehe - auf einen deutlich positiven Beschäftigungssaldo hin.

Ein relativ schneller Ausstieg schien damit möglich. Der Energieexperte Wolfgang Pfaffenberger, heute Professor an der International University Bremen, war damals an den Gutachten für den DGB und die ÖTV beteiligt. "Wir hatten damals gezeigt, zu welchen Bedingungen, Kosten und Umweltbelastungen ein Ausstieg möglich wäre. Die Energieleute bei der ÖTV lehnten den Ausstieg damals total ab", erklärt er. Tatsächlich demonstrierten noch 1999 Teile der ÖTV zusammen mit Energieversorgern gegen den damaligen Umweltminister Trittin - mit Parolen wie: "Ich stehe zu meinem Arbeitsplatz: Kernenergie".

Pfaffenberger spricht sich heute für längere Laufzeiten der Kernkraftwerke aus: "Ich sehe nicht, wie man einerseits dem Klimaschutz und andererseits dem Ziel einer kostengünstigen Versorgung gerecht werden will. Das hat mir noch keiner zeigen können." Diese Meinung dürfte auch der IG-BCE-Vorsitzende Hubertus Schmoldt teilen.

"Wir stehen zum Ausstieg", erklärte zwar auch Schmoldt gegenüber der Leipziger Volkszeitung im November 2005 - freilich nicht ohne an die Chance zu erinnern, Kernkraftwerke trotzdem weiter zu exportieren. Im Jahr 2003 war er gegenüber der Financial Times Deutschland noch deutlicher geworden: "Man muss in der Technologie verbleiben und, wenn es Not tut, ab 2010 entscheiden, ob man auf der Grundlage neuer Technologien die Kernkraft im Energiemix behält."

Atomkraft bleibt Wahlkampfthema

Nicht nur innerhalb und zwischen den Gewerkschaften, sondern auch innerhalb der Großen Koalition treffen verschiedene Meinungen aufeinander. Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) ist so etwas wie der Wächter des Atomausstiegs und zuständig für die erneuerbaren Energien, während Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) sich mehrfach für längere Restlaufzeiten ausgesprochen und auf die Möglichkeit hingewiesen hatte, Laufzeiten neuer Kernkraftwerke auf ältere zu übertragen. So ließen sich Abschaltungen in den nächsten Jahren vermeiden. Zuletzt hatte die SPD Glos sogar gewarnt, den vereinbarten Atomausstieg weiter in Frage zu stellen.

Das ewige Streitthema Kernenergie birgt also weiter Konfliktpotenzial - und es dürfte auch in zukünftigen Wahlkämpfen noch eine Rolle spielen. Denn allein aus technischen Gründen müsste im Jahr 2020 nicht notwendig Schluss sein. Das heute gültige Ausstiegsszenario arbeitet mit einer Laufzeit der Reaktoren von 32 Jahren - nach Wolfgang Pfaffenberger sind heute aber Restlaufzeiten von 50 oder 60 Jahren vorstellbar: "Man könnte, wenn man in der Technik verbleiben will, bis zum Jahr 2030 ohne Neubauten auskommen."

Ob es mit der Kernenergie im Jahr 2020 wirklich zu Ende ist, das wird also auch von zukünftigen Bundestagswahlen und von der Marktentwicklung abhängen. "Als 1998 über den Ausstieg verhandelt wurde", erklärt Pfaffenberger, "waren die Öl- und Gaspreise auf einem Tiefstand, und für den grünen Koalitionspartner war das Thema existenziell. Würden wir die gleiche Diskussion heute führen, sähe sie vermutlich ganz anders aus."

Das Land befindet sich derweil energetisch im Schwebezustand. Rund 25 Prozent des deutschen Stroms werden, so Angaben des Bundesumweltministeriums, in Kernkraftwerken erzeugt - auch in Brokdorf, das dereinst die am besten bewachte Baustelle der Republik war, Bürgerkriegsterrain, martialisch geschützt durch Wassergraben, Erdwall, Gitterzaun und Stacheldraht. Im Oktober 1986, ein halbes Jahr nach Tschernobyl, ging der Reaktor ans Netz und soll im Jahr 2018 abgeschaltet werden. Die GmbH, die den Reaktor betreibt, gehört zu 80 Prozent der E.on Kernkraft und zu 20 Prozent Vattenfall Europe.

Die Energiekonzerne sehen den Ausstieg als eine Art Moratorium, das ihnen eine Atempause verschafft hat. Der Ausstieg ist eine strategische Option, die von der Regierung und den Gewerkschaften mitgetragen wird, aber sie ist keine Maßnahme zur unmittelbaren Gefahrenabwehr. Im Internet, auf der linken Webseite www.nadir.org, wertet ein Häuflein Aufrechter noch die Pressemitteilungen über Zwischenfälle oder Reparaturen aus. Doch die Texte haben längst etwas Rituelles - E.on verkündet, es gebe "keine sicherheitstechnisch relevanten Befunde", und Kritiker kommentieren so süffisant wie routiniert: "Na, da können wir ja beruhigt sein."

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