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Magazin Mitbestimmung

: Das 'Unwort des Jahres' erobert den Arbeitsmarkt

Ausgabe 04/2003

Eine Modevokabel der Trendforschung ist aufgestiegen in die Sphären seriöser Arbeitsmarktpolitik. Wenn Arbeitslose eine "Ich-AG" gründen, erhalten sie eine finanzielle Starthilfe. Doch Experten warnen vor überzogenen Hoffnungen.

Von Thomas Gesterkamp. Der Autor ist Journalist in Köln.

Als Peter Wippermann, Gründer der Hamburger Unternehmensberatung Trendbüro, sich das Motto für den 5. Deutschen Trendtag ausdachte, konnte er nicht ahnen, welche Lawine er damit auslösen würde. Im Mai 2000, so sein Plan, würde die Versammlung von Marketingstrategen und Zukunftsforschern unter dem Motto "Von der Deutschland-AG zur Ich-AG" zusammentreten. Wippermann nimmt heute für sich in Anspruch, die "Ich-AG" ins Deutsche eingeführt zu haben. Der Einzelne als Aktionär seiner selbst - zwei Jahre lang geisterte die schräge WortkombinationWortkombination durch die Feuilletons. Zunächst war sie die Kurzbeschreibung für die Protagonisten der "New Economy", die Individualismus mit börsennotiertem Unternehmertum zu verbinden suchten.

Als viele Kurse längst gegen null tendierten, verhalf die Hartz-Kommission dem Nonsensbegriff zum eigentlichen Durchbruch. Aus heldenhaften Start-ups wurden subventionierte Arbeitslose - eine semantische Umdeutung, die der "Ich-AG" die Auszeichnung als "Unwort des Jahres" eintrug. Wer sich als Solounternehmer selbstständig machen will, erhält seit Anfang des Jahres einen so genannten Existenzgründungszuschuss. "EXGZ" heißt das Kürzel für das neue Förderinstrument im internen Gebrauch der Arbeitsverwaltung. Ausgezahlt werden 600 Euro monatlich im ersten Jahr. Zusätzlich können die Arbeitslosen, die sich als Firmengründer versuchen wollen, Steuervergünstigungen und reduzierte Sozialversicherungsbeiträge in Anspruch nehmen. Die "Ich-AGs" dürfen dann als Einpersonen-Betriebe bis zu 25 000 Euro im Jahr verdienen.

Der selbstverantwortliche Mensch als Leitbild

Dass ein lächerlich unlogischer Begriff wie "Ich-AG" so schnell in verschiedensten Milieus heimisch werden konnte, hat etwas mit dem mächtigen Bild von der "neuen Selbstständigkeit" zu tun. Mit ähnlichen Sprachschöpfungen wie "Selbst GmbH", "Freelancer" oder "Portfolio-Arbeiter" trommeln Unternehmensberater seit langem für das Leitbild des Arbeitnehmers als flexiblen Auftragnehmers. Mitte der 90er Jahre beschrieb der damalige FAZ-Redakteur Rainer Hank den "Weg in die Gesellschaft der Selbständigen"; die bayerisch-sächsische Zukunftskommission monierte wenig später die in Deutschland angeblich fehlende "Kultur der Selbständigkeit". Im internationalen Maßstab gab es für solche Klagen wenig Anlass. Zur Jahrtausendwende betrug der Anteil der Selbstständigen an allen Erwerbstätigen in Deutschland rund zehn Prozent. Verglichen mit anderen Staaten in Nord- und Mitteleuropa oder den USA sei diese Quote "keine Besonderheit", stellt der Soziologe Rene Leicht, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mittelstandsforschung der Universität Mannheim, fest. Nur im stärker von Landwirtschaft und Tourismus geprägten Südeuropa liegt sie deutlich höher.

In den Gewerkschaften kreiste die Debatte lange um Themen wie Outsourcing und Scheinselbstständigkeit: Bereits im Jahr 1990 analysierten Udo Mayer und Ulrich Paasch an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung die "Ein-Personen- Unternehmen als neue Form der Abhängigkeit". Mit Fallstudien aus verschiedenen Branchen belegten die Wissenschaftler, wie Unternehmen Aufgabenbereiche auslagerten und Mitarbeiter nötigen, auf eigene Rechnung weiterzuarbeiten. Versicherungs- und Medienunternehmen haben in wachsendem Umfang Tätigkeiten an nur formal unabhängige Subfirmen delegiert. Einen weiteren Schwerpunkt prekären Unternehmertums bildet das Transportgewerbe: LKW-Fahrer rollen als "Ein-Fahrzeug-Spedition" über die Straßen; auch für Kurierdienste oder Tiefkühlketten sind Minifirmenbesitzer auf vier Rädern unterwegs. Für das Jahr 2001 gehen Erhebungen des Mannheimer Instituts für Mittelstandsforschung von gut 3,6 Millionen Selbstständigen aus. Soziologe Leicht beschreibt die jüngste Entwicklung als "kleinstbetriebliches Wachstum". Einen signifikanten Anstieg konstatiert er vor allem bei den Solounternehmern, die keine eigenen Angestellten beschäftigen. Deren Zahl wächst stärker unter Frauen als unter Männern; aktiv sind sie meist in Professionen, für die ein umfangreiches Fachwissen Voraussetzung ist.

Es gibt erfolgreiche Projektarbeiter ...

Freiberufler gab es schon immer - etwa im akademischen Milieu. Ärzte, Steuerberater, Anwälte, Notare oder Therapeuten arbeiten seit Generationen als Selbstständige. Ihren wirtschaftlichen Erfolg haben sie durch besondere Schutzsysteme wie ständische Gebührenordnungen abgesichert. Die Geschäftsgrundlage der auf hohem Niveau abgeschotteten freien Berufe beruht darauf, Wettbewerb zu vermeiden. Die neuen Einzelunternehmen müssen sich dagegen in einem weitgehend ungeschützten Raum behaupten. Wie auf einem Basar sind die Preise nicht festgelegt - sie werden individuell und je nach Marktlage vereinbart. Überall dort, wo es eine lange Tradition der Selbstständigkeit gibt, finden sich auch erfolgreiche Solounternehmer, glaubt Karin Gottschall, Professorin für Soziologie an der Universität Bremen. Sie bescheinigt den von ihr erforschten Alleindienstleistern in Kulturberufen eine "hohe Kompetenz in der Organisation ihres Alltags und ihrer Berufsarbeit".

Die in der Bremer Studie untersuchten freiberuflichen Schauspieler, Grafikdesigner oder Journalisten genießen das Privileg, sich über die Künstlersozialkasse zu günstigen Tarifen gesetzlich versichern zu können - eine Möglichkeit, die "Ich-AGs" aus anderen Branchen nicht nutzen können. Unter Künstlern und Publizisten liegt die Selbstständigenquote mit 35 Prozent weit über dem Durchschnitt. Die Nachfrage ist schwankend und an Moden orientiert. Aber auf der Angebotsseite sei "der Hang zu lockeren Beschäftigungsbeziehungen groß", betont Günther Schmid, Direktor der Abteilung Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigung am Wissenschaftszentrum Berlin, der in der Hartz-Kommission das Konzept "Ich- AG" wesentlich geprägt hat. Routine, erklärt er, würde in diesem Umfeld "als langweilig empfunden", sie mindere sogar die Wettbewerbsfähigkeit: "Es sind die immer wieder neuen Aufgaben, mit neuen Partnern und für neue Kunden, die zu Meisterschaft und gutem Ruf führen."

... aber es gibt auch moderne Tagelöhner

Hoch spezialisierte Freiberufler haben die Chance, erheblich mehr zu verdienen als Angestellte, die zur Selbstständigkeit gezwungen werden. Forciert durch den Preisverfall technischer Arbeitsmittel, ist das Solounternehmertum für "Wissensarbeiter" mit guter Ausbildung durchaus lukrativ. Doch können auch gering qualifizierte Arbeitslose auf selbstständiger Basis ihre Existenz sichern? "Zwei Extreme" erkennt der Münchner Sozialwissenschaftler Hans Pongratz, der gemeinsam mit Günter Voß den Begriff "Arbeitskraftunternehmer" in die sozialwissenschaftliche Fachdebatte einführte: Den "erfolgreichen Selbstständigen" mit ausreichend Kapital im Sinne von Bildung, Besitz und sozialen Netzwerken stehen "moderne Tagelöhner" gegenüber, "Leute, die jetzt schon wenig Möglichkeiten haben und für die es in Zukunft noch schwieriger werden wird". Das Mikro-Unternehmertum stellt hohe Anforderungen an die Persönlichkeit: Es verlangt Initiative und Durchsetzungsvermögen. Die neuen Gründer sind selbst dafür verantwortlich, genügend Arbeit zu haben, sie brauchen Aufträge und Kunden. Aus einem "eher passiv auf dem Arbeitsmarkt agierenden Arbeitskraftbesitzer", analysieren Pongratz und Voß, müsse "ein strategisch handelnder Akteur werden". Es werde notwendig, "das Arbeitsvermögen kontinuierlich mit aufwändigem Selbstmarketing anzubieten und zu verkaufen". Längst nicht alle Existenzgründer zeichnet diese Qualifikation aus.

Für den Kioskbetreiber oder die Blumenhändlerin, die derzeit als Beispiele für die erfolgreiche Gründung einer "Ich-AG" durch die Medien wandern, bleibt der Schritt in die Selbstständigkeit ein großes Wagnis. Notorische Unterkapitalisierung und hohe Zinsen selbst für Gründungsdarlehen sind die Regel. Das Problem liege aber nicht nur in der Finanzierung oder gar in einer zu hohen Besteuerung, glaubt Manfred Buss, der in Berlin Kleingewerbetreibende berät. "Viele zahlen gar keine Steuern, so wenig, wie die verdienen." Den meisten, so seine Erfahrung, fehle es schlicht "am Geld für den Lebensunterhalt". Ältere Arbeitslose schrecke zudem ab, dass sie ihre Rentenbeiträge selbst zahlen sollen. "Die bleiben lieber arbeitslos, weil dann die Beiträge vom Amt bezahlt werden."

Mitversichert über den Ehepartner

Die Fluktuation unter den Existenzgründern ist äußerst hoch, wie Untersuchungsergebnisse aus dem Sozioökonomischen Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) belegen. Von 1990 bis 1996 begannen über zwei Millionen Menschen mit einer selbstständigen Tätigkeit, im gleichen Zeitraum aber gaben 1,6 Millionen diese wieder auf. Die "starke Dynamik an Zu- und Abgängen" ist für den Mannheimer Soziologen Leicht ein Indiz für enorme Risiken: "Häufig fehlen schlicht die materiellen wie die sozialen Ressourcen." Die Geschäftsidee muss relativ schnell deutliche Gewinne abwerfen, sonst laufen die Soloselbstständigen Gefahr, womöglich hoch verschuldet erneut arbeitslos zu werden. Die Hilfen der Arbeitsämter sind bestenfalls eine Anschubfinanzierung: Zwei Drittel der Zuschüsse zur "Ich- AG" brauchen die Betroffenen schon im ersten Förderungsjahr für ihre soziale Sicherung; in den beiden folgenden Jahren übersteigen allein die Beiträge für die Renten- und Krankenversicherung bereits die öffentliche Unterstützung. Die Einzahlung in die Rentenkasse ist für die Ich-Unternehmer obligatorisch, die Krankenversicherung hingegen wird als "freiwillig" eingestuft. Offenbar gehen die Initiatoren davon aus, dass viele "Ich-AGs" ohnehin nur geringfügige Einkünfte unterhalb der Pflichtversicherungsgrenze erwirtschaften und sich auf die sozialen Sicherungssysteme ihrer Ehepartner stützen können.

60 Prozent aller selbstständigen Frauen sind Ein-Personen-Unternehmerinnen; bei den Männern liegt der Anteil mit unter 50 Prozent deutlich niedriger. Diese Zahl macht verständlicher, warum die Förderung der Soloselbstständigkeit stets mit den "Minijobs" in Verbindung gebracht wird: Die Neuregelung dient offensichtlich auch dazu, die weibliche "Erwerbsneigung" zu kanalisieren. Finanzielle Anreize lenken Frauen in geringfügige Beschäftigung und befrieden so den latenten Geschlechterkonflikt am Arbeitsmarkt - ein volkswirtschaftlich kostengünstiges Verfahren, das sich in parasitärer Weise auf die als "Familienförderung" kaschierte Möglichkeit der Mitversicherung von Angehörigen verlässt. Ist die Forcierung der "Ich-AGs" nur ein weiterer Mosaikstein einer prekär strukturierten Erwerbswelt? Für eine endgültige Beurteilung des neuen Instrumentes ist es noch viel zu früh. Förderanträge gehen seit Anfang des Jahres nur schleppend ein. Positiv an dem Konzept ist, dass der Übergang zur Selbstständigkeit flexibler gestaltet wurde. Zuvor Erwerbslose können ihre Situation in Eigeninitiative verändern und "nebenherverdienen", ohne dass ihnen diese Einkünfte kleinlich auf ihre Unterstützung angerechnet werden. Die Arbeitsämter sanktionieren nicht nur, sondern helfen bei der Suche nach einem Ausweg, sie federn ein persönliches Wagnis finanziell ab. Als ein wesentliches Kennzeichen des Arbeitskraftunternehmers betrachten Günter Voß und Hans Pongratz die "Fähigkeit und Bereitschaft, sich auf variierenden Einkommens- und Sozialniveaus einzurichten". Doch nur kleine Minderheiten haben das Zeug zum Lebenskünstler oder Erfolgsunternehmer ihrer selbst. Viele der "modernen Tagelöhner", die sich zu unsicheren Konditionen auf dem Markt anbieten müssen, tauchen irgendwann wieder in den Arbeitsoder Sozialämtern auf.

Förderung von "Ich-AGs"

Die "Ich-AG" will Arbeitslosen den Weg in die Selbstständigkeit erleichtern - vor allem im Bereich kostengünstiger Dienstleistungen und handwerksähnlicher Tätigkeiten. Binnen drei Jahren sollen die Betroffenen den Übergang in ein eigenständiges Kleinstunternehmen geschafft haben. Das Unterstützungspaket besteht aus drei Teilen: direkte finanzielle Hilfen, Subventionierung der sozialen Sicherung sowie Steuererleichterungen.

Finanzielle Hilfen

Einen Anspruch auf den "Existenzgründungszuschuss" hat, wer zuvor Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder Unterhaltsgeld bezogen hat oder in einer Arbeitsbeschaffungsoder Strukturanpassungsmaßnahme beschäftigt war. Mit Ausnahme von Familienangehörigen dürfen keine weiteren Arbeitnehmer beschäftigt werden; das Arbeitseinkommen darf 25 000 Euro im Jahr nicht übersteigen. Das Arbeitsamt zahlt im ersten Jahr monatlich 600 Euro, in zweiten Jahr 360 Euro und im dritten Jahr 240 Euro. Maximal 14 400 Euro Zuschuss (steuerfrei) sind auf diese Weise möglich.

Soziale Sicherung

Ich-AGs müssen sich als Selbstständige in der Rentenversicherung pflichtversichern. Im Förderungszeitraum zahlen sie einen reduzierten Beitrag von monatlich 232 Euro (Ostdeutschland: 194 Euro). Die Mitgliedschaft in der Krankenversicherung zum subventionierten Beitragssatz von 167 Euro monatlich ist freiwillig. Beiträge zur Arbeitslosenversicherung werden nicht erhoben.

Steuererleichterungen

Kleinstbetriebe, die im Jahr 2003 maximal 17 500 Euro umsetzen, können pauschal ohne Belege 50 Prozent ihrer Einnahmen als Betriebsausgaben absetzen. Geplant ist sogar eine Verdoppelung der Umsatzhöchstgrenze auf 35 000 Euro.


Zum Weiterlesen

Dieter Bögenhold/Rene Leicht: Neue Selbständigkeit und Entrepreneurship: Moderne Vokabeln und damit verbundene Hoffnungen und Irrtümer. In: WSI-Mitteilungen 12/200, S. 779 -786.

Thomas Gesterkamp: Heiße Jobs für coole Leute - Von Arbeitsnomaden und freien Lanzenträgern In: ders.: gutesleben.de - Die neue Balance von Arbeit und Liebe, Stuttgart 2002.

Karin Gottschall/Christiane Schnell: Alleindienstleister in Kulturberufen - Zwischen neuer Selbstständigkeit und alten Abhängigkeiten. In: WSIMitteilungen 12/2000, S. 804 -810.

Carroll Haak/Günther Schmid: Arbeitsmärkte für Künstler und Publizisten: Modelle der künftigen Arbeitswelt? In: Leviathan 2/2001, S. 156 -178.

Rainer Hank: Arbeit - Die Religion des 20. Jahrhunderts. Auf dem Weg in die Gesellschaft der Selbständigen. Frankfurt 1995.

Udo Mayer/Ulrich Paasch: Ein Schein von Selbständigkeit. Ein-Personen- Unternehmen als neue Form der Abhängigkeit. Köln 1990.

Günter Voß/Hans Pongratz: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1/1998, S. 131-158.

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