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SW-Kopfportraits von Stefan Schöncke, Chefvolkswirt der arbeitgeberfinanzierten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) und DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel (rechts) Magazin Mitbestimmung

Pro & Contra: Brauchen wir eine Karenzzeit bei der Pflegeversicherung?

Ausgabe 05/2025

Die Pflegeversicherung muss reformiert werden, meint Stefan Schöncke, Chefvolkswirt der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Eine Karenzzeit könnte dazu beitragen. Nein, hält Anja Piel vom DGB-Vorstand dagegen. Eine Karenzzeit sei nicht nur unsozial, sondern auch menschenverachtend, weil sie Pflegebedürftige und deren Angehörige im Stich lässt.

Ja.

Jeder wünscht jedem im Ernstfall gute und bezahlbare Pflege. Doch um genau das nachhaltig zu ermöglichen, muss unsere Pflegeversicherung wie jeder andere Sozialversicherungszweig reformiert werden. Dazu kann eine Karenzzeit gehören, also eine Wartezeit nach Eintritt der Pflegebedürftigkeit, in der die Pflegeversicherung keine Leistungen zahlt.

Der Renteneintritt der Babyboomer und die Leistungsausweitungen der letzten 15 Jahre setzen das System massiv unter Stress. Die Folge: Der Pflegebeitrag lag vor drei Jahren noch bei rund 3 Prozent. Bis zum Jahr 2035 wird er bei ungünstigen Rahmenbedingungen auf 5,2 Prozent ansteigen, der Gesamtsozialbeitrag kann 53 Prozent betragen. Arbeiten und Investieren werden dadurch zunehmend unattraktiv. Um die sozialen Kosten unserer alternden Gesellschaft zu finanzieren, brauchen wir aber gerade mehr davon. Was ist dann die Lösung? Mehr private Vorsorge.

Das setzt zweierlei voraus: zum einen genügend Netto vom Brutto und insofern eher sinkende als steigende Beiträge. Zum anderen Klarheit darüber, dass – anders als Politiker oftmals vorgeben – die Pflegeversicherung auch in Zukunft keine Vollversicherung sein wird. Wer sorgt sonst freiwillig vor? Die Einführung von Karenzzeiten würde auf beides einzahlen. Übergangsregeln und eine Staffelung der Karenzzeit nach Pflegegrad könnten die Einführung sozial abfedern.

STEFAN SCHÖNCKE ist Chefvolkswirt der arbeitgeberfinanzierten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM).


Nein.

Mit der sogenannten Pflegekarenzzeit hat die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) einen menschenverachtenden Tiefpunkt im Umgang mit unserer alternden Gesellschaft erreicht. Das Wort „Pflegekarenzzeit“ könnte das Unwort des Jahres 2025 werden, meint es doch nichts anderes, als Tausenden von Menschen im ersten Jahr ihrer Pflegebedürftigkeit Hilfe zu verweigern und sie und ihre Angehörigen einfach im Stich zu lassen.

Was ist dabei das Kalkül der Arbeitgeber? Einsparungen durch den frühzeitigen Tod von Betroffenen? Von rund 200 000 Menschen im letzten Lebensabschnitt sind gut ein Fünftel zwischen einem und zwölf Monate lang pflegebedürftig. Mit der Pflegekarenzzeit der BDA würden sie alle keine Leistungen der sozialen Pflegeversicherung erhalten, obwohl sie jahrzehntelang Beiträge gezahlt haben. Nicht auszuschließen ist, dass die verweigerten Leistungen ihr Leben sogar verkürzen. Eine so zynisch kalkulierte Leistungskürzung muss die Pflegekommission der Bundesregierung mit aller Härte zurückweisen. Sie wäre ein schlechter Dank an all die Menschen, die mit ihrem lebenslangen Einsatz das Land nach dem Krieg für uns wieder aufgebaut haben.

Wer die Finanzierung der Pflege in Zukunft sichern will, sorgt besser dafür, dass alle Erwerbstätigen einzahlen, auch Spitzenverdiener, Selbstständige und neue Beamte.

ANJA PIEL ist DGB-Vorstandsmitglied.


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