zurück
Magazin Mitbestimmung

Wirtschaft: Das wird teuer

Ausgabe 03/2022

Die Preise steigen wie seit Jahrzehnten nicht. Die Inflation ist so hoch wie zuletzt 1981. Ein Balanceakt für die Sozial- und Tarifpolitik. Von Stefan Scheytt

Es passiert nicht oft, dass ein FDP-Politiker Gewerkschaften lobt. Gewerkschaften seien in Zeiten wachsender Inflation ein Standvorteil,  erklärte Finanzminister Christian Lindner in einer Talkshow –- und nannte  namentlich die IG BCE und deren unorthodoxe, aber „verantwortungs­bewusste“ Antwort auf die steigenden Preise: Mit den Arbeitgebern der chemischen Industrie handelte die Gewerkschaft Anfang April eine einmalige Brückenzahlung von 1400 Euro aus. Das entspricht einem Plus von 5,3 Prozent. Die Einigung hat für eine Atempause gesorgt – bei der nächsten Verhandlungsrunde im Herbst steht dann, bei hoffentlich klareren Verhältnissen, eine tabellenwirksame Erhöhung der Entgelte an.  Das ungewöhnliche Verfahren begründete  IG-BCE-Chef Michael Vassiliadis so: „Ein solches Umfeld für eine Tarifrunde hatten wir noch nie.“

„Nie“ ist zwar falsch – aber tatsächlich muss man Jahrzehnte zurückgehen, um Parallelen zu finden. Im Mai lagen die Preise knapp 8 Prozent über denen des Vorjahres. So hoch war die Inflation zuletzt im Jahr 1981. Die Unsicherheit ist groß. Von einer kurzen technischen Rezession von zwei Quartalen bis hin zu einer Dauerkrise erscheint gerade vieles möglich.  Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung beobachtet die Entwicklung genau.  Seinen „Inflationsmonitor“, den es schon während der Banken- und Finanzkrise gab, hat  das Institut wiederbelebt. Der Mehrwert besteht vor allem darin, dass er für Haushalte unterschiedlicher Größen und Einkommen spezifische Inflationsraten ermittelt. Während Alleinlebende mit einem Nettoeinkommen von mehr als 5000 Euro im April einen Kaufkraftverlust von 6,2 Prozent verschmerzen mussten, traf es eine vierköpfige Familie mit einem Einkommen zwischen 2000 und 2600  Euro mit acht Prozent.

Die Regierung setzt auf Entlastung

Noch ausgeprägter ist der Unterschied, wenn man nur die Teuerung von Nahrungsmitteln, Haushaltsenergie und Kraftstoffen betrachtet. „Es ist falsch, zu denken, dass die höheren Benzinpreise den SUV-Fahrer am stärksten treffen“, sagt Silke Tober, IMK-Expertin für Geldpolitik, die zuusammen mit  Institutsdirektor Sebastian Dullien den IMK-Inflationsmonitor erstellt. „Vielmehr sind es einkommensschwache Eltern, die das Auto für den Weg zur Arbeit brauchen, die ihre Kinder zur Schule und zu Terminen fahren und die höhere Benzinpreise nicht durch Verzicht an anderer Stelle kompensieren können.“

Die Ampelkoaliton hat zwei Entlastungspakete mit einem Volumen von rund 30 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Zu den Maßnahmen gehören eine Energiepreispauschale, höhere Steuerfreibeträge und die zeitweise­ Absenkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe. Tober hält diese Stützmaßnahmen für sozial relativ ausgewogen. „Haushalte mit geringen Einkommen werden im Verhältnis deutlich stärker entlastet“, urteilt sie. So kann eine vierköpfige Familie mit zwei Erwerbstätigen und niedrigem Einkommen im Jahr 2022 mit einer Entlastung von 1006 Euro rechnen, während sich ihre Belastungen von Januar bis April auf knapp 400 Euro summierten. „Menschen im Ruhestand blieben bei den Paketen allerdings weitgehend außen vor, da muss nachgebessert werden“, sagt Tober.  Ein Effekt der Entlastungspakete, mutmaßt die Wissenschaftlerin, könnte darin bestehen, dass die Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen etwas moderater agieren, weil ein Teil der Belastungen bereits durch die Regierung kompensiert wird. So könnten Gewerkschaften im Verbund mit der Politik dazu beitragen, dass sich die Inflation nicht verfestige. Als ein Puzzleteil dazu kann man die Brückenzahlung  in der Chemie­industrie ansehen. Ähnlich interpretieren lässt sich das Vorgehen der IG BAU. Sie schloss im Herbst 2021, als die Inflations­erwartungen noch gemäßigter waren und kein Krieg tobte, im Bauhauptgewerbe einen Tarifvertrag bis 2024 ab.  Jetzt, aus aktuellem Anlass, bestehende Verträge zu kündigen, um für höhere Löhne zu kämpfen, sei kein Thema, sagt der Bundesvorsitzende Robert Feiger: „Wir halten uns an Verträge, schöpfen jedoch alle weiteren tarifpolitischen Möglichkeiten aus.“ Zum Beispiel, indem die IG BAU im Gebäudereiniger-Handwerk vorzeitig über den Branchenmindestlohn verhandelte, um den alten Abstand zum gesetzlichen Mindestlohn wiederherzustellen. Der Einstiegsverdienst steigt ab Oktober 2022 auf 13 Euro, ab Januar 2024 auf 13,50 Euro.

Die Löhne sollen kräftig steigen

Die Inflationsraten haben Bundeskanzler Scholz bewogen, eine „konzertierte Aktion“ anzukündigen. Mit den Sozialpartnern will er nach der Sommerpause das Problem diskutieren. Die Gewerkschaften haben Gesprächsbereitschaft signalisiert, geben aber auch klar zu erkennen, dass sie nicht mehr zur Lohnzurückhaltung bereit sind. Der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke will in den kommenden Tarifverhandlungen mindestens einen Inflationsausgleich fordern: „Dauerhaft steigende Preise müssen durch dauerhaft wirkende Lohnsteigerungen vollumfänglich ausgeglichen werden“, erklärte er – und wies dabei auf die stark steigenden Lebensmittelpreise hin. Und auch der IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann verkündet, es sei  wieder „mit der Gewerkschaft zu rechnen“. Viele Unternehmen würden trotz Unsicherheiten satte Gewinne einfahren. Das müsse und werde sich in den Abschlüssen in diesem Jahr widerspiegeln. Die Warnung vor einer Lohn-Preis-Spirale, die die Inflation weiter befeuern könnte, nennt  Hofmann ein „Schreckgespenst von interessierter Seite: Was wir erleben, ist eine Profit-Preis-Spirale!“ Ursache der Teuerungen seien „diverse Preisschocks – erst wegen der Pandemie, dann wegen des Krieges“, stellt IMK-Wissenschaftlerin Silke Tober klar. Für die Rolle des Inflationshüters könne man nicht allein die Gewerkschaften in die Pflicht nehmen: „Daher ist eine konzertierte Aktion unter Beteiligung der Regierung, der Gewerkschaften und der  Unternehmensseite sinnvoll,  die darauf zielt, die Belastung der aktuellen Preisschocks gleichmäßiger zu verteilen und eine Verfestigung der Inflation durch überhöhte Lohnabschlüsse zu vermeiden.“

Inflation

Inflation hat zur Folge, dass Preise für Güter und Dienstleistungen schneller steigen als Löhne und Gehälter, wodurch die Kaufkraft schwindet. Ursache kann die Verknappung von Waren sein, etwa weil Lieferketten unterbrochen werden oder Rohstoffe fehlen. Die Preise können auch steigen, wenn die Nachfrage so stark ist, dass die bereits ausgelasteten Unternehmen ihre Kapazitäten nicht weiter erhöhen können. Die meisten entwickelten Volkswirtschaften streben eine Inflationsrate von zwei Prozent an, nicht von null Prozent. Als Grund dafür nennt die Europäische Zentralbank (EZB) unter anderem, dass ein Inflationsziel von zwei Prozent eine Sicherheitsmarge gegenüber potenziellen Deflationsrisiken biete: Durch die Einrechnung eines Puffers müsse sie seltener auf andere Maßnahmen als die Ände-rung der Leitzinsen zurückgreifen.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen